Hamburg. Wissenschaft trifft Wirklichkeit: Chefredakteur Lars Haider und Wissenschaftler Dieter Lenzen sprechen über große Themen unserer Zeit.

Wie jetzt? - so heißt es, ein Gemeinschaftsprojekt von Hamburger Abendblatt und Universität Hamburg. Darin unterhalten sich Chefredakteur Lars Haider und Wissenschaftler Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Macht der Talkshows.

Lars Haider: „Ich bin ein großer Talkshow-Junkie, ich schaue mir das alles an, von ,Hart, aber fair‘ über Anne Will, Sandra Maischberger und Maybrit Illner bis zu Markus Lanz, und mag der auch noch so spät in der Nacht kommen. Wie ist es bei Ihnen?“

Dieter Lenzen: „Bei mir ist das genauso, sehr zum Missfallen meiner Umgebung. Wenn es um die Macht der Talkshows geht, muss man aber wissen, dass sie nur von etwa 15 Prozent der Menschen in Deutschland angesehen werden, eine Zahl, die in keinem Verhältnis zu der Bedeutung steht, die mancherorts einem Auftritt in einer Talkshow beigemessen wird.“

Prof. Dieter Lenzen.
Der Präsident der Universität Hamburg: Prof. Dieter Lenzen. © HA / Andreas Laible

„Wenn wir jetzt aber nur über die politischen Talkshows reden, und das sollten wir tun, muss man sagen: So groß ist das Inter­esse an politischen Inhalten grundsätzlich ja nicht, da sind die Millionen Zuschauer, die Sendungen wie etwa Markus Lanz noch tief in der Nacht erreichen, schon beeindruckend. Kommt hinzu, dass sie heute in den Tagen danach eine enorme Verbreitung über das Internet erfahren, in anderen Medien aufgegriffen werden, und vieles mehr. Will sagen: Im deutschen Fernsehen gibt es mindestens für Politikerinnen und Politiker keine vergleichbaren Plattformen. Karl Lauterbach wäre ohne seine Auftritte dort niemals Bundesgesundheitsminister geworden, der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat zu Recht gesagt, dass das der erste Volksentscheid via Talkshows gewesen ist.“

„Wenn man sich die Frequenz der Auftritte von Karl Lauterbach in der Corona-Krise ansieht, liegt er deutlich vor anderen Politikerinnen und Politikern.“

„Das zeigt, welchen Einfluss Talkshows heute haben können. Wir haben das vor Kurzem auch gesehen, als der Hamburger CDU-Politiker Christoph Ploß der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, bei Markus Lanz vorgeworfen hat, ihr seien Völkerrechtsverletzungen durch Russland nicht so wichtig, solange Nord Stream 2 nicht gefährdet ist. Schwesig ist gegen diese Aussagen juristisch vorgegangen, was sie sicher nicht getan hätte, wenn Ploß das irgendwo in einer Radiosendung gesagt hätte.“

„Das war eine total unkluge Reaktion von Manuela Schwesig, auch wenn sie natürlich annehmen muss, dass Äußerungen in der Sendung von Markus Lanz eine weite Verbreitung und besondere Aufmerksamkeit erfahren. Ihr Verhalten zeigt fehlende Souveränität und führt bei den Betrachtern zu einer Bestätigung. Insofern haben Talkshows auch eine negative Macht. Man kann sich als Politiker um Kopf und Kragen reden, wenn man dort auftaucht.“

„Christoph Ploß ist das letzte Mal von Markus Lanz als einer der kommenden Männer in der CDU angekündigt worden, und tatsächlich muss bei den Fernsehzuschauern genau dieser Eindruck entstehen, weil Ploß in den vergangenen Monaten häufiger dort war. Durch wenig lässt sich die eigene Bekanntheit so schnell steigern wie durch Talkshowauftritte. Nehmen wir den Virologen Hendrik Streeck. Der hatte, bevor er in den TV-Studios regelmäßig zu Gast war, auf Twitter rund 500 Follower. Heute sind es rund 150.000 …“

„Die Personen, die diesen Weg gehen, müssen aber dafür sorgen, dass sie immer wieder mit klugen Thesen nachlegen können, weil sonst andere an ihrer Stelle sind. Die Frequenz macht es offenkundig, wie wir am Fall Lauterbach sehen, und ein wenig auch die Personalität. Wer ein besonderes Aussehen, eine verständliche Art zu sprechen hat, um nur zwei Dinge zu nennen, hat es in einer Talkshow einfacher. Wir können uns eine Reihe von Politikerinnen und Politikern vorstellen, die in Talkshows niemals erfolgreich sein werden, weil sie einfach keine Präsenz haben.“

