Hamburg. Im Winter 1947 werden vier Leichen in Hamburg in den Trümmern gefunden – alle nackt, alle ermordet. Wie der Täter gesucht wurde.

Nur anderthalb Jahre nach Kriegsende trifft der bitterkalte Winter die leidgeprüfte Hamburger Bevölkerung wie ein weiterer Keulenschlag. Zusammen mit dem Hunger, der Wohnungsnot und dem ganzen anderen Elend droht der arktische Januar 1947 das letzte bisschen Hoffnung aus Hunderttausenden Seelen zu frieren. Ein gleichermaßen skrupelloser wie raffinierter Serienmörder, der sogar vor Kindern nicht Halt macht, fehlt da noch. Die halbe Stadt liegt in Trümmern und in diesem Hungerwinter mit Temperaturen von bis zu minus 20 Grad oft auch die Moral. Es gibt zu wenig Essen, zu wenig Wohnraum und Heizmittel, dafür Leid und Armut im Überfluss. Wer überleben will, muss sich anpassen. Und wer sich anpasst, bricht mitunter aus purer Not die Gesetze. Ein Beispiel: 17.000 Kohlendiebe werden im Februar 1947 inhaftiert; im Dezember 1946 waren es nur 1000. Dabei wollen alle doch nur durchkommen. Irgendwie.

Hamburg gibt in dieser Zeit ein trostloses, entmutigendes Bild ab. Überall Ruinen und ausgebombte Gebäude, überall lauern Gefahren. Die Polizei rät den Hanseaten sogar, nachts in der Mitte der Fahrbahn zu laufen, um nicht aus den Kellerlöchern heraus angesprungen zu werden. Ganz besonders fürchten sich die Menschen vor einem dunklen Schatten, der in den Trümmern umhergeht – unsichtbar wie ein Phantom und zu 100 Prozent tödlich. „Trümmermörder“, heißt der unbekannte Serientäter, weil er die Leichen seiner Opfer in den Bombenruinen der Stadt ablegt. Und er ist schnell: Die Toten – zwei Frauen, ein Kind, ein Mann – werden in nur drei Wochen gefunden. Danach endet die Serie so plötzlich wie sie begonnen hat. Die Trümmermorde stellen die Hamburger Polizei vor das vielleicht schwerste Rätsel ihrer Geschichte. So gut wie nichts ist in diesem Fall gewiss: nicht der Tatort, nicht die Identität der Opfer, erst Recht nicht das Motiv des Täters. Nur eine traurige Gewissheit bleibt, 75 Jahre nach den Morden: Der Täter hat nie für seine Taten bezahlen müssen.

Trümmermorde: Die Polizei betreibt riesigen Aufwand – vergebens

Dabei kann sich die Aufklärungsbilanz der Hamburger Polizei bei Morddelikten damals sehen lassen. 1949 löst sie 23 der 24 bekannt gewordenen Morde. Obgleich personell und technisch schlecht ausgestattet, unternimmt sie gewaltige Anstrengungen, um auch die „Trümmermorde“ aufzuklären und den Täter zu fassen. Doch sie stößt an ihre Grenzen.

Alles beginnt am 20. Januar 1947. Spielende Kinder stolpern in einem Trümmerkeller an der Baustraße, unweit des S-Bahnhofs Landwehr, über eine Leiche. Es handelt sich um eine nackte junge Frau, 1,60 Meter