Hamburg. Die Gründerin der Bioteemarke Samova war nicht immer Unternehmerin. Die ehemalige Journalistin mischt heute auch beim FC St. Pauli mit.

Esin Rager war lange Journalistin und Medienmacherin, unter anderem beim Hamburger Abendblatt. Dann veränderte sich ihr Leben, und sie änderte ihren Job, gründete die Bioteemarke Samova, wurde zu einer Vordenkerin in Sachen Nachhaltigkeit und zur Vizepräsidenti­n des FC St. Pauli. In unserer Reihe „Entscheider treffen Haider“ spricht Rager über lange Spaziergänge mit ihren Hunden, ihren Verzicht auf Flugreisen und modernes Arbeiten. Zu hören unter www.abendblatt.de/entscheider

Das sagt Esin Rager über ...

… ihren Weggang vom Hamburger Abendblatt:

„Ich hatte die große Ehre, mit 26 Jahren Ressortleiterin beim Hamburger Abendblatt werden zu dürfen, und habe dort das Magazin LIVE aufgebaut. Das war eine tolle Zeit, aber da ich nicht nur sehr jung war, sondern auch ein sehr neugieriger Mensch bin, hat es mich mit Anfang 30 gereizt, etwas Neues zu machen. Damals kam das Angebot aus der ‚Bravo‘-Gruppe, eine neue Jugendmarke von Amsterdam aus zu entwickeln, das musste ich annehmen.“

… eine Kindheit zwischen den Welten:

„Ich bin ja ein Kind der großen, weiten Welt, mein Vater war Diplomat im Dienst der Türkei, wir sind als Familie immer unterwegs gewesen. Ich bin in Washington geboren, habe unter anderem in Paris und Moskau und in Hamburg gelebt, in den Städten hat mein Vater gearbeitet. Ich habe einen deutschen und einen türkischen Pass, sehe mich aber eh als Erdenbürgerin. Für mich gibt es keine Grenzen, insofern sind mir Pässe auch nicht so wichtig.“

Entscheider treffen Haider: Rager verzichtet auf Flugreisen

… ihren Verzicht auf Flugreisen:

„Ich habe seit 20 Jahren keine Flugreise mehr gemacht. Wenn man so viel gereist und geflogen ist wie ich in meinem Leben, dann ist die Sehnsucht, unterwegs zu sein, nicht mehr so groß. Ich habe mich eher danach gesehnt, einmal irgendwo zu bleiben und dort zur Ruhe zu kommen. Außerdem bin ich schon recht früh auf Nachhaltigkeitspfaden unterwegs gewesen und habe mir deshalb vorgenommen, nur zu fliegen, wenn ich es wirklich muss, wenn es nicht anders geht. Und meine Erfahrung ist, dass es ganz schön oft anders geht, bei mir seit 20 Jahren.

Ich als jemand, der im übertragenen Sinne immer auf Speed war, gerade beruflich, habe dadurch die Langsamkeit des Lebens entdeckt, die sehr schön ist. Mein Traum ist es, die Strecke abzureisen, die die Zutaten meiner Tees zurücklegen, mit dem Schiff oder mit der Bahn, das ist ein Genuss. Ich finde sowieso, dass wir uns Zeit nehmen sollten, wenn wir andere Kulturen und Menschen kennenlernen wollen. In der Firma achte ich deshalb darauf, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu kurze Urlaube machen. Ich finde es auch toll, wenn jemand sagt, dass er mal zwei Monate nach Sri Lanka fahren will, um sich dort die Teeplantagen anzu­sehen.“

… die Gründung von Samova:

„Ich habe während meiner ersten Schwangerschaft viel Kräutertee getrunken, weil man in der Zeit nicht so viel Süßes und Anregendes zu sich nehmen soll. Die, die fertig zu kaufen waren, waren mir irgendwann zu langweilig und nicht poppig genug verpackt. Dann habe ich mir einfach meine Tees selbst gebaut, so fing das an. Die haben wir dann auch bei den Tanztees ausgeschenkt, die ich als Unternehmerin im Hotel Atlantic Anfang 2000 organisiert hatte, um mich mal mit anderen Unternehmerinnen familien- und kindgerecht treffen zu können. Ich hatte mit 60 Leuten gerechnet, es kamen 500, und hinterher stand mein Telefon nicht mehr still; alle haben gefragt: Esin, wo können wir den Tee kaufen, den es bei dir zu trinken gab? So fing das alles an.“

