Hamburg. Unnatürliche Tode, ein Arbeitsunfall, Entführungen – Charles Watkins betreut Seeleute in krisenhaften Situationen. Einige Einblicke.
Manchmal, da dauert sein Dienstweg mehrere Stunden. Flug-stunden. Denn Charles Watkins kann seine Patienten nicht zu sich bestellen. In der Regel schippern sie nämlich auf den Weltmeeren dahin, liegen mit ihren Containerschiffen vor den Küsten ferner Länder oder arbeiten auf Ölbohrplattformen. Watkins ist Psychologe und betreut Seeleute. Fliegt nach Zypern, in die USA, nach Italien oder Griechenland.
Wenn er an Bord geht, dann ist meist etwas Schlimmes zuvor passiert: ein Suizid an Bord, ein unnatürlicher Todesfall, ein Arbeitsunfall oder auch Piratenangriffe, Entführungen. „Ich biete psychologische Hilfe und versuche, die Männer in ihrer Not abzuholen“, sagt Watkins. Die letzten Jahrzehnte war da einfach niemand, die Männer auf sich allein gestellt. Unfassbar für Watkins. Vor dreieinhalb Jahren gründetet er deshalb in Othmarschen sein Start-up Mental Health Support Solutions (MHSS).
Hamburger Start-up hat mittlerweile viele Kunden
Durch einen Zufall hatte er davon erfahren, dass „der älteste Beruf der Welt keinerlei professionelle Betreuung für solche Ausnahmesituationen habe“, die Arbeiter der maritimen Industrie fernab ihrer Heimat mit ihrem Schmerz, ihrer Panik und ihren Ängsten komplett alleingelassen würden. „Das hat mich schockiert. Es ist wirklich ein blinder Fleck, und ich drücke da auf eine Wunde im System“, sagt Watkins, der in Osnabrück geboren wurde, dann in Princeton studierte und auf Deutsch und Englisch arbeitet.
Mittlerweile hätten die Schifffahrtsfirmen jedoch den Wert der „Psychohygiene“ bei ihren Mitarbeitern erkannt, neben den Hamburger Vorreitern, der Columbia Reederei (CSM) und der Peter Döhle Schiffahrts-KG, seien nun viele weitere seine Kunden, so der 37-Jährige. „Mit mehr als 20 Mitarbeitern weltweit und einer 24-Stunden-Hotline sind wir mit Minitherapiesitzungen via Teams oder WhatsApp, am Telefon oder eben durch persönliche Besuche auf den Containerschiffen für die Besatzung da“, sagt Charles Watkins.
Während Corona war die Lage besonders schlimm
Gerade in den Zeiten von Corona, als keine Schiffe in die Häfen einlaufen durften, die Seeleute teilweise monatelang auf See ausharren mussten, habe er viel zu tun gehabt: junge Kadetten, die keinen Schlaf finden, Männer, die aus Sorge um das Wohl ihrer Familie stark leiden. Um jedoch mental an die Seefahrer heranzukommen, ist es nötig, körperlich nah bei ihnen zu sein, weiß Watkins, und auch einmal länger auf dem Schiff zu leben, ebenso in einer engen Kabine zu schlafen und in der „mess“ gemeinsam zu essen.
Auch sei es wichtig herauszufühlen, wie die Hierarchie zwischen Kapitän, Offizieren und den niedrigeren Rängen beschaffen ist. Wie geht man mit den Lautsprecherdurchsagen um, die 24 Stunden jeden Raum durchdringen? Kann man den Flurfunk an Bord ausblenden? „So habe ich verstanden, warum viele Schlafprobleme haben“, sagt der 37 Jahre alte Psychologe, der mehrere Wochen mit unter anderem Filipinos gelebt hat. „Ich weiß jetzt, was es bedeutet, wenn jemand seine Kabinentür schließt.“ Kein gutes Zeichen, gilt die offene Tür doch als Einladung zum Austausch. Möglicherweise also ein Symptom.
Viele Seefahrer suchen sich keine Hilfe
Erst vor Ort wurde Charles Watkins zudem bewusst, wie hoch die Bedeutung des Essens und das Auftischen landestypischer Gerichte ist – und dass es eines guten Kochs an Bord bedarf. Die Angst der Seefahrer, die mit ihrem Gehalt oft ganze Dörfer und natürlich ihre Familien in den Heimatländern finanzieren, ist die, als „unfit for sailing“, also arbeitsunfähig, diagnostiziert zu werden.
Deshalb wurde bislang kaum Hilfe gesucht, viele lebten mit ihren Depressionen, Panikattacken, Angstzuständen allein, machten alles mit sich selbst aus. „Dabei ist es so wichtig. Das sind zwar einerseits harte Jungs, aber das sind auch Menschen, und sie haben Gefühle.“
"Jemand muss den leblosen Körper wegbringen“
Und ohnehin kann eine posttraumatische Belastungsstörung auch einige der 180 Arbeiter treffen, etwa, wenn sie „miterleben mussten, wie auf ihrer Ölbohrplattform im Golf von Mexiko ein Kollege und Freund vor ihren Augen gestorben ist“, berichtet Wakins. „Man darf nicht vergessen, da ist jemand, der findet den toten Freund. Jemand muss den leblosen Körper wegbringen“, so Watkins. „Oder bei Piratenangriffen, da wurden früher vielleicht mal die Entführten psychologisch betreut. Aber wie sieht es in denen aus, die voller Schuldgefühle und Angst auf dem Schiff bleiben mussten?“
Die Mannschaft, sie leide auch bei den privaten Schicksalsschlägen Einzelner mit. „Einmal war ich auf einem Schiff, als die Nachricht kam, dass die zweijährige Tochter eines Seemanns im Schlaf erstickt sei. Alle waren komplett schockiert, doch niemand war es gewohnt, Gefühle zuzulassen“, erzählt Watkins. Auf seinen Rat hin habe der Kapitän sich weich gezeigt, „Er hat ehrlich gesagt, dass er sehr berührt sei und betroffen. Das hat seiner gesamten Mannschaft geholfen, und später hat sie gesagt, dass sie ihn noch nie stärker als in dieser Situation erlebt hätten.“
Hamburger Start-up: Ukrainische Seefahrer nun im Fokus
Sich emotional zu verbinden sei bedeutend. „Man darf nie vergessen, dass diese Männer zusammenarbeiten sowie zusammenleben. Das ist eine andere Art von Gemeinschaft, deshalb ist das Arbeitsklima so wichtig.“
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Gerade wird einiges getan, um ukrainischen Seefahrern Ängste um das Wohl ihrer Familien zu nehmen, „CSM und MHSS haben in Polen und Rumänien sichere Häuser für Frauen und Kinder gemietet, hier werden sie beschützt und psychologisch betreut“, sagt Watkins. So könnten die Seefahrer beruhigter und damit konzentrierter und erfolgreicher arbeiten – auch wenn ruhige Gewässer etwas ganz anderes sind.