Hamburg. Konfliktforscher Michael Brzoska über mögliche Szenarien für den Ukrainekrieg, den Einsatz von Atombomben und die Sanktionen.
Der Friedens- und Konfliktforscher Prof. Dr. Michael Brzoska spricht über die Kriegsziele von Wladimir Putin, die Gefahr eines Nuklearschlags und die Notwendigkeit, trotz allem auf manchen Gebieten mit Russland zusammenzuarbeiten.
Hamburger Abendblatt: Hätten Sie erwartet, dass ein derartiger Angriffskrieg in Europa möglich ist?
Prof. Michael Brzoska: Die Möglichkeit bestand, aber ich habe nicht erwartet, dass es dazu kommt. Ich dachte, der russische Aufmarsch an den Grenzen zur Ukraine solle eine Drohkulisse sein. Ich hielt die Entscheidung Russlands, tatsächlich einen Angriffskrieg zu beginnen, für unwahrscheinlich, weil klar war, dass die USA und ihre Nato-Partner die Kosten dafür so in die Höhe treiben würden, dass es für Russland zu teuer werden würde. Aber das war in Moskau offensichtlich nicht entscheidend.
Was sind mögliche Szenarien, wie der Krieg weitergehen wird?
Das ist schwer abzuschätzen, weil die Forderungen, die beide Seiten auf den Tisch gelegt haben, so stark auseinandergehen, dass ein Kompromiss derzeit nur schwer möglich scheint. Erfahrungsgemäß ist es so, dass es in solchen Konflikten erst dann zu einem Ende oder einem Waffenstillstand kommt, wenn beide Seiten militärisch nicht mehr vorankommen. Also beide Seiten den Eindruck haben, es verändert sich vor Ort trotz aller Bemühungen nicht mehr viel, es wird nur noch zerstört und gestorben. Das ist in der Ukraine nicht absehbar – auch deshalb, weil nicht klar ist, was Russland eigentlich will: Geht es Moskau vor allem darum, eine Landbrücke zur Krim zu erobern und das Gebiet des Donbass zu vergrößern? Oder will man Odessa angreifen und sogar das Gebiet bis zur moldauischen Grenze erobern, sodass die Ukraine ohne Zugang zum Schwarzen Meer ist? Auch die Ukraine kann aufgrund ihrer militärischen Erfolge und der Unterstützung, die Präsident Selenskyj in der Bevölkerung genießt, nicht wirklich zu Kompromissen bereit sein.
Das Kalkül der Russen, man würde in die Ukraine einmarschieren und dort bejubelt werden, ging in keiner Weise auf. Im Gegenteil: Selbst in den Städten, in denen die Bevölkerung überwiegend russischsprachig ist und es viele verwandtschaftliche Beziehungen zu Russland gibt, ist der Widerstand stark.
Was ist aus Ihrer Sicht überhaupt das Kriegsziel Russlands, oder hat sich das gewandelt?
Die russische Begründung für den Krieg hat seit dem vergangenen November häufig stark variiert. Ursprünglich schien es darum zu gehen, dass die Ukraine nicht Nato-Mitglied wird, darauf hatte die Ukraine im Grunde aber bereits verzichtet. Dann ging es um den angeblichen Völkermord im Donbass, was eine krude Behauptung war. Schließlich sollte in der Ukraine ein angeblich faschistisches Regime gestürzt werden, das hätte das gesamte Territorium umfasst. Deshalb ist schwer einzuschätzen, was Putins wirkliches Kriegsziel war. Ich gehe davon aus, dass er geglaubt hat, dort schnelle Erfolge feiern zu können, und dann entscheiden wollte, ob man die Ukraine aufteilt oder das ganze Land unter russische Kontrolle stellt. Aufgrund der militärischen Fehlschläge dürften die Kriegsziele kleiner geworden sein. Aber es bleibt unklar, worum es Putin wirklich geht.
Sind die Verhandlungen mit ukrainischen Unterhändlern ernst gemeint, oder führt Russland die Welt an der Nase herum?
