Hamburg. Ties Rabe stößt mit seinen neuen Plänen auf Kritik aus vielen Richtungen. Vor allem bei den Grünen regt sich Widerstand.
„Leistung mag anstrengend sein, aber sie macht glücklich!“ Das war gewissermaßen der Schlüsselsatz, die Quintessenz der Grundsatzrede, die Schulsenator Ties Rabe zu seinen Entwürfen für die neuen Bildungspläne am Mittwoch in der Bürgerschaft hielt. Es ist ein überaus bemerkenswertes und nach wie vor ungewöhnliches Statement für einen SPD-Bildungspolitiker. Um die Bedeutung des durchaus mit Emphase vorgetragenen Satzes zu unterstreichen, twitterte ihn die Schulbehörde beinahe simultan in die Welt hinaus, verbunden mit dem Hinweis, Rabe habe betont, „dass Leistung im Mittelpunkt der schulischen Ausbildung stehen muss“. Damit seine Position auch allen klar ist.
Bildungsreform: Gewerkschaft attackiert Rabe
Leistung in der Schule, gar die Forderung nach mehr Leistung – das klingt schnell nach Drill und Druck, nach vermeintlich sinnlosem Faktenpauken, nach „Learning for the Test“ (Lernen für den Test), nach „Bulimie-Lernen“, bei dem man den angefütterten Inhalt am besten schnell wieder von sich gibt, und im schlimmsten Fall nach Ausgrenzung der schwächeren Schülerinnen und Schüler.
Der Leistungsbegriff hat das Zeug zu endlosen schulpolitischen Debatten, die sich leicht von den pädagogischen Realitäten entfernen und in deren Verlauf die Opponenten sich gegenseitig ihr unterschiedliches Menschenbild vorwerfen. Die Reaktion auf Rabes Leistungsplädoyer ließ nicht lange auf sich warten. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) warf dem Senator am Freitag einen verkürzten Leistungsbegriff vor, der sich „an Klausuren, abfragbarem Wissen und bildungsökonomischen Rankings orientiert“. Zu mehr Bildungsgerechtigkeit führe das jedoch nicht. Deswegen „mogele“ Rabe beim Thema Leistung. „Nicht ,Bildung und Leistung‘ gehören verknüpft, sondern Bildung und individuelle Entwicklungschancen“, sagte der GEW-Landesvorsitzende Sven Quiring.
SPD und Grüne definieren Leistung in der Schule anders
Für konservative Politiker mag außer Frage stehen, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule zu Leistung angehalten werden müssen. Für Bildungspolitiker des linken Spektrums, namentlich bei SPD und Grünen, ist der Begriff jedoch hoch problematisch und war viele Jahre lang beinahe tabuisiert. Auch für etliche Eltern, Lehrer und Schulleiter, besonders der Stadtteilschulen mit ihrer heterogenen Schülerschaft, löst das Wort vor allem Abwehrreflexe aus.
Wie sehr sich die hiesige Schulpolitik bei der Leistungsdiskussion verhaken konnte, wie tief die Gräben waren, aus denen die Gegnerinnen und Gegner attackiert wurden, zeigt ein Vorgang, der einige Jahre zurückliegt. In der Senatssitzung am 28. Mai 1996 kam es im Streit über das neue Schulgesetz zu einem bemerkenswerten Showdown, an dessen Ende der damalige Erste Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) vor seiner Schulsenatorin Rosemarie Raab (SPD) kapitulierte.
Ehemaliger Bürgermeister Vorscherau hatte Wettbewerbsfähigkeit im Blick
Voscherau wollte in die Präambel des Schulgesetzes eine Orientierung der Schülerinnen und Schüler auf Leistung und auf Erfolg im Beruf schreiben, was Rosemarie Raab, Frontfrau des linken SPD-Flügels, strikt ablehnte. Voscherau ließ im Senat über den Raab-Entwurf des Schulgesetzes abstimmen (was absolut unüblich ist) und verlor mit vier zu acht Stimmen. Der Erste unter Gleichen im Senat lehnte ein Gesetz ab, das das von ihm geführte Bündnis von SPD und STATT Partei wenige Wochen später in der Bürgerschaft beschließen sollte. Das war kurios, aber nicht das erste Mal, dass sich Voscherau überstimmen ließ.
Der Erste Bürgermeister ließ seinem Frust in einer Protokollerklärung zum Senatsbeschluss freien Lauf. „Die Schülerinnen und Schüler müssen auf Leistung und Fleiß, auf Erfolg in der Berufswelt, auf Teamfähigkeit und Kreativität gebildet und erzogen werden. Dies alles gewährleistet der Gesetzentwurf nicht hinreichend“, schrieb Voscherau. Der SPD-Politiker hatte die nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit der Hamburger Schulabgänger und -abgängerinnen im Blick, genau wie Ties Rabe jetzt auch.
