Hamburg. Architekturkritiker Gert Kähler sieht im millionenschweren Vorhaben große Chancen – und empört sich nicht nur über diese Planung.

Wer sich für Hamburgs Stadtentwicklung interessiert, hat mindestens eines seiner Bücher im Regal stehen. Ob das Standardwerk „Von der Speicherstadt zur Elbphilharmonie“, das „Geheimprojekt Hafencity“, ob „Die Stadt und das Auto“ oder „Hamburger Baumeister und ihre Wohnhäuser“ – Gert Kähler hat über vieles geschrieben, was die Stadt bewegt. Seine Heimatstadt und ihre Entwicklung treiben den studierten Architekten seit Jahrzehnten um.

Und deshalb hält er mit Kritik nicht hinter dem Berg, wo er Missstände sieht: „Mein Hauptärgernis ist die Verzögerung beim Deutschen Hafenmuseum“, sagt der Architekturkritiker im Podcast „Was wird aus Hamburg“. „Die Stadt gibt bei den Planungen dieses großartigen Projekts ein desaströses Bild ab.“

Peking pünktlich restauriert, Hafenmuseum verzögert

Der 80-Jährige verweist auf die inzwischen ellenlange Vorgeschichte: Bereits 2015 hatten die Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs (SPD) und Rüdiger Kruse (CDU) 120 Millionen Euro für die Restaurierung der Viermast-Stahlbark „Peking“ und ein neues Hafenmuseum losgeeist. Die „Peking“ wurde pünktlich restauriert – doch für das Bundesmuseum ist noch kein Stein bewegt worden.

„Es sollte das erste nationale Museum der Stadt werden! Ein Museum, das von der Geschichte der Häfen und des Handels von der Hanse bis zur Globalisierung erzählt“, so Kähler. „Doch der einzige Ehrgeiz, den die Stadt Hamburg zu entwickeln scheint, ist der, die Realisierungszeit der Elbphilharmonie zu übertreffen: Die wurde 2003 präsentiert und 2016 eröffnet.“ Die Fertigstellung des Hafenmuseums ist für 2029 geplant; das wären, wenn nichts dazwischenkommt, mindestens 14 Jahre. „Abenteuerlich“, so Kähler. Man habe viel zu lange für die Standortwahl benötigt, anstatt mit der Hafenwirtschaft gemeinsam einen Plan zu entwickeln. „Hamburg muss den Sprung über die Elbe schaffen. Und für diesen Sprung müssen eben drei Gefahrenbetriebe verlegt werden.“

Der Architekturhistoriker Gert Kähler ist ein streitbarer wie kundiger Stadtentwicklungsexperte.
Der Architekturhistoriker Gert Kähler ist ein streitbarer wie kundiger Stadtentwicklungsexperte. © Roland Magunia / FUNKE Foto Services

Architekturkritiker: Hafenmuseum wäre große Attraktion für Hamburg

Diesen Plan gibt es bis heute nicht – und deshalb kann die bestehende Ausstellungsfläche in den 50er-Schuppen am Bremer Kai nicht ausgebaut werden. „Dort ist der Hafen mit seiner Geschichte am besten zu erleben. Stattdessen planen wir nun um die drei Betriebe herum.“ Kähler hält ein Hafenmuseum für eine große Attraktion für Hamburg, die manchem offenbar nicht bewusst sei. „Jetzt wird auch nur eine Hälfte des Grasbrook bebaut.“ Für Kähler sind das halbe Sachen: „Ein Sprung über die Elbe, der in der Elbe landet, kann nur zum Ersaufen führen.“

Kritisch sieht er auch den in der HafenCity geplanten „Elbtower“ „Welches ,Zeichen‘ setzt er?“, fragte Kähler jüngst in einem Abendblatt-Gastbeitrag. Die Antwort vermisst er bis heute. „Ein Si­gnal an der Einfahrt in die Stadt ist ja richtig. Aber die Bedeutung ist banal: Die Aussage, hier steht ein hohes Bürohaus, ist zu dürftig.“ Er findet: „Städte müssen lesbar sein – Hamburg war immer lesbar durch seine Türme, die Kirchen, das Rathaus und nun die Elbphilharmonie.“ Diese Lesbarkeit von Städten funktioniere bis heute deutschlandweit – wer von der Autobahn abfährt, findet meist an der Kirche eine Gaststätte.