Sie sind insofern ernst gemeint, als dass Russland testet, zu welchen Zugeständnissen die ukrainische Seite bereit sein könnte. Derzeit sind die Verhandlungen noch nicht sehr erfolgversprechend, weil die Positionen weit auseinanderliegen. Sie sind aber für Russland ein Instrument, um herauszufinden, an welchen Stellen man der Ukraine Konzessionen abgewinnen kann, um dann – wenn es irgendwann keine Bewegung mehr an den Frontlinien gibt – ernsthafter verhandeln zu können.
Bedenkenswert ist aber auch, dass es im Hinblick auf Staaten der ehemaligen Sowjetunion mehrere eingefrorene Konflikte gibt, die lediglich mit – teils labilen – Waffenstillständen endeten, etwa in Georgien oder zwischen Armenien und Aserbaidschan. Dort gab es zwar keine Friedensverhandlungen, aber teils über Jahrzehnte auch keine größeren militärischen Aktionen. Auch das ist ein mögliches Szenario für die Ukraine – also ein Ende der Kampfhandlungen, aber eine über längere Zeit instabile Situation.
Wie groß muss die Sorge sein, dass es zu weiteren Eskalationen kommt? Und welcher Art könnten die sein?
Wir wissen wenig über die Entscheidungsfindung in Russland. Zwischendurch gab es die Befürchtung, dass die russische Seite den Krieg durch Flächenbombardements eskalieren könnte. Dass sie wie in Mariupol versuchen könnte, größere Städte durch Bombardements in Schutt und Asche zu legen und die ukrainische Bevölkerung zum Verlassen der Städte zu veranlassen, um so die russische Kontrolle zu erleichtern. Das ist bisher nicht im befürchteten Maße eingetreten, was auch am ukrainischen Einsatz von Flugabwehrraketen liegt.
Dann wurde befürchtet, dass Russland Chemiewaffen einsetzen könnte. Diese Sorge ist zwar nicht ganz weg, aber sie ist kleiner geworden. Denn das russische Kalkül, man könne die ukrainische Bevölkerung zum Aufgeben oder sogar Überlaufen bringen, ist nicht aufgegangen.
Und Atomwaffen?
Die Möglichkeit eines Einsatzes von Nuklearwaffen besteht weiterhin. Eine russische Doktrin besagt: Wenn man in der konventionellen Kriegsführung nicht weiterkommt oder zu verlieren droht, kann man eine „kleine“ Nuklearwaffe einsetzen.
Wie klein ist klein?
Sie sind von der Sprengwirkung geringer als das, was in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurde. Aber die Verseuchung durch die freigesetzte Strahlung ist trotzdem in großem Umfang da. Der Einsatz wäre eine massive Verletzung des nuklearen Tabus, das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wirkt. Er ist auch gemäß der russischen Doktrin nur dann vorgesehen, wenn die Existenz Russlands in Gefahr ist. So wäre es eine massive Eskalation, wenn Russland eine Nuklearwaffe auch nur von geringer Sprengwirkung zünden würde. Das brächte den Westen dazu, über eine ganz andere Art von Engagement zu diskutieren. Ich halte den Einsatz einer Nuklearwaffe nicht für ausgeschlossen, aber für weniger wahrscheinlich, als dass Russland seine Kriegsziele anpasst an das, was konventionell militärisch durchsetzbar ist – und das ist am ehesten die Landbrücke zur Krim und der Donbass. In den Grenzregionen zu Donezk und Luhansk stehen weiterhin – trotz einiger Umgruppierungen – starke ukrainische Truppen, sodass es nicht so leicht ist für die Russen, ihr Territorium auszudehnen.
Hätten Sie erwartet, dass eine der größten Armeen der Welt so schlecht organisiert ist und derartige Schwierigkeiten hat, ein Land wie die Ukraine zu erobern?
Nein, die meisten Fachleute waren überzeugt, dass dieser Krieg auch bei ukrainischem Widerstand relativ schnell zu Ende sein würde, weil die russische Armee sehr gut ausgerüstet schien und zahlenmäßig mit 170.000 Mann deutlich überlegen war. Der ukrainische Widerstand war stärker und professioneller als erwartet. Die russische Seite hat den Feldzug erstaunlich schlecht koordiniert und durchgeführt – dafür, dass sie ihn monatelang vorbereiten konnte.
