Hamburg. Prof. Dr. Michael Brzoska ist ein renommierter Konfliktforscher. Im Interview spricht er über Kompromiss Aussichten in der Ukraine.

Der renommierte Friedens- und Konfliktforscher Prof. Dr. Michael Brzosk­a spricht über die Kriegsziele von Russlands Präsident Wladimir Putin, die Durchschlagskraft der Sanktionen und die Dauer des Krieges. Er war lange wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg und ist weiterhin als Senior Fellow tätig.

Prof. Dr. Michael Brzoska ist Friedensforscher an der Universität Hamburg und Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) KlimaCampus.
Prof. Dr. Michael Brzoska ist Friedensforscher an der Universität Hamburg und Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) KlimaCampus. © KlimaCampus

Ukraine Krise: Friedenforscher über Putins Kriegsziele

Hamburger Abendblatt: Welches Kriegsziel verfolgt Wladimir Putin derzeit in der Ukraine?

Prof. Dr. Michael Brzosk­a: Es geht dem russischen Präsidenten vor allem um die vollständige Eroberung des Donbass im Osten der Ukraine sowie die Landbrücke zur Krim. Es sieht derzeit so aus, als könne er diese Ziele erreichen.

Und wird er dann in Verhandlungen eintreten, wenn das geschafft ist?

Brzosk­a: Das wird er vermutlich anstreben, aber ich denke nicht, dass dies für die ukrainische Seite wie auch ihre westlichen Unterstützer akzeptabel wäre. Insofern könnte es dann ein Angebot seitens der Russen geben, aber ich denke nicht, dass es tatsächlich zu Verhandlungen kommt.

Friendensforscher fürchtete längeren Krieg

Zeichnet sich irgendeine Form von Kompromiss ab?

Brzosk­a: Nein, derzeit nicht, die Situation ist verfahren. Wir müssen davon ausgehen, dass der Krieg länger dauert. Es ist möglich, dass die Kampfhandlungen de facto weniger werden – auch ohne formale Verhandlungen über einen Waffenstillstand, einfach dann, wenn beide Seiten nicht mehr versuchen, die Frontlinie zu verändern. Die Ukraine müsste in einer teilweisen Feuerpause versuchen, sich durch Nachschub und weitere Waffenlieferungen auf den nächsten Waffengang vorzubereiten.

Im Moment gibt es Anzeichen dafür, dass es auch auf russischer Seite erhebliche Probleme gibt. Selbst wenn die Ukraine eine Ruhepause benötigt, will und kann sie nicht formale Waffenstillstandsverhandlungen auf der Grundlage des jetzigen Frontverlaufs führen. Damit hat sie beim Minsker Abkommen schlechte Erfahrungen gemacht: Wenn man einmal ein Abkommen auf der Basis eines Frontverlaufs schließt, kommt man davon nicht wieder weg.

Entscheidet der Westen mit seinen Waffenlieferungen darüber, wann der Krieg endet?

Brzosk­a: Ja, auch. Aus eigener Kraft kann die Ukra­ine es nicht schaffen, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Sie braucht die westliche Unterstützung in Form von Waffenlieferungen, nachrichtendienstlichen Informationen und Finanzhilfen. Der ukrainische Staatshaushalt wird im Wesentlichen vom Westen finanziert. Beim G-7-Gipfel in Elmau haben die Regierungschefs zugesagt, die Ukraine auf Dauer zu unterstützen.

Zumindest was dieses Jahr angeht, ist das auch realistisch. Schon deshalb hat die Ukraine kein Interesse, jetzt einem Waffenstillstand zuzustimmen, der deutliche Gebietsverluste bedeuten würde. Ein russischer Sieg ist für die Ukraine nicht akzeptabel und für die westliche Welt auch nicht.

Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg

Spielen deutsche Waffenlieferungen, über die so viel gestritten wird, dabei wirklich eine so entscheidende Rolle?

Brzosk­a: Unsere Waffenlieferungen sind wichtig, aber nicht entscheidend für die Ukraine. Die USA spielen da die wichtigste Rolle, auch die Engländer haben mehr Waffen geliefert als wir, die Polen ebenfalls. Deutschland leistet große finanzielle Unterstützung, da ist die Rolle unseres Landes größer als die anderer europä­ischer Länder. Auch haben wir viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen.

Hat Russland ausreichend Truppen zur Verfügung oder müsste es die Kampfkraft mit einer Mobilmachung verstärken?