… modernes Arbeiten:

„Bei Samova haben wir lange vor Corona angefangen, komplett mobil zu arbeiten, jeder, wo er will. Früher hatten wir große Büros in der HafenCity, heute haben wir nur noch einen kleinen Treffpunkt in Billstedt, wir sind Untermieter bei der Stiftung Kulturpalast. In der HafenCity hatten wir 1500 Quadratmeter angemietet, in der Spitze hatte ich 80 Angestellte. Irgendwann musste ich mich entscheiden: Soll Samova eine andere große Tee-Company werden, mit Hallen und der kompletten Infrastruktur? Oder besinne ich mich wieder auf das, was ich besonders gut kann, Produktentwicklung, Marketing, Kreativität?

Irgendwann habe ich einen Schnitt gemacht, mit Seeberger einen Partner ins Unternehmen geholt und bin mit dem Büro in die Nähe meines Wohnorts in Billstedt gezogen. Dort haben wir drei Schreibtische, meine Assistentin und ich arbeiten dort, meine Hunde sind immer mit dabei.

Samova nutzt Vorteile von Homeoffice

Über das Internet stehen wir mit allen anderen in Kontakt. Es macht richtig Spaß, so frei zu arbeiten, es erweitert den Horizont meiner Mitarbeiter und den Horizont unserer Marke. Ich hatte gestern eine Konferenz, bei der eine Kollegin irgendwo an der Alster saß, eine andere schaltete sich aus der Türkei zu, die dritte war gerade auf einer Fahrradtour. Meine Erfahrung ist, dass man nur kreativ sein kann, wenn man viele Eindrücke sammelt, In­spirationen hat.

Was wir machen, hat viel mit Natur und mit Kulturen zu tun. Ich selbst gehe jeden Tag fünf Stunden durch die Natur mit meinen Hunden spazieren. Ich telefoniere dabei oder ich arbeite im Kopf. Das sind die Momente, in denen mir die Ideen kommen, das funktioniert nicht, wenn ich mich im Büro um 11.30 Uhr vor den Rechner setze und hoffe, dass mir etwas einfällt.

… Billstedt, einen unterschätzten Teil Hamburgs:

„Billstedt ist wunderschön und ein toller Stadtteil mit tollen Menschen. Ich bin nicht traurig, dass sich nicht so viele Leute drum kloppen, hier zu wohnen, das sorgt dafür, dass die Mieten und Lebens­haltungskosten schön günstig sind. Hier herrscht ein tolles Miteinander, hier leben alle Kulturen, Hautfarben, Religionen friedlich beieinander. Und es gibt vor allen Dingen eine große Solidarität unter den Menschen hier. Das heißt, die Nachbarn unterstützen sich. Das ist in vielen anderen Stadtteilen nicht immer der Normalfall. Und es ist ein Ort, der mich inspiriert, weil einfach so viele Dinge zusammenkommen.“

… ihre neue Rolle als Vizepräsidentin des FC St. Pauli:

„Der Verein will noch mehr in Sachen Nachhaltigkeit und kultureller Vielfalt tun, und Präsident Oke Göttlich hat mich gefragt, ob ich mich im Präsidium darum kümmern könnte. Ehrlich gesagt, hätte ich nie gedacht, dass ich irgendwann mal Vizepräsidentin des FC St. Pauli sein würde. Ich würde so etwas für keinen anderen Fußballverein machen. Es ist großartig, nachhaltige Projekte im Fußball anstoßen zu können, weil man so viele Menschen damit erreichen kann.

Ich hatte zum Beispiel vor Kurzem ein tolles Meeting mit drei Biometzgereien aus Hamburg und den Catering-Verantwortlichen des FC St. Pauli. Wir haben besprochen, was wir tun können, um mittelfristig einfach die Fleischqualität im Millerntor nachhaltig zu machen und wirklich auf das Tierwohl zu achten. Das sind Themen, die mich interessieren. Ich unterstütze gern Leute, die nicht nur auf Profit aus sind.“

Der Fragebogen: Wer braucht heute noch einen Schreibtisch?