Einige moderne russische Waffensysteme, die auf Paraden immer mal wieder vorgeführt wurden, sind gar nicht oder nur in kleiner Zahl eingesetzt worden. Jetzt fragt man sich: Sind diese Waffen gar nicht so gut wie behauptet? Oder gibt es sie nur in kleiner Zahl, sodass sie nicht in der Ukraine zum Einsatz kommen sollten? Es bleibt erstaunlich, dass der Angriffskrieg so schlecht koordiniert ist und weder die besten Truppen noch die besten Waffensysteme aufgeboten werden. Vielleicht befürchtete Russland einen westlichen Gegenangriff an anderer Stelle und hielt sie dafür zurück.
Ist die Gefahr einer territorialen Ausweitung des Krieges auf Nato-Gebiet – und somit unter aktiver Nato-Beteiligung – inzwischen gebannt? Der Westen hat sich ja, abgesehen von Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen, sehr bemüht klarzustellen, dass er nicht weiter eingreifen wird.
Nein, die Gefahr besteht weiter. Die Nato testet gewissermaßen, wie weit Russland bereit ist, Waffenlieferungen zu akzeptieren und was als Überschreiten einer roten Linie gewertet wird. Die Sorge, dass irgendein weiterer Schritt der Nato von Russland als direkte Beteiligung am Krieg gewertet werden könnte, besteht insofern fort.
Es gibt wohl nicht den Knopf in Russland, der gedrückt wird, und dann beginnt der Dritte Weltkrieg. Möglich wäre aber eine Eskalationsspirale. Beispiel: Der Westen schickt Waffensysteme, die Russland als Überschreiten der roten Linie wertet, und Putin lässt Ziele im Süden Polens bombardieren. US-Präsident Joe Biden hat gesagt, der Westen werde jeden Zentimeter Nato-Land verteidigen. Deshalb halte ich die Gefahr nicht für gänzlich gebannt. Im Moment scheint es aber, als versuche Russland, seine Kriegsziele so zu revidieren, dass eine Eskalation mit einem direkten Eingreifen der Nato vermieden wird.
Wäre Russland überhaupt in der Lage zu einer Auseinandersetzung mit der Nato?
Die Nato ist Russland im konventionellen Bereich deutlich überlegen. Es gibt Staaten, in denen das westliche Verteidigungsbündnis allerdings schlecht aufgestellt ist und die schwierig zu verteidigen sind – wie beispielsweise das Baltikum, Rumänien und Bulgarien. Russland hat deutlich mehr „kleinere“ Nuklearwaffen als die Nato. Das birgt die Gefahr einer furchtbaren, tödlichen Eskalation. Von einer solchen Option des Einsatzes haben sich alle offiziellen Atommächte, einschließlich Russland, zwar noch im Januar distanziert, aber nach den Erfahrungen mit der russischen Aggression in der Ukraine steigen die Zweifel, ob das ernst gemeint war.
Ändern die schrecklichen Kriegsverbrechen von Mariupol und jetzt Butscha, vielleicht auch noch anderswo, das Szenario?
Der Druck auf die westlichen Staaten, etwas zu tun, ist noch einmal gewachsen. Das sind aber nicht die ersten Kriegsverbrechen – schon der Angriffskrieg an sich stellt ein solches dar, ebenso wie die Bombardierung von zivilen Krankenhäusern, Schulen und Theatern. Die Bilder der vielen Leichen in Butscha erhöhen den emotionalen Druck auf den Westen. An der militärischen Lage und der politischen Situation ändern sie erst einmal nichts.
Glauben Sie, dass diese Verbrechen in Butscha irgendwann geahndet werden können?
Es wird schwer sein, dafür Verantwortliche haftbar zu machen, derer man außerhalb Russlands habhaft werden kann. Nach dem Jugoslawien-Krieg und den Gräueltaten von Srebrenica hat es lange gedauert, bis Serbien bereit war, die Haupt-Kriegsverbrecher auszuliefern. Im Fall der Kriegsverbrechen in der Ukraine kann man trotzdem vor dem Internationalen Strafgerichtshof Anklage erheben, in der Hoffnung, dass man die Täter später einmal zu fassen bekommt.
