Hamburg. Der ehemalige SPD-Umweltsenator kritisiert Robert Habeck und erklärt, weshalb Hamburg von der Energiekrise besonders betroffen ist.

Prof. Fritz Vahrenholt, Hamburgs Umweltsenator von 1991 bis 1997, ist ein Pionier der Umweltbewegung. Mit seinem Buch „Seveso ist überall“ stieß der promovierte Chemiker eine der ersten großen ökologischen Debatten an. Später bereitete er als Manager bei Shell und Repower alternativen Energien den Weg. Das erste RWE-Windkraftwerk in der Nordsee trägt seinen Namen: Fritz. Der Hamburger hat mehrere Aufsichtsratsposten inne, so beim Kupferhersteller Aurubis und bei Encavis, einem Produzenten von Strom aus erneuerbaren Energien.

Als scharfer Kritiker der Energiewende machte er sich zuletzt viele Gegner. Wegen seiner Aussagen zum Klimawandel, den er nur zu einem Teil für menschengemacht hält, verlor er seinen Posten als Alleinvorstand der Wildtier-Stiftung. Doch der 73 Jahre alte Sozialdemokrat stürzt sich weiter unverdrossen in die Debatte – seit einem halben Jahr arbeitet er an dem Buch „Die große Energiekrise“. Es soll noch 2022 erscheinen.

Sie waren in den vergangenen Jahren ein scharfer Kritiker der Energiewende und wurden selbst hart angegangen. Der Krieg in der Ukraine hat Ihre Thesen wieder aktuell gemacht. Fühlen Sie sich jetzt bestätigt?

Fritz Vahrenholt: Ja, durchaus. Zehn Jahre bin ich kaum zu Wort gekommen, und jetzt kann ich mich vor Anfragen nicht retten. Dabei ist die Energiekrise schon älter: Der Strom- wie der Gaspreis sind schon 2021 deutlich gestiegen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Lage noch einmal dramatisch verschärft. Das Scheitern der Energiewende wird deshalb viel früher viel deutlicher – wir erleben es quasi im Zeitraffer.

Sie reden vom Scheitern. Wir wären weiter, wenn wir früher und intensiver in regenerative Energie investieren hätten.

Fritz Vahrenholt: Das bezweifle ich. Die Sonne scheint nicht immer, und als früherer Windkraft-Manager weiß ich, dass ein Windrad oft länger steht, als es sich dreht. Für die Energiewende war Gas deshalb stets das Back-up für Sonne und Wind. Die Ampel hat Gas ausdrücklich als Brückentechnologie definiert und sich im Koalitionsvertrag geeinigt, neue Gaskraftwerke zu bauen. Nun ist für die kommenden Jahren eine massive Gasknappheit zu erwarten – das mag sich in einigen Jahren nach Putin vielleicht wieder ändern, aber Stand heute ist die Lage dramatisch. Wir brauchen schnell etwas, was funktioniert, wenn Sonne und Wind nicht liefern.

Jetzt kommen Sie wieder mit der Atomkraft.

Fritz Vahrenholt: Na ja, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, mitten im Winter die letzten drei Kernkraftwerke abzustellen, ist mir schleierhaft. Das vergrößert unseren Gasmangel noch: Denn die ausfallende Leistung der Atomkraft erfordert die zusätzliche Verfeuerung von Gas. Die Kohlekraftwerke in Reserve reichen ihrerseits schon nicht aus, um die Gasverfeuerung zu ersetzen.

Sie waren lange bei RWE Innogy. Selbst die Versorger sehen Kernkraft heute kritisch ...

Fritz Vahrenholt: Das ist unterschiedlich. E.on-Chef Leonhard Birnbaum hat betont, dass wir die Kernkraftwerke länger laufen lassen können, wenn die Politik das will. Der Konzern Westinghouse könnte Brennelemente liefern, wenn wir sie mit einem halben Jahr Vorlauf bestellen. Wir müssen jetzt handeln, und zwar schnell. Wer da lieber über die Dauer des Duschens redet, hat den Titel Bundeswirtschaftsminister nicht verstanden. Es geht nicht ums Heizen, dafür wird wohl genug Gas da sein. Es geht im Ernstfall um sechs Millionen Arbeitsplätze.

Das ist eine sehr offensive Schätzung ...

Fritz Vahrenholt: Ich habe sie nicht allein. Wenn Unternehmen in der Reihenfolge der Belieferungen in einer Gasnotlage hintenanstehen, lassen sich diese Zahlen der betroffenen Firmen einfach addieren. Es geht um die Existenz von Tausenden von Unternehmen, es geht um die Grundstoffindustrie, die Chemie, die Glashersteller, aber auch Großbäckereien. Hamburgs Industrie ist übrigens besonders betroffen. Wir müssen sofort handeln, denn 50 Prozent des Gases gehen in industrielle und gewerbliche Arbeitsplätze.