Zweifel an Wiederaufbau der Synagoge im Grindelviertel

Ebenfalls bezweifelt er ein Bauprojekt, das die Hamburger noch mehr bewegt – den Wiederaufbau der Synagoge im Grindelviertel. „Ich habe überhaupt kein Problem damit, dass dort eine Synagoge gebaut wird. Aber sie muss in Formen gebaut werden, die zur Gegenwart passen – und eben nicht in der Gestalt des beginnenden 20. Jahrhunderts.“

Er betrachtet die Stadt als Bürger, Architekt und Kritiker. Sieben Jahre hat Kähler in einem Architekturbüro gearbeitet – dann wechselte er an die Hochschule. Viele Jahre lehrte er als Professor an der TU Braunschweig, der TU Berlin sowie der RWTH Aachen. Selbstironisch verweist er auf George Bernard Shaw: „Wer etwas kann, der macht es, wer es nicht kann, der lehrt es.“ Und fügt hinzu: „Ich war kein brillanter Architekt.“ 1988 entschied sich Kähler, zum Publizisten umzusatteln. Bis heute hat er ein Dutzend Bücher geschrieben, auch zwei Schulbücher, viele weitere mitverfasst. Derzeit arbeitet er an einem Fotoband über den neuen Alten Wall.

Hamburg: Kähler sorgt sich um Wohnungsbau

Große Sorgen macht sich Kähler um den Wohnungsbau: „Die Wohnungen sollen groß, schallgeschützt, klimafreundlich und billig sein – das ist die Quadratur des Zirkels.“ Der Mitverfasser des kiloschweren Werkes „Neue Heimat. Das Gesicht der Bundesrepublik“ verweist auf ein paar konkrete Zahlen: Im Jahre 1970 habe Hamburg bei 1,8 Millionen Einwohnern rund 600.000 Wohnungen gezählt, zwei Drittel davon Sozialwohnungen. Ein halbes Jahrhundert später leben die 1,8 Millionen Einwohner in 900.000 Wohnungen, von denen nur noch 80.000 Sozialwohnungen sind.

Und noch eine Statistik gibt ihm zu denken: 54 Prozent der Haushalte sind Einpersonenhaushalte. „Diese Menschen leben oft in Wohnungen, die für zwei, drei oder vier Menschen gebaut wurden.“ Seine Schlussfolgerung: „Wir bauen am konkreten Bedarf und der Realität vorbei: Wir müssen an Alleinstehende denken, an Senioren, an Berufseinsteiger oder Studenten.“ Sie benötigten Wohnungen von 40 bis 60 Quadratmetern, gebaut würden aber meist doppelt so große Einheiten. „Hier liegt ein erhebliches Einsparpotenzial.“ Kähler rechnet weiter: Wenn sich der Trend fortschreibe, benötigt die Stadt sonst in 50 Jahren für 1,8 Millionen Einwohner 1,35 Millionen Wohnungen.

Architekturkritiker: Bestehende Gebäude anpassen, nicht abreißen

Ausdrücklich wirbt Kähler dafür, bestehende Gebäude den neuen Bedürfnissen anzupassen – und umzubauen statt abzureißen. „Der Architekt Volkwin Marg hat es bei den City-Höfen vorgemacht:. Im Falle der vorgeschlagenen Sanierung wären viele Kleinwohnungen entstanden. Das hätte wunderbar zur Innenstadtbelebung beigetragen.“ Er habe die vier Hochhausscheiben am Klosterwall zwar nie besonders schön gefunden, aber sie seien ein wichtiges Denkmal für die Stadt gewesen, gerade im Kontrast zum Kontorhausviertel. Kähler ärgert, dass der Senat damals „Marg und sein Konzept ausgebootet“ habe. „Der Neubau am Klosterwall sieht aus, als wolle man das Unesco-Weltkulturerbe mit dunklem Backstein weiterbauen. In einigen Jahrzehnten wird niemand mehr Alt und Neu unterscheiden können.“