Was wollten Sie als Kind werden und warum?

Bis zu meinem 14 Lebensjahr wollte ich Tierärztin werden und einen eigenen Naturpark im Wald einrichten. Ich komme aus einer sehr tierlieben Familie, wir haben neben der Versorgung unserer Haustiere auch verlassene Schwalbenbabys und Wildenten aufgepäppelt und wieder in die Natur eingegliedert. Als ich dann mit 14 Jahren einen Artikel darüber las, dass mehr als 70 Prozent der Tierärzte in Schlachthöfen anheuern müssen, war dieser Berufswunsch passé.

Was war der beste Rat Ihrer Eltern?

Ihre weltoffene Lebensweise, ihre ausgeprägte Gastfreundschaft und Unabhängigkeit von Statussymbolen und Äußerlichkeiten. Dies alles leben sie mir bis heute vor.

Wer war beziehungsweise ist Ihr Vorbild?

Die Verhaltensforscherin und Umweltschützerin Jane Goodall kombiniert mit den Skills der virtuellen Heldin Lara Croft.

Was haben Ihre Lehrer/Professoren über Sie gesagt?

Durch die vielen Umzüge und Schulwechsel ist mir vor allem eines in Erinnerung geblieben: „Esin, … was ist das denn für ein ungewöhnlicher Name? Türkisch, echt? So siehst du gar nicht aus.“

Wann und warum haben Sie sich für den Beruf entschieden, den Sie heute machen?

Als ich 2005 unseren zweiten Sohn Sinan auf die Welt brachte, hatte ich zwei Kinder und zwei Firmen mit mehr als 20 Angestellten. Meine Kräfte waren am Ende. Ich entschied mich dafür, unsere Bioteemarke Samova weiterzuentwickeln und die Medien- und Marketingagentur 5special aufzugeben.

Ich wollte meine Energie in meine Leidenschaft und etwas Eigenes investieren und weniger als Dienstleisterin von den Strategien meiner Agenturkunden abhängig sein. Das war eine Entscheidung, die direkt aus meinem Herzen kam. Trotz großer finanzieller Risiken, die dieser Weg anfangs mit sich brachte, bin ich bis heute fest davon überzeugt, dass meine Entscheidung richtig war.

Wer waren Ihre wichtigsten Förderer?

Ich hatte Glück, dass ich sehr früh viel lernen durfte: von meinen Eltern, von meinem Deutschlehrer im Sachsenwaldgymnasium, von meinen Chefs, Kolleginnen und Kollegen beim Hamburger Abendblatt, von den erfahrenen Kaufleuten Engelbert­ Büning und später Michael Wittrock­, die mir als Geisteswissenschaftlerin und Journalistin das Kaufmännische näherbrachten.

Auf wen hören Sie?

Auf meinen Mann Stefan. Er ist mein wichtigster Kritiker und hat eine unglaubliche Menschenkenntnis.

Was sind Eigenschaften, die Sie an Ihren Chefs bewundert haben?

Dass sie in schwierigen Situationen ruhig und besonnen bleiben konnten.

Was sollte man als Chefin auf keinen Fall tun?

Auf intrigante Mitarbeiter hereinfallen, die schlechte Stimmung im Team machen.

Was sind die Prinzipien Ihres Führungsstils?

Ich fordere Eigenverantwortung und Selbstständigkeit. Wer lieber seine Ruhe hat und nur Befehle ausführt, ist bei mir nicht richtig. Außerdem: Fehler sind erlaubt, wenn du aus ihnen lernst. Feedback ist ein Geschenk.

Wie wichtig war/ist Ihnen Geld?

„Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fisch gefangen, der letzte Fluss vergiftet ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“ Dies wusste schon der Häuptling Seattle im Jahr 1854. Ich versuche mich privat an einer neuen Lebenshaltung: Nach „Beyond Meat“ muss jetzt „Beyond Money“ kommen. Denn überall, wo Geld zum Selbstzweck wird, folgen Gier, Streit und Zerstörung.

Was erwarten Sie von Ihren Mitarbeitern?

Große Selbstständigkeit beim Arbeiten, Loyalität, Ehrlichkeit und gute Laune.

