Hamburg. Dr. Jochen Thiele schult Kollegen zwischen Lindau und Sylt für den Notfall. Piloten üben schließlich seit Jahren seltene Manöver.
Kreißsaal, 4 Uhr nachts: Die junge Mutter, die vor wenigen Minuten ihr Baby entbunden hat, blutet unaufhaltsam. Unter Zeitdruck und unter großer eigener Anspannung versucht das Team aus Hebammen und Ärzten alles, um diese Blutung zu stoppen. Es gelingt – doch natürlich passieren währenddessen auch kleinere Fehler. Im echten Leben. Und im Training.
„Und genau diese Fehlerchen analysieren wir im Anschluss an eine Übung, um auf den Ernstfall perfekt vorbereitet zu sein“, sagt Dr. Jochen Thiele. Der Anästhesist bereitet als Ärztlicher Leiter des Instituts für Notfallmedizin (IfN), das zur Asklepios-Gruppe gehört und an das Klinikum in Harburg angeschlossen ist, mit seinen sieben Mitarbeitern jedes Jahr mehr als 2500 Ärztekollegen und medizinisches Personal auf Notfälle vor. „In den Schockräumen zwischen Lindau und Sylt simulieren wir extreme Situationen, die zum Glück selten vorkommen, sich aber ereignen können.“
Institut für Notfallmedizin: So übt medizinisches Personal den Ernstfall
Abgeschaut hat man sich das in der Luftfahrt, wo Piloten bereits seit den 1970er-Jahren regelmäßig alle drei bis sechs Monate im Simulator geschult werden. „Auch wenn ein erfahrener Pilot schon 4000-mal Frankfurt angeflogen ist, werden bei der Landung Fehler passieren. Das ist nicht schlimm, aber man muss das wissen und wachsam bleiben. Das gilt im Cockpit, aber natürlich ebenso auch im Rettungswagen oder im Klinikalltag“, sagt Dr. Jochen Thiele. Die theoretischen Kenntnisse seien aus dem Medizinstudium vorhanden, die praktische Anwendung sei auch geübt. „Die Hochleistung in der Medizin ist es dann aber, im Team unter großem Stress sicher und gut zu funktionieren.“ Es sei selten die Technik, die versage. „Der Faktor Mensch ist fehleranfällig.“
Dazu müsse man sich verdeutlichen, dass jeder von uns statistisch alle sieben Minuten einen Fehler mache. „Das sind natürlich dann Bagatellen. Man lässt zum Beispiel die Brötchentüte beim Bäcker auf dem Tresen liegen oder man kippt aus Versehen ein Glas Wasser um. Jetzt ist die Frage: Was geschieht in einer hektischen Ausnahmesituation? Da passieren dann nämlich schon alle zwei bis drei Minuten kleine Fehlerchen.“
Im Notfall: Was sind die häufigsten Fehlerquellen?
Genau dies übe er dann mit eingespielten Teams, die in der Regel aus sechs bis zehn Ärzten und Pflegern bestehen. Die Situationen, die mit Videokameras aufgezeichnet werden, würden möglichst lebensecht inszeniert. „Im Kreißsaal arbeiten wir zum Beispiel mit einer Puppe, die atmen, sprechen, aber eben auch stark bluten kann.“ In die Szene selbst greife niemand ein, erst in der etwa 45-minütigen Nachbesprechung gehe es in die Analyse.
Doch was sind denn nun die häufigsten Fehlerquellen? „Kommunikation ist die Fehlerquelle Nummer eins“, sagt der verheiratete Vater von zwei kleinen Kindern. Beispiel: Im Kreißsaal sagt der behandelnde Arzt: „Ich brauche jetzt bitte Oxytocin!“ Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm das sehr zeitnah gereicht werde, liege dann unter Umständen nur bei 50 Prozent. „Warum? Er hat niemanden direkt angesprochen. Jeder verlässt sich also auf den Kollegen.“ Besser und effizienter sei es also, sich einen direkten Ansprechpartner zu suchen. „Man würde also nach dem Training besprechen, dass der Arzt beim nächsten Mal sagt: „Hebamme Antje, haben Sie kurz Zeit? Dann holen Sie mir bitte drei Einheiten Oxytocin.“ Perfekt im Sinne einer sogenannten „geschlossenen Kommunikation“ antworte die Hebamme dann: „Ja, ich hole jetzt drei Einheiten Oxytocin.“
Fehler minimieren: „Wir üben das Prinzip ,speak up‘“
Das wirke zwar auf Außenstehende redundant, verhindere aber Fehler – zum Beispiel auch, dass eine falsche Dosis oder gar ein ganz anderes Medikament gereicht würden. „Passiert selten, kann aber vorkommen.“
Diese geschlossene Kommunikation werde daher überall dort eingesetzt, wo es brenzlig werden könne: „Beim Militär, im Atomkraftwerk, im Cockpit, aber eben auch im OP oder beim Notfalleinsatz.“
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Eine weitere Fragestellung, die leider oft nicht final geklärt sei, sei die Teamführung. „Wer ist eigentlich der Chef im Ring? Im Rettungseinsatz ist das der Notarzt, klar. Aber im Kreißsaal beispielsweise ist es weniger eindeutig: Ist es der schon anwesende Facharzt oder doch der Oberarzt, der dazukommt? Oder vielleicht die erfahrene Hebamme, die den Geburtsprozess schon seit Stunden eng begleitet?“ Wichtig sei, dass grundsätzlich nicht nur nach Hierarchie vorgegangen werde. „Wir üben das Prinzip ,speak up‘: Das bedeutet, dass jede und jeder sich trauen sollte, auf Fehler hinzuweisen oder zu sagen, wenn er ein ungutes Gefühl hat.“
Ziel: Die Teamleistung zu perfektionieren
Mindestens einmal pro Jahr sollten Mediziner und medizinisches Personal den Notfall üben, sagt Dr. Jochen Thiele. „Sonst ist das wie beim Erste-Hilfe-Kursus, den man kurz vor der Führerscheinprüfung absolviert und dann nie wieder.“ Selbstverständlich funktionierten die Teams auch ohne Training. „Aber es geht darum, die Leistung und damit auch die Sicherheit für die Patienten zu optimieren.“