Besonders intensiv hat er die Entwicklung der HafenCity begleitet und mehrere Bücher über Wachsen und Werden des neuen Stadtteils verfasst. Welche Note würde er dem größten innerstädtischen Bauprojekt in Europa geben? Kähler zögert ein wenig. „Ich muss unterscheiden zwischen der städtebaulichen und der architektonischen Note. Für den Städtebau gibt es eine 2, vielleicht eine 2+. Bei der Architektur bin ich eher bei einer 3- oder 4+. Vieles hätte einheitlicher und zusammenhängender gestaltet werden können“, sagt Kähler. Ein Beispiel dafür sei der Sandtorkai, der in der frühen Phase abwechselnd mit Wohn- und Kontorhäusern gestaltet wurde. „Damals hat man acht Wettbewerbe ausgelobt. Einer hätte gereicht.“ Wettbewerb bedeute, etwas Besonderes zu machen, aufzufallen. „Gegenüber der Speicherstadt hätte man besser einheitlicher gebaut. Eine stärkere Vereinheitlichung hätte den Quartieren gutgetan.“

Überseequartier: Westfield investiert über eine Milliarde Euro

Das Überseequartier, das Herzstück der HafenCity, hält er für überdimensioniert. Dort investiert Westfield über eine Milliarde Euro. Es entstehen 80.000 Quadratmeter Einzelhandel, Büros mit 4200 Arbeitsplätzen und 580 Wohnungen. Große Flächen sind für Kultur- und Entertainment, Gastronomie und Hotels vorgesehen, das Kreuzfahrtterminal bekommt eine Abfertigungsfläche. „Im Überseequartier entsteht das sechstgrößte Einkaufszentrum Deutschlands – alle Menschen, die in der Stadt per Kreuzfahrtschiff ankommen, gehen als Erstes durch ein Einkaufszentrum.

Soll das der erste Eindruck von Hamburg sein?“, fragt Kähler. Und gibt sogleich die Antwort. „Wir haben die HafenCity gebaut, weil die Lage so großartig ist. Die Elbe, die Brücken, die alten Hafenbecken machen diesen Ort einzigartig und zeigen das amphibische Hamburg.“ Die Entscheidung für die XXL-Variante im südlichen Überseequartier sei in der Finanzkrise aus der Angst heraus getroffen worden, dass Areal sonst nicht entwickeln zu können. „Wahrscheinlich wäre es damals besser gewesen, noch fünf Jahre zu warten.“

Architekturkritiker: "Hamburg hat es nicht ganz leicht"

Kähler will nicht nur kritisieren, sondern auch loben. „Olaf Scholz hat 2011 versprochen, 6000 Wohnungen zu bauen. Das war ein großartiges Versprechen, das er gehalten hat.“ Viele dieser Wohnquartiere erfüllten einen hohen ästhetischen Anspruch. „In Hamburg bauen gute Architekten – man sieht keinen Unterschied zwischen dem frei finanzierten und dem geförderten Wohnungsbau.“

Eine der großen Herausforderungen in der Zukunft bleibt, die Innenstadt aus der Krise zu führen. „Hamburg hat es nicht ganz leicht, weil die Binnenalster den östlichen und den westlichen Teil der City trennt“, sagt Kähler. Immerhin bewegt sich nun einiges, wie die Innenstadtpapiere der Grünen und der Handelskammer zeigen. „Wir brauchen dafür eine Bürgerbeteiligung, die verbindlich mitentscheiden kann“, wünscht sich Kähler. Er persönlich schlägt eine Tiefgarage unter Teilen der Binnenalster vor, die in den 60er-Jahren in der Diskussion war. „Hier müssten dann alle Autos abgestellt werden. Von dort geht es kostenlos mit Golfcar, Pedelec, Fahrrad oder Roller elektrisch weiter.“ So entfiele der Grund, mit einem Privat-Pkw in die Stadt zu fahren. Auch für die Finanzierung hat Kähler einen Vorschlag: Bezahlen ließe sich dies durch den Umbau aller Parkgaragen zu Wohnhäusern, um Leben in die Stadt zu bringen.

Neue Ideen für die Innenstadt -- vielleicht der passende Titel für sein übernächstes Buch.