Brzosk­a: Das ist für Russland derzeit tatsächlich ein zunehmendes Problem. Nach den Zahlen, die die ukrainische Führung veröffentlicht hat, sollen bereits mehr als 30.000 russische Soldaten in den Kriegshandlungen gefallen sein. Es stimmt: Russland könnte durch eine Mobilmachung sehr viel weitere Kräfte aufbieten. Es hat eine Reserve von mehr als 900.000 Menschen, die bereits einmal in der Armee waren und wieder aktiviert werden könnten. Ob das aber politisch durchsetzbar wäre, ist unklar. Bisher stammen viele der Soldaten aus ärmeren, abgelegenen Regionen.

Auch Männer aus den großen Städten zu rekrutieren, die mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, könnte ein Risiko für Putin sein. Aber auch die Ukraine hat noch das Potenzial für die Mobilisierung weiterer Soldaten. Bisher sind längst nicht alle Wehrpflichtigen eingezogen. So bitter das ist: Da gibt es noch das Potenzial für eine weitere Eskalation. Ein Engpass besteht auf beiden Seiten eher bei der Munition. Da operiert insbesondere die Ukraine am Rande dessen, was sie zur Verfügung hat.

Bisherige Sanktionen nur wenig erfolgreich

Welche Durchschlagskraft haben die Sanktionen und wem schaden sie bisher mehr – Russland oder dem Westen?

Brzosk­a: Leider sind die Sanktionen, die im Westen die größte Aufmerksamkeit genießen, bisher wenig erfolgreich. Trotz der Beschränkung der Ölimporte sind die Einnahmen Russlands wegen der gestiegenen Ölpreise sehr hoch, auch beim Gas sind die Einnahmerückgänge für Russland finanziell noch nicht sehr schmerzhaft gewesen – auch wenn die Auswirkungen weltweit groß sind. Mittelfristig und auch bis ins kommende Jahr hinein erwarte ich aber, dass die Folgen dieser Importverbote für Russland ganz erheblich sein werden.

Die Gaseinnahmen machen dort immerhin zwölf Prozent des Staatsetats aus. Gravierender treffen jetzt schon die Sanktionen im Hightech-Bereich die russische Wirtschaft. So fehlen elektronische Bauteile und Chips beispielsweise, die in der Rüstungs- und auch in der zivilen Industrie benötigt werden, etwa beim Autobau. Russland hat bereits jetzt Lieferkettenprobleme, nicht zuletzt, weil auch China und Taiwan weniger liefern – aus Angst vor US-Sanktionen.

Also unter dem Strich sind die Sanktionen nur mäßig wirksam?

Brzosk­a: Die Oligarchen treffen sie jedenfalls nicht so hart wie erhofft, sondern kaum. Die Sanktionen haben aber eine sehr starke symbolische Bedeutung. Der Westen ist heute stärker denn je. Er hat gerade eindrucksvoll gezeigt, wie geschlossen er ist und auch wie entschlossen, sich auch unter Inkaufnahme eigener Nachteile gegen den russischen Angriffskrieg zu stellen.

Wie lange wird der Krieg dauern?

Brzosk­a: Ich fürchte, dass es ein sehr langer Krieg werden wird. Die Situation ist so verfahren, die Kriegsziele beider Länder liegen so weit auseinander, dass ein Kompromiss schwierig erscheint. Aber die politischen und auch die ökonomischen Kosten für Russland werden so steigen, dass dies in den Entscheidungsprozess einfließen dürfte – und entweder zu einem neuen politischen Kurs der gegenwärtigen Führung unter Putin oder zu einem Wechsel der Eliten führen könnte.

Aber kann es dem Westen wie beabsichtigt gelingen, Russland so nachhaltig zu schwächen, dass weitere Überfälle auf andere Länder ausgeschlossen sind?

Brzosk­a: Das ist das Ziel und wird meines Erachtens mit den Sanktionen und der massiven Aufrüstung wahrscheinlicher, beispielsweise in Deutschland mit dem 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr, aber auch durch die Nato-Erweiterung um Schweden und Finnland. Es ist ja eine Ironie dieses Krieges, dass Putin schon jetzt durch die starke Reaktion des Westens geschwächt ist. Die russische Position gegenüber dem Westen ist bereits heute deutlich schwächer als vor dem 24. Februar, als der Angriffskrieg begann.