Hamburg. Der Angriff Russlands löst in Familien große Ängste aus. Wie sollten sich Eltern verhalten? Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort hat Rat.

Erst bereits zwei lange Jahre der Pandemie, nun gleichzeitig auch noch ein Krieg in Europa – die Psyche der kleinsten Hamburger ist großer Belastung ausgesetzt. Sollten Eltern mit ihren Kindern über die Ereignisse in der Ukraine reden – und wenn ja, wie? Darüber sprach das Abendblatt mit dem renommierten Kinderpsychiater Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort.

Sie sind Experte für menschliche Ängste – aber die Geschehnisse in der Ukraine sind schwer zu begreifen. Was macht die Situation mit Ihnen?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Meine Gefühlslage ist sehr ambivalent. Einerseits bin ich etwa bei kindlichen Opfern massiver Traumatisierung mittelbar mit traumatischem Erleben konfrontiert und geübt darin, es selbst zu verarbeiten. Andererseits beunruhigt und erschrickt mich die derzeitige Lage enorm. Wie konnten wir alle die psychopathologische Seite dieses Despoten in Moskau so unterschätzen? Diese Frage treibt mich stark um. Auch wie es einen Ausweg geben kann, wenn es keine Bereitschaft dazu gibt, Frieden durch Verzicht aufrechtzuerhalten.

Kinder und Jugendliche haben darauf erst recht keine Antworten. Viele Eltern fragen sich derzeit: Soll ich den Krieg selbst überhaupt ansprechen? Oder schütze ich mein Kind besser, in dem ich es ausblende?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Kinder und Jugendliche sind feinfühlig genug, schnell zu wissen, wenn ihre Eltern eigene Ängste zu verheimlichen versuchen. Und spätestens ab dem Schulalter geht so ein beherrschendes Thema nie ganz an Kindern vorbei. Es ist immer besser, aktiv anzusprechen, was in der Welt ist. Es ist wichtig, Kindern das zuzumuten und auch zuzutrauen.

Wie gelingt das?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Eine nahe liegende Frage von Kindern ist ja derzeit, wer dieser Putin überhaupt ist. Eine gute Antwort darauf könnte lauten, dass das ein Mann ist, der die Grenzen der Länder auf der Welt nicht akzeptiert und mit allen Mitteln verändern will. Wenn dann die Frage kommt, warum er das denn will, helfen auch Verweise: Jedes Kind kennt Situationen, in denen man sich um etwas streitet, jemand es nicht abgeben oder unbedingt haben will. Und dieser Mann ist dabei eben besonders rücksichtlos.

Aus Büchern und Kinderserien kennen Kinder auch Bösewichte. Ist es ratsam, Putin als solchen zu betiteln?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Ich würde hier raten, auch im Umgang mit Kindern nicht zu pauschal zu werden, sondern zu differenzieren. Natürlich ist in diesem Fall sehr klar, wer der Aggressor ist. Es gibt aber auch die Seite, was der Westen ihm erlaubt und hingenommen hat. Und auch diese Dimensionen können Kinder verstehen.

Sollten Eltern ihre eigenen Ängste und Sorgen offenlegen?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Unbedingt, aber nicht unbegrenzt. Der beste Weg in der Kommunikation ist einer, der die Geschehnisse nicht bagatellisiert, aber eben auch auf keinen Fall unnötige Angst schürt oder weckt. Ich persönlich denke etwa, dass ein dritter Weltkrieg aktuell nicht zu befürchten ist. Es kann sein, dass ich falsch liege – wer mit Kindern und auch Jugendlichen spricht, sollte aber abwägen, wann es Zeit ist, um über weitere mögliche Szenarien zu sprechen. Das gilt auch für die Frage nach der Detailtiefe – etwa ob ich meinem Kind erkläre, was Atombomben sind und welche Wirkung sie haben.

