Hamburg. Hauptpastor Alexander Röder lüftet sie für das Abendblatt. Denn der Michel hat mehr zu bieten als das, was Besucher sonst so sehen.

Alexander Röder steigt an einem sonnigen Frühlingstag hinab in die Unterwelt der barocken Hauptkirche. Sechs Meter tief unter der Englischen Planke herrscht in einem fensterlosen, backsteinernen Gang Dunkelheit, würde elektrisches Licht nicht den gewölbten Raum bedarfsweise in schummriges Licht tauchen. Schemenhaft kleben Spinnennetze an der Decke, Kellerasseln huschen erschrocken in eine Mauerwerksritze. Aus einem Loch in der Wand strömt überraschenderweise frische Luft. „Diese Öffnung dient nach den Plänen des Erbauers Ernst-Georg Sonnin als Klimaanlage“, sagt der Hauptpastor des Michels.

Der sogenannte Revisionsgang unter dem Michel gehört zu den verborgenen Orten des Gotteshauses. Während jährlich rund 1,5 Millionen Gäste die frei zugänglichen Plätze wie den Turm, die Krypta und selbstverständlich das Kirchenschiff besuchen können, bleibt dieser Gang weitgehend tabu und wird nur ausnahmsweise, z. B. beim diesjährigen Tag des offenen Denkmals im September, für eine begrenzte Gästezahl geöffnet.

Hamburger Michel: Geheimer Revisionsgang

Der Revisionsgang zählt zu den Geheimnissen von Norddeutschlands schönster Barockkirche. Verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit birgt er wie das ebenso nicht zugängliche Fernwerk der Orgel, ein mysteriöses Fenster im Dachgewölbe und der Bienenstock in 65 Metern Höhe ein Reservoir an spannenden Geschichten. Die Michel-Bienen sammeln mitten in der Stadt immerhin 40 Kilogramm Honig im Jahr.

Prachtvoll wirkt das Hauptschiff der Barockkirche.
Prachtvoll wirkt das Hauptschiff der Barockkirche. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Wer in die Michelgeschichte eintaucht, begegnet zunächst einmal verheerenden Bränden. Erst ging der 1661 eingeweihte Michel am 10. März 1750 in Schutt und Asche unter. Wie es in den Annalen heißt, zog sich an jenem Tag zur „ungewöhnlichen Jahreszeit eine Gewitterwolke zusammen“. Ein Blitz traf die Kirchturmspitze, die Kirche brannte bis auf die Grundmauern nieder.

Der Bombenkeller des Michels

Baumeister Ernst-Georg Sonnin (1713– 1794) erhielt den Auftrag, den zweiten Michel zu bauen. Der aber brannte an einem heißen Julitag 1906 nieder, nachdem eine Benzinlötlampe bei Sanierungsarbeiten einen Schwelbrand ausgelöst hatte. Bereits am Tag nach dem Feuer beschloss die Bürgerschaft den Wiederaufbau nach Sonnins Plänen. Die Wiedereinweihung des noch heute so erhaltenen Gotteshauses erfolgte 1912.

Der Hamburger Architekt Sonnin baute nun jenen dunklen Revisionsgang am Fundament des ersten Michels, das aus dem Jahr 1649 stammt. Mit dieser unterirdischen Trasse konnte er sich jederzeit ein Bild vom Zustand seines Bauwerks machen. Die „Klimaanlage“ sorgte für den notwendigen Luftaustausch. Während des Zweiten Weltkrieges fanden hier und in der Krypta der Kirche gut 2000 Hamburger Schutz vor den angloamerikanischen Bombenangriffen.

Steinerner Altar unter der Erde

In der Krypta gerät der 61 Jahre alte Michel-Hauptpastor und Kunstexperte Röder geradezu ins Schwärmen, als er ein weiteres Geheimnis verrät. Der Geistliche, der die Hauptkirche so gut kennt wie sein eigenes Zuhause, steht vor dem steinernen Altar und zeigt auf ein „Einlegekreuz“ aus dem Jahr 2008. Wenn Steine reden könnten, würden die Betrachter erfahren, dass sie aus Jerusalem, Rom, Istanbul und der Wittenberger Schlosskirche stammen. „Und die Steine drum herum kommen von den Hamburger Hauptkirchen.“ Symbolik genug aus Heiligen Städten, wenn man Martin Luthers protestantisches Wittenberg mit dazurechnet.

Der Altar mit eingelegtem Kreuz, das mit Einlegearbeiten aus Bauwerken der vier Weltreligionen gebildet wird.
Der Altar mit eingelegtem Kreuz, das mit Einlegearbeiten aus Bauwerken der vier Weltreligionen gebildet wird. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Wenige Schritte weiter wird es in Glasvitrinen plötzlich Weihnachten. Zu den neuen Ausstellungsobjekten zählt die Krippensammlung von Kurt Rechenberg, die dem Michel zur Verfügung gestellt wurde. Besonders eindrucksvoll ist eine neapolitanische Krippe aus dem 18. Jahrhundert, mit menschlichen Figuren bei Speis und Trank und einem pittoresken Schweinekopf.

Geheimnis Nr. 3: Hinter der Michel-Decke

Danach begibt sich Alexander Röder mit schnellen Schritten und zahlreichen Stufen hinauf in die Höhen, zwei weiteren Michel-Geheimnissen auf der Spur. Kirchgänger machen sich sonst keine Gedanken darüber, was sich wohl hinter der barocken Michel-Decke über ihnen in rund 36 Metern Höhe befinden möge. Was man sonst nicht sieht: Eine der größten Stahlkonstruktionen aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts hält diese Decke mit ihren Fenstern. Eines von ihnen öffnet gerade der Hauptpastor und schaut heraus – für ihn, der seit 2005 am Michel arbeitet, eine Premiere, während der Abendblatt-Fotograf von einer Empore aus mit einem Teleobjektiv fotografiert. Nur dieses eine Fenster im barocken „Himmelsgarten“ lässt sich öffnen. Die anderen sind nur scheinbar ein Fenster.

Der berühmte Turm des Wahrzeichens, das wohl jeder erkennt.
Der berühmte Turm des Wahrzeichens, das wohl jeder erkennt. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Weitere Geheimnisse bergen die sechs Orgeln mit ihren 10.000 Pfeifen. Am zen­tralen Spieltisch auf der Nordempore kann der Organist gleich drei Orgeln bedienen: die Große Orgel (86 Register, 6697 Pfeifen), die Konzertorgel und das verborgene Fernwerk. Wer in diesen mit weinroter Farbe gestrichenen Raum betreten will, muss eine Wendeltreppe hinaufsteigen. Links die Orgelpfeifen, eine davon ist eine Trommel, die mit Kieselsteinen gefüllt ist. „Sie kann Regen, Sturm zu Gehör bringen“, sagt Röder begeistert und stimmt das Adventslied „Es kommt ein Schiff geladen“ an. Auch bei den Gottesdiensten zu den Hafengeburtstagen erklinge dieses sogenannte Regenregister.

Rechts vom Eingang klafft ein vergittertes Schallloch im Fußboden. Darunter sind die Kirchenbänke zu sehen. Von der Orgel des Fernwerks geht der Schall durch den 20 Meter langen Raum, dringt durch die Öffnung und erreicht schließlich mit kleiner Verzögerung das Ohr der Zuhörenden. Das Fernwerk löst eine Klangverzögerung von einer sechstel Sekunde aus. Nur wenige Gotteshäuser in Europa verfügen über ein derart perfektes Fernwerksystem. Es heißt ja nicht umsonst: Michel, mein Michel, du bist einzigartig.