Worauf achten Sie bei Bewerbungen?

Ich achte so gut wie nie auf Abschlüsse oder Schulnoten. Mich interessieren Arbeits- und Lebenserfahrung, Reisen, Sprachkenntnisse, Weltoffenheit.

Duzen oder siezen Sie?

Ich duze fast immer, respektiere aber Situationen, in denen das Sie gewünscht wird.

Was sind Ihre größten Stärken?

Kreativität, Optimismus, Neugierde, Spaß an Verantwortung.

Was sind Ihre größten Schwächen?

Ungeduld, Ungeduld und Ungeduld.

Welchen anderen Entscheider würden Sie gern näher kennenlernen?

Elon Musk.

Was würden Sie ihn fragen?

Hey Elon, kannst du bitte noch ein bisschen Knete lockermachen, um das Bildungssystem zu modernisieren und allen Kindern einen Platz in einer guten Schule zu ermöglichen? Und könntest du bitte auch den brasilianischen Regenwald aufkaufen und unter Naturschutz stellen?

Wann haben Sie zuletzt einen Fehler gemacht?

Ich habe mir viel zu spät zugetraut, nicht nur kreative, sondern auch kaufmännische Entscheidungen selbst zu treffen. Das hat mich viel Zeit und Geld gekostet.

Welche Entscheidung hat Ihnen auf Ihrem Karriereweg geholfen?

Mich laufend für das zu entscheiden, was mich inspiriert und mir größtmögliche Freiheit bietet – nur so kann ich Bestleitungen bringen.

Wie viele Stunden arbeiten Sie in der Woche?

Wenn ich mein Ehrenamt beim FC St. Pauli mitzähle, sind es locker 60 Stunden. Als Unternehmerin mit Schwerpunkt auf kreativem Arbeiten kann ich Arbeit und Freizeit sowieso nicht gut trennen, da ich die besten Einfälle oft dann habe, wenn ich entspannt privat unterwegs bin… Zack, bin ich wieder am Arbeiten!

Wie gehen Sie mit Stress um?

Ich baue Stress täglich ab: Ich bereite mir jeden Morgen einen Tee zu, mache erst 15 Minuten Yoga und gehe dann zwei Stunden mit meinen beiden Königspudeln in die Natur. Anschließend frühstücke ich und beginne meinen Arbeitstag. Die Hunde begleiten mich über den Tag, auch bei der Arbeit, als meine Personal Trainer und sagen Bescheid, wann es wieder Zeit wird, eine grüne Pause einzulegen. Am Ende des Tages war ich vier bis fünf Stunden draußen.

Wie kommunizieren Sie?

Seit Corona telefoniere ich fast den ganzen Tag, mit und ohne Video. Oder schreibe auf Signal und per SMS. In letzter Zeit nehme ich wieder mehr Präsenztermine in meinem Büro wahr, besonders wenn es darum geht, sich mal persönlich kennenzulernen oder gemeinsam länger an Aufgaben zu arbeiten.

Wieviel Zeit verbringen Sie an ihrem Schreibtisch?

Ich habe keinen richtigen Schreibtisch, ich arbeite komplett mobil und wechsele gerne meinen Arbeitsplatz. So habe ich bessere Ideen. Mein Arbeitszimmer im samova Headquarter, das sich über dem Restaurant Palastküche im Kultur Palast Hamburg befindet, sieht eher nach einem Wohnzimmer aus. Den Tisch darin hat mir meine alte Nachbarin geschenkt, als sie ins Altersheim ging. Es ist ein wunderschöner, handgearbeiteter, runder Nussbaum-Esstisch, der sich ausziehen lässt, wenn Geschäftsfreunde kommen.

Wenn Sie anderen Menschen nur einen Rat für ihren beruflichen Werdegang geben dürften, welcher wäre das?

Tue nur das, was dich begeistert.

Was unterscheidet den Menschen von der Managerin Esin Rager?

Nichts, denke ich.

Und zum Schluss: Was wollten Sie immer schon mal sagen?

Liebe Hamburgerinnen und Hamburger, ist euch schon mal aufgefallen, dass unsere schöne Stadt immer noch von viel zu vielen Autos befahren und zugeparkt wird? Wann wollen wir das mal ändern?