Hamburg. Neue Studie zeigt auf interaktiver Karte, wie sich der Klimawandel auf Norddeutschlands Küsten auswirkt – mit und ohne Küstenschutz.
Weltweit leben Menschen nahe der Ozeane – deshalb ist der Anstieg der Meeresspiegel für viele eine Bedrohung, auch wenn Städte und Regionen rund um den Globus sehr unterschiedlich betroffen sind. Was unter bestimmten Bedingungen bis zum Jahr 2100 auf Norddeutschland zukommen könnte, veranschaulicht nun eine neue interaktive Onlinekarte, die Forschende der HafenCity Universität (HCU) erstellt haben.
Auf der Internetseite sealevelrise.hcu-hamburg.de kann man sich für die gesamte Küstenregion von der niederländischen bis zur polnischen Grenze (ohne Dänemark) und für die Elbe bis nach Hamburg anzeigen lassen, welche Flächen womöglich überschwemmt werden.
Klimawandel: Alle Deiche der deutschen Küste fließen in Modell ein
Die Geoinformatikerin Caroline Schuldt von der HCU nutzte dafür Daten, die das Integrated Climate Data Center der Uni Hamburg bereitstellt und die auf Szenarien des Weltklimarats zum Meeresspiegelanstieg beruhen. Zudem verwendete die Forscherin Daten aus einem frei verfügbaren digitalen Höhenmodell. Es war im Zuge der TanDEM-X-Mission des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt entstanden, bei der Satelliten die Erdoberfläche vermessen hatten.
Um den Einfluss des Küstenschutzes in Norddeutschland berechnen zu können, lokalisierte Schuldt alle Deiche an der deutschen Küste. Bei der interaktiven Onlinekarte sind nun zwei Einstellungen möglich: Klickt man „Küstenschutz“ an, zeigt die Simulation, zu welchen Überschwemmungen es mit den heutigen Deichen im Jahr 2100 kommen könnte. Entfernt man das Häkchen, werden die Deiche herausrechnet, was für den Fall steht, dass sie brechen würden.
Drei verschiedene Szenarien stehen zur Verfügung
Wählen kann man außerdem zwischen drei hypothetischen Fällen. Nummer eins und zwei basieren auf Szenarien des Weltklimarats (IPCC). Das erste Szenario geht von dem Fall aus, dass die Temperatur bis 2100 im Mittel um 1,8 Grad ansteigt. Der Anstieg des Meeresspiegels, bedingt unter anderem durch schmelzende Gletscher und Eisschilde, könnte dann 0,5 bis 0,8 Meter betragen, so Caroline Schuldt.
Infolgedessen könnte laut Onlinekarte in Norddeutschland mit Küstenschutz eine Fläche von rund 1000 Quadratkilometer überflutet werden; betroffen davon wären knapp 5500 Menschen. Völlig anders sähe es den Berechnungen zufolge ohne Küstenschutz aus: Dann wären etwa 530.000 Menschen betroffen von Überflutungen, die sich über eine Fläche von rund 8700 Quadratkilometer erstreckten.
Staaten wollen Temperaturanstieg begrenzen
Fast alle Staaten hatten 2015 in Paris ein Klimaabkommen unterzeichnet, wonach sie den weltweiten Temperaturanstieg auf 1,5 Grad auf begrenzen wollen. Bliebe es beim aktuellen Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2), würden die Ziele des Abkommens klar verfehlt werden, sagen Klimaforscher. Gelinge es, den CO2-Ausstoß komplett zu vermeiden oder einen emittierten Rest der Atmosphäre zu entziehen, gebe es eine Chance, unter zwei Grad Erwärmung zu bleiben.
HCU-Forscherin Caroline Schuldt hat für die neue Onlinekarte ein zweites IPCC-Szenario berücksichtigt, bei dem die Temperatur um 3,7 Grad steigt. Mit Küstenschutz würde dann eine Fläche von rund 1160 Quadratkilometern überflutet werden; betroffen wären rund 7600 Menschen. Ohne Küstenschutz könnte eine Fläche von 9000 Quadratkilometer überflutet werden, wovon knapp 630.000 Menschen betroffenen wären.
Große Unsicherheiten bei Prognosen zum Meeresspiegelanstieg
Das dritte Szenario sei unabhängig von den Prognosen des IPCC, beruhe auf verschiedenen jüngeren Erkenntnissen und simuliere einen Meeresspiegelanstieg um 1,40 Meter, sagt Forscherin Caroline Schuldt. In diesem Fall könnte eine Fläche von rund 1430 Quadratkilometer überflutet werden, betroffen wären knapp 18.500 Menschen. Bei nicht standhaltenden Deichen wären betroffen: rund 750.000 Menschen. Überflutete Fläche: rund 10.100 Quadratkilometer. Nach Ansicht von Caroline Schuldt und ihrem HCU-Kollegen Güren Tan Dinga, der die Internetseite „baute“, zeigen alle drei Szenarien vor allem, wie enorm wichtig der Küstenschutz und dessen Ausbau sind.
„Die interaktive Karte ist sehr anschaulich und detaillierter auf Norddeutschland zugeschnitten als andere Darstellungen dieser Art“, sagt der Hamburger Klimaforscher Prof. Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie, Mitautor des IPCC-Berichts. Die verschiedenen Szenarien verdeutlichten zugleich, dass es eine große Unsicherheit bei den Prognosen zum Anstieg des Meeresspiegels gebe.
Klimawandel: Wie stark steigt der Meeresspiegel?
Auf diese Schwierigkeit verweist auch Prof. Mojib Latif, Klimaforscher am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel und Präsident der Hamburger Akademie der Wissenschaften. „Zum Anstieg des Meeresspiegels gibt es eine enorme Bandbreite an Prognosen“, sagt er. „Es hängt von diversen Faktoren ab, insbesondere von unserem Verhalten und künftigen Ausstoß an Treibhausgasen, wie sich die globale Erwärmung und damit auch der Anstieg des Meeresspiegels entwickeln“, sagt Latif.
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Davon abgesehen seien bestimmte klimarelevante Prozesse noch kaum verstanden, zum Beispiel welche Bedeutung das ins Meer ragende Schelfeis etwa in der Antarktis und in Grönland für einen Anstieg des Meeresspiegels habe. Wenn im Zuge der globalen Erwärmung die Ozeane noch wärmer werden, könnte das Schelfeis im Wasser abschmelzen, zu einer Instabilität der Landeismassen führen und so den Anstieg des Meeresspiegels beschleunigen – in welchem Maße das geschehen könnte, sei aber unklar. „Die bisherigen IPCC-Modelle berücksichtigen diese Unsicherheit kaum“, sagt Latif. Auch vor diesem Hintergrund sollte man die neue „Sea Level“-Karte betrachten.