Reichen wirtschaftliche Sanktionen aus Ihrer Sicht aus, um Russland mittelfristig zur Beendigung des Krieges zu bewegen?
Mittelfristig, denke ich, sind die Chancen gar nicht so schlecht, Russland dazu zu bewegen, die Kampfhandlungen zu beenden und seine Kriegsziele herunterzuschrauben, sollte der Krieg länger andauern. Denn die Kosten der Sanktionen werden auf mittlere Sicht für Russland hoch sein, insbesondere, wenn es zu einem Ende der Gaslieferungen kommt und Öl und Kohle nicht mehr aus Russland importiert werden. Das braucht allerdings Zeit, und der Westen muss darauf einwirken, dass nicht andere Länder diese Rohstoffe alternativ abnehmen. Das ist nicht ganz einfach, weil sich China im Krieg sehr zurückhaltend verhält und auch Indien am Import russischen Öls interessiert ist. Der Westen sollte seine Möglichkeiten nutzen, auf diese Staaten Einfluss zu nehmen. Man wird sie nicht dazu bringen, den Sanktionen vollständig zu folgen, wohl aber vielleicht, den Handel mit Russland nicht noch auszuweiten.
Was bedeutet dieser Angriffskrieg für die Sicherheitsarchitektur in Europa?
Sie muss völlig neu aufgestellt werden, denn was bisher an Vereinbarungen da war, hat Russland massiv gebrochen – in einer Art und Weise, dass man nicht einfach zu ihnen zurückkehren kann. Andererseits bleibt Russland eine Macht, mit der man rechnen und die man in eine Sicherheitsarchitektur einbinden muss. Die Mischung aus Abschreckung, Kooperationsbereitschaft und Rüstungskontrolle muss eine andere sein als vor dem russischen Angriff. Die roten Linien müssen neu gezogen werden, auf der Grundlage einer glaubwürdigen Abschreckung für den Fall, dass sich eine Seite nicht an Abmachungen hält. Historisch gesehen sind wir wieder zurück in der Phase des Kalten Krieges, bevor man ab den 1960er-Jahren zu Rüstungskontrollgesprächen kam.
Kann man mit Putin überhaupt noch zusammenarbeiten, wenn seinem Wort und seinen Versprechungen nicht zu trauen ist?
Man muss sprechen und dann genau beobachten, wie er handelt. Wir haben viel über Militär und Sicherheit gesprochen, aber es gibt auch ökologische Fragen wie die des Klimawandels, für die eine Zusammenarbeit mit Russland dringend nötig ist. Klimaforscher halten es für eine Katastrophe, wenn sie sich nicht mehr austauschen und beispielsweise in der russischen Tundra forschen können, um vorherzusagen, wann das dort eingefrorene Methan freigesetzt wird. Auch gehört Russland zu den größeren Emittenten von CO2, Methan und anderen Klimagasen. Deshalb bleibt es wichtig, Russland mit ins Boot zu holen für weitere Schritte im Kampf gegen den Klimawandel.
Wirft dieser Krieg uns beim Erreichen unserer Klimaziele zurück?
Er wirft uns deutlich zurück. Finanzielle Möglichkeiten, die wir für den Kampf gegen den Klimawandel vorgesehen hatten, fehlen uns jetzt – ebenso wie anderen Staaten. Nahrungsmittelpreise und Energiekosten steigen, sie müssen im Sinne der Bevölkerung subventioniert werden, insbesondere in ärmeren Staaten. Auch steht weniger Geld für Investitionen in erneuerbare Energien zur Verfügung. Auch die politische und wissenschaftliche Zusammenarbeit wird zurückgeworfen. Auf der anderen Seite steht die Hoffnung, dass erneuerbare Energien nun schneller ausgebaut werden, damit wir von fossilen Brennstoffen aus Russland unabhängiger werden. Das kann die negativen Folgen des russischen Angriffskrieges für den Kampf gegen den Klimawandel aber nicht kompensieren.