„Tatsächlich laden Talkshows Politiker vor allem aus zwei Gründen immer wieder ein: Entweder haben Sie ein wichtiges Amt. Oder sie haben etwas zu sagen, können schwierige Sachverhalte gut erklären, sind Menschen, denen man gern zuhört. Im Idealfall kommt das eine mit dem anderen zusammen, aktuell zum Beispiel im Fall von Robert Habeck. So oder so findet eine Vorauswahl über die Redaktionen der Talkshows statt, die es bestimmten Politikern auch aus der zweiten Reihe möglich macht, bekannt zu werden, und anderen genau diesen Weg versperrt. Das ist ein Einfluss auf politische Karrieren, den man nicht unterschätzen darf, und der dazu führt, dass nahezu alle Politikerinnen und Politiker die Einladung in eine Talkshow natürlich annehmen und im Notfall alles andere dafür absagen, selbst Präsidiumssitzungen der eigenen Partei.“

„Und es muss Krawall in der Bude sein. Einige Talkshows laden bewusst Personen ein, die bekannt für steile Thesen und bereit sind, diese auch zu äußern. Das ist ein Problem, weil es eine Krawallwirklichkeit spiegelt, die aber nicht der Normalfall ist.“

„Das mag für die Talkshows stimmen, in denen es vor allem darum geht, dass Politiker verschiedener Parteien mit- beziehungsweise gegeneinander diskutieren. Bei Markus Lanz zum Beispiel ist es anders, da ist ganz oft nur noch ein Politiker zu Gast, sodass die Sendung nicht selten ein politisches Einzelinterview ist, das sich als Talkshow tarnt.“

„Die Konzepte sind unterschiedlich. Was Lanz angeht, haben Sie recht, bei Anne Will ist es anders. Und grundsätzlich gilt: Wenn Sahra Wagenknecht eingeladen wird, weiß man, dass eine extremistische These kommt. Da laufen Motive mit, die unterschiedliche Bedürfnisse beim Pu­blikum bedienen. Die einen warten auf steile Aussagen, die anderen auf den weisen Professor, wieder andere auf den Journalisten, der besonders nah an einem bestimmten Politiker dran ist.“

Diskussionsrunde bei Anne Will.
Diskussionsrunde bei Anne Will. © NDR / Wolfgang Borrs | ARD

„Noch mal: Als Politiker muss man in diese Talkshows gehen, weil man darüber sehr viele Leute erreicht und allein über die bloße, möglichst wiederkehrende TV-Präsenz si­gnalisiert: Seht her, ich bin wichtig, sonst würden mich Anne Will und Markus Lanz gar nicht einladen.“

„Es hat ein wenig an Bedeutung durch die sozialen Netzwerke verloren, in denen sich die Popularität an den sogenannten Followern misst, sie haben es gerade im Zusammenhang mit Hendrik Streeck erwähnt.“

„Tendenziell mag das stimmen, insgesamt erreichen Politiker in Deutschland, anders als beispielsweise in den USA, über die Netzwerke aber bei Weitem nicht so viele Menschen wie über das Fernsehen, auch wenn sie das vielleicht gerne wollten. Christian Lindner ist da ganz vorn mit dabei und kommt auf rund 580.000 Follower, das ist noch weit entfernt von den Quoten selbst der kleineren Talkshows.“

„Interessant finde ich die Frage, inwieweit die Talkshows den Politikteilen von Magazinen und Zeitungen geschadet haben. Die Talkshow ist eine Kurzform der Information, ich schaue eine Stunde zu und bekomme einen schnellen Überblick über wichtige Themen, ohne mir diese selbst zusammensuchen zu müssen. Um dieses Spektrum zu verinnerlichen, müsste ich ganz lange die „FAZ“ lesen.“

„Das ist tatsächlich interessant, weil die Talkshows vermehrt dazu übergegangen sind, Journalisten von „FAZ“, „Spiegel“, „Zeit“ einzuladen, um von deren Expertise zu profitieren.“

„Ich finde das nicht unproblematisch. Man nennt das die Selbstreferenzialität von Medien, das heißt, die Medien berichten über sich selbst. Journalisten rutschen dann schnell in die Rolle des Experten, der sie aber gar nicht sein können und auch nicht sein wollen, und werden gewissermaßen als Schiedsrichter herangezogen.“

„Ich glaube, dass die Talkshow-Gastgeber die Journalisten als eine Art Hilfs-Moderatoren sehen, als menschliche Faktenchecker.“

„Problematisch ist die Rolle der Journalisten, weil sie in einer Talkshow – anders als in der Zeitung –, ständig zwischen Fakten und Meinung hin- und herspringen. Die Vermischung von Meinung und Bericht ist sowieso ein zunehmendes Ärgernis im Journalismus, das durch Talkshowauftritte verstärkt wird.“