Hamburg. Viele aus der russischen Community versuchen, Diskussionen über den Angriffskrieg aus dem Weg zu gehen. Auch aus Angst vor Übergriffen.
„In Deutschland sind wir die Russen. In Russland sind wir Faschisten“, sagt Edgar Leisle. Auch deswegen möchte er nicht in Nationalitäten denken. Der 43-Jährige ist in Kasachstan geboren, in Sibirien aufgewachsen, 1994 kam er nach Deutschland. Nun ist er Inhaber einer russischen Supermarktfiliale von Mix Markt in Tonndorf. Die Pralinen, Würste und Konserven, die in seinen Regalen liegen, sind plötzlich politisch. Das will Leisle nicht. „Wir sind ein russischer Supermarkt. Aber wir haben nichts mit dem Krieg zu tun.“ Sein Mantra: „Wir reden hier nicht über Politik.“
Dieses Mantra teilen viele Menschen, die als „Russen“ gesehen werden. Sie haben russische Wurzeln oder sprechen die Sprache, es sind Russlanddeutsche, Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion oder russische Staatsangehörige. Manche schweigen, um nicht anzuecken. Beispielsweise in Allermöhe. In diesem Stadtteil leben besonders viele Menschen mit ukrainischer und russischer Nationalität.
Krieg gegen die Ukraine: Bloß nicht über Politik sprechen
Ob in der Bücherhalle, in Geschäften oder in der Familie – viele versuchen, politische Diskussionen zu meiden. Es scheint zu wirken: Die Stimmung habe sich nicht verändert, heißt es von Anwohnern und in Geschäften wie dem Friseursalon „Irina“. Mitarbeiterin Elisabeth Schaffranek sagt: „Aber natürlich sind die Leute bedrückt.“ Das bestätigt auch Artem Busch. Die Ex-Frau des 28-Jährigen ist Ukrainerin, seine Mutter ist Russin: „Trotzdem gibt es zwischen den beiden keinen Streit“, sagt er. Man rede nicht über Politik. Vor allem nicht mit – meist älteren – Menschen, die nur russische Medien konsumieren. Das führe zu Konflikten.
Andere schweigen, weil sie Anfeindungen fürchten. Leisle erhielt bereits eine Nachricht, die zum deutschlandweiten Boykott von Mix Märkten aufruft. Dazu kommen Bilder von eingeschlagenen Vitrinen. „Das tut weh“, sagt der Familienvater. In Hamburg habe er kaum von Vorfällen gehört, auch in seinem Laden sei es ruhig. Neulich hätten zwei ukrainische Kunden an der Kasse Parolen gerufen. Eine ukrainische Mitarbeiterin sei daraufhin gekommen, habe mit den Kunden gesprochen und das Mantra der Stunde wiederholt: „Hier geht es nicht um Politik.“
Leisle sammelt in Tonndorf Sachspenden
Ukrainer oder Menschen mit ukrainischem Hintergrund sind nicht nur im Mix Markt angestellt, sie kaufen dort auch ein. Leisle sagt: „Wir bieten Spezialitäten aus ganz Osteuropa an. Von dort kommt der Großteil unserer Waren. Nur etwa drei Prozent stammen aus Russland.“ Vor allem Getreide beziehe er aus der Ukraine, nun drohten Lieferengpässe, beispielsweise für Buchweizen. Er ist ein wichtiger Bestandteil der Nationalküche – sowohl in Russland als auch in der Ukraine.
Leisle kennt beide Seiten: Er ist mit einer Ukrainerin verheiratet. Zusammen mit anderen Filialen hat er bereits an Spendenaktionen teilgenommen, vergangene Woche holte er Familienmitglieder seiner Frau an der Grenze ab. Nun sammelt er in Tonndorf Sachspenden, die im Zentrallager der Supermärkte in Rosengarten gesammelt und anschließend an die Grenze gefahren werden. „Das Helfen ist unsere Pflicht“, sagt er. „Aber wir müssen nicht darüber reden.“
Viele Russen von Anfeindungen betroffen
Trotz solcher Hilfsaktionen kommt es zu Anfeindungen. Mit dem Beginn des Kriegs begann der Hamburger Staatsschutz politisch motivierte Straftaten gegen russische Institutionen oder Staatsangehörige zu sammeln: Neun sind es inzwischen. Eines davon ist eine Körperverletzung. Die meisten Anfeindungen seien verbal, sagen russische Kirchengemeinden, die Deutsch-Russische Gesellschaft und die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auf Anfrage.
Laut der Deutsch-Russischen Gesellschaft häuft sich der Hass vor allem im Netz. So schätzt auch Nikolaus Haufler, Mitglied der Hamburger CDU, die Situation ein. Er ist in Russland geboren und Vorsitzender der Hamburger Union der Vertriebenen. Zusammen mit Engagierten erstellt er eine Liste mit Anfeindungen gegenüber Menschen mit russischem Hintergrund.
Kinder wegen Krieg von Mobbing betroffen
In der Stadt gebe es „keine gravierenden Vorfälle. Es handelt sich um Einzelfälle, die sind natürlich auch unschön“, sagt er. In Hamburg besorgt vor allem eines: „Wir hören öfter, dass Kinder wegen des Krieges in der Schule gehänselt werden.“ Darauf müsse man besonders achten. Das unterstreicht auch Supermarktinhaber Leisle. Sein zehnjähriger Sohn sei schon mit dem Krieg in der Ukraine auf dem Schulhof konfrontiert worden.
Um die Kinder sorgt sich auch Natalia Dergatcheva. Die gebürtige Russin ist Geschäftsführerin des Vereins Tanzbrücke Hamburg. Momentan betreut sie mit Ehrenamtlichen in ihren Vereinsräumen an der Bramfelder Straße Kinder von ukrainischen Geflüchteten. Viele Vereinsmitglieder seien russisch. Die Kinder zwischen der fünften und der siebten Klasse berichteten über Mobbing in der Schule. „In solchen Fällen müssen die Lehrer einschreiten“, fordert sie. In ihrem Verein, der auch viele ukrainische Mitglieder habe, sei die Stimmung „stark polarisiert“. Auch sie findet, dass in den Vereinsräumen Politik nichts zu suchen hat. „Ich bitte darum, über Politik woanders zu sprechen. Wir sind für das Tanzen da.“
Krieg gegen die Ukraine: „Wir reden nicht über Politik"
So hält es auch der Pater der Russischen Kirche des Heilige Prokopij in Stellingen. Erzpriester Joseph Wowniuk sagt: „Wir reden nicht über Politik. Wir reden über Geistliches.“ In seiner internationalen Gemeinde kämen Ukrainer und Russen friedlich zusammen. Anfeindungen beträfen seine Gemeinde nicht.
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Auch wenn es sich bei den Angriffen um Einzelfälle handelt: Jeder ist einer zu viel. Die Sorge wächst. Auch über das künftige Zusammenleben in Hamburg. Leisle erinnert sich an seine Ankunft in Deutschland 1994. „Seitdem haben wir uns weiterentwickelt, uns etwas aufgebaut. Aber nun habe ich das Gefühl, dieser Krieg wirft uns wieder 30 Jahre zurück.“