Ab wann sind Kinder alt genug, mit ihnen über komplexere Themen wie das Verhältnis von Staaten und geschichtliche Zusammenhänge zu sprechen?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Auch wenn man vereinfacht, sollten die Gespräche immer auf Augenhöhe sein. Sobald die Kinder oder Jugendlichen bereits eine weiterführende Schule besuchen, kann man ihnen dann Stück für Stück auch mehr Komplexität in die Gespräche bringen. Ein Aspekt, den ich wichtig finde, ist dabei auch die Männlichkeit des Themas. Es sind weit überwiegend Männer, die autokratisch über Staaten herrschen. Und Männer, die in diesem Krieg Frauen und Kinder töten.

Darüber zu sprechen, dürfte auch zu Fragen der Kinder und Jugendlichen an ihre Väter führen.

Prof. Michael Schulte-Markwort: Es ist wichtig, dass man die Kinder miteinbezieht und auch klar macht, dass man zusammenhält. Das bedeutet am Beispiel der Väter nicht, dass man zwingend selbst spenden oder anderweitig aktiv helfen muss. Es kann ein Anfang sein, den Kindern zu versprechen, stärker auf martialische Redewendungen zu achten, die wir alle im Sprachgebrauch haben. Genauso in Ordnung und angebracht ist aber auch, dem Kind zu sagen: Wir fahren jetzt trotz der Situation in der Ukraine als Familie in den Urlaub, weil es uns guttut.

In einigen Schulen werden die Eltern bei Faschingsfeiern gebeten, auf alle kriegerischen Verkleidungen zu verzichten. Ist das richtig?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Ich kann das als Geste nachvollziehen und möchte es nicht kritisieren. Es gibt aber auch keinen Grund, im Alltag von Kindern und Jugendlichen überzureagieren. Auch aggressive Rollen einzunehmen gehört zum Kinderspiel, wie Auseinandersetzungen zur menschlichen Natur gehören. Wir sind nicht so friedfertig, wie wir uns das selbst manchmal gern glauben machen möchten. Es hatte seine Gründe, dass sich schon Sigmund Freud in späteren Lebensjahren verstärkt dem Thanatos, einem Todestrieb, widmete. Auch Freud wurde dabei durch das Erleben geprägt, wozu Menschen fähig sind und wie kriegerisch sie sein können.

Woran merken Eltern, dass ihre Kinder stark von den Nachrichten aus der Ukraine belastet sind?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Das Augenmerk sollte hier zuerst recht plötzlichen Veränderungen gelten. Was spielt mein Kind, was für Bilder malt es? Hat es auf einmal Mühe, einzuschlafen? Das sind wichtige Indikatoren. Meine Erfahrung ist aber, dass Eltern ihre Kinder sehr gut kennen und einzuschätzen wissen. Sie sollten deshalb auch ihrem Gefühl vertrauen.

Kinder und Jugendliche waren bereits durch die zwei Jahre der Corona-Pandemie belastet. Bedeutet der Krieg in der Ukraine auch eine erhöhte Gefahr für weitere seelische Schäden?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Ich habe auch in dem Kontext von Corona schon mehrfach betont, dass Kinder sehr widerstandsfähig sind und ich keine großen Langzeitfolgen befürchte. Dasselbe Vertrauen habe ich auch in ihre Fähigkeit, zwischen Pandemie und Krieg als Ereignisse zu unterscheiden und daraus keine generalisierte Angst zu entwickeln. Wenn es jemanden gibt, der sehr anpassungsfähig ist, dann ein Kind.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn Kinder und Jugendliche selbst den Ukrainern helfen wollen?

Prof. Michael Schulte-Markwort: Begleiten und unterstützen Sie die Kinder und Jugendlichen unbedingt dabei. Kinder können Briefe an alle schreiben – auch an den russischen Präsidenten, wenn sie das wollen. Eltern helfen dabei, in dem sie das ernst nehmen und etwa die Adresse der russischen Botschaft heraussuchen, damit der Brief auch ankommt.