Voscherau zoffte sich häufig mit Rosemarie Raab
Wenige Wochen nach dem Senatsbeschluss kanzelte Voscherau seine Schulsenatorin in der Bürgerschaft ab. „Hätte ich als Bürgermeister schon jetzt die Richtlinienkompetenz, hätte ich den Gesetzentwurf angehalten“, sagte Voscherau. Das Recht des Ersten Bürgermeisters, die Leitlinien der Senatspolitik zu bestimmen, wurde erst mit der Verfassungsreform eingeführt, die 1997 in Kraft trat.
Politische Freunde wurden Voscherau und Rosemarie Raab nicht mehr – sie waren es auch nie. Aber Voscherau traute sich nicht, seine Schulsenatorin zu entlassen. Und „Rosi“ Raab überlebte Voscherau sogar politisch. Während der Bürgermeister am Abend der Bürgerschaftswahl am 21. September 1997 mit spektakulärer Geste zurücktrat, gehörte Raab auch dem nächsten (rot-grünen) Senat an und legte erst im April 2000 ihr Amt nieder.
Raabs Schulpolitik war übrigens „konservativer“, als sie möglicherweise erscheint. Unter ihrer Ägide startete Hamburg als erstes Bundesland 1995 weit vor dem Pisa-Schock mit den Lernausgangslagenuntersuchungen (LAU), die die Schülerleistungen eines Jahrgangs im Längsschnitt unter die Lupe nahmen. Das entsprach durchaus einer weiteren Forderung Voscheraus nach einer „messbaren Erfolgskontrolle“ des Unterrichts. Raab setzte die auch als „kopernikanische Wende“ bezeichneten und heute selbstverständlichen Schülervergleichstudien gegen den massiven Widerstand der GEW durch. „Vom Wiegen wird die Sau nicht fett“, lautete die eingängige Parole der Raab-Gegner. An der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 nahmen die meisten Hamburger Schulen folglich gar nicht teil, weil sich die Kollegien schlicht weigerten.
Rabe will schriftliche Leistungen aufwerten
Ties Rabe geht es bei den neuen Bildungsplänen nicht um abstrakte Bekenntnisse zur Leistung in der Schule, sondern um konkrete Festschreibungen. So sollen die schriftlichen Leistungen gegenüber den mündlichen bei der Notengebung aufgewertet (50:50 statt 40:60) sowie die vorgegebene Zahl der Klausuren auch tatsächlich geschrieben werden und damit Klausurersatzleistungen wie Präsentationen und Referate nicht mehr möglich sein. Es geht auch um mehr Verbindlichkeit des Lernstoffs in Form sogenannter Kerncurricula, auf deren Einführung sich SPD, Grüne, CDU und FDP 2019 im Rahmen des Schulfriedens geeinigt haben.
Elternkammer, Gewerkschaften und Schulleiterverbände sowie auch die Linke in der Bürgerschaft laufen Sturm gegen Rabes Vorschläge und fordern zum Teil den Stopp des Planungsprozesses und einen neuen Ansatz mit veränderter Aufgabenstellung.
„Wenn die Praktiker sagen, dass das eine oder andere schwierig ist, sollten wir das ernst nehmen“, sagt Nils Hansen, schulpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Er könne sich Bewegung unter anderem bei der Gewichtung der Kerncurricula vorstellen. Was die Zahl der Klausuren angehe, schätze er den Freiraum sehr, den er als Lehrer bislang habe – Hansen unterrichtet an der Stadtteilschule Horn.
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Rabes Bürgerschaftsrede habe eine klare Botschaft gehabt. „Es ist ein Fakt, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, ob uns das passt oder nicht. Insofern muss der Leistungsgedanke in der Schule eine Rolle spielen, und wir müssen den jungen Menschen gute Schulabschlüsse ermöglichen“, sagt Hansen. Das sei konsensfähig in der SPD.
Aber auch beim Koalitionspartner von den Grünen? Ivy May Müller, die schulpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, kann die Kritik von Eltern, Lehrern und Schulleitern „teilweise“ nachvollziehen. „Auch wir blicken kritisch auf die Höhergewichtung der Klausuren und das Verbot der Klausurersatzleistungen. Die Entwürfe würden in ihrer Wirkung tatsächlich an vielen Stellen eine veraltete Lernkultur manifestieren, die wenig mit den Herausforderungen unserer Zeit zu tun hat“, sagt Müller.
Ein besonderes Kapitel ist die Rabe-Rede mit ihrer Betonung des Leistungsgedankens. „Ties Rabe hat aus seiner persönlichen Perspektive auf Bildung gesprochen. Als Grüne-Bürgerschaftsfraktion vertreten wir ein grundlegend anderes Verständnis davon, was Schule für jeden Einzelnen und jede Einzelne leisten soll“, sagt Müller und fügt hinzu: „Leistung allein definiert dabei weder uns noch unser Glück. Bildung sollte vor allem Ermöglichung sein: Sie soll Menschen die besten Chancen eröffnen, selbstbestimmt das eigene Leben zu gestalten.“
So hätte es Rosemarie Raab auch gegenüber Voscherau ausdrücken können.