Was sollten wir Ihrer Ansicht nach tun?

Fritz Vahrenholt: Die Verlängerung der Restlaufzeiten ist das eine. Das zweite ist die Förderung von Schiefergas, also Fracking, in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Es ist doch absurd, diesen Schatz nicht heben zu wollen, aber gleichzeitig Fracking-Gas aus Übersee zu importieren. Das ist viel schädlicher für Umwelt und Klima, da es aufwendig verflüssigt und transportiert werden muss. Mir sagen Experten, dass wir hierzulande in einem Jahr fördern könnten. Und es gibt noch einen dritten Weg, um in den nächsten Jahren über den Winter zu kommen: Wir müssen uns Gedanken über Braunkohle machen – sie ist unser Energieschatz. Und für Hamburg gilt: Ein Block von Moorburg könnte offenbar für den Winter hergerichtet werden, das weiß der Senat. Warum handelt er nicht?

Die Regierung erschließt schon neue Importmärkte für Gas.

Fritz Vahrenholt: Ja, aber ich bezweifle, dass das die Lösung ist – auch aufgrund neuer Abhängigkeiten, die wir dadurch schaffen. Die Gasförderung in den USA könnte schon bald an ihre Grenzen stoßen, denn Präsident Biden hat die Erschließung neuer Felder gestoppt. Zudem treiben wir die Energiepreise durch teures LNG Gas weiter in die Höhe. Das billige Gas aus Russland war eines der Geheimnisse unseres wirtschaftlichen Erfolges. Auch deshalb konnten wir wettbewerbsfähig Grundstoffe erzeugen. Ohne günstiges Gas stehen diese Industrien vor einer ungewissen Zukunft. Wir müssen also eigenes Gas gewinnen, und es würde für Jahrzehnte reichen.

Werden in Zukunft noch energieintensive Unternehmen in Deutschland große Investitionen wagen?

Fritz Vahrenholt: Zumindest wird sich jede Firma Investitionen genauer anschauen. Vielleicht hat sich Ford deshalb jüngst für Spanien und gegen das Saarland entschieden? Wir wissen es nicht, genauso wenig, ob Tesla sich heute auch noch in Grünheide ansiedeln würde. Eines aber weiß ich: Tesla-Gründer Elon Musk hält es für einen „absoluten Wahnsinn“, Atomkraftwerke abzuschalten. Selbst der Weltklimarat plädiert für die Nutzung der Kernkraft. Wer mir jetzt noch mit seinen Vorbehalten kommt, dem nehme ich seine Klimasorgen nicht mehr ab.

Der erstaunliche Erfolg des Konzern-Chefs


  • Hamburg hat jetzt die sauberste Kupferhütte der Welt

  • Menschen halten wohl weniger Hitze aus als bisher gedacht

  • Warum kommt die große Mehrheit in Deutschland zu einer anderen Analyse?

    Fritz Vahrenholt: Die Politik hat sich europaweit auf die Klimafrage reduziert. Energiepolitik muss aber daneben auch die Wettbewerbsfähigkeit und die Versorgungssicherheit im Blick haben. Wir leisten uns seit zehn Jahren eine angstgetriebene Energiepolitik und haben mit Worst-Case-Szenarien die Politik fast in eine Angstpsychose getrieben. Daran haben sich Industrie und Gewerkschaften, aber auch die Medien angepasst. Wer vor einem Jahr öffentlich Fracking gefordert hätte, wäre nicht ernst genommen worden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ehrlich zu diskutieren. Wenn wir wieder Braunkohle nutzen wollen, kommen wir an der CO2-Sequestrierung nicht vorbei – das heißt, wir müssen CO2 abscheiden und in tiefe Gesteinsschichten verpressen. Das fordert auch der Weltklimarat. Das wäre Klimaschutz. Dann könnten wir mit Fug und Recht von den Chinesen das Gleiche verlangen. Wir könnten Vorreiter beim Lösen der Probleme sein, nicht bei Verboten.

    Schaffen wir das?

    Fritz Vahrenholt: Alle Tabus, um die wir uns gedrückt haben, werden angesichts der dramatischen Lage in einer hohen Geschwindigkeit auf den Tisch kommen. Wir werden über CO2-Abscheidung, Fracking und Kernenergie reden müssen. Ich kenne Bundeskanzler OIaf Scholz gut genug, um zu wissen: Er orientiert sich an den Interessen der Arbeitnehmer und der Unternehmen, er wird sich den nötigen Debatten sicher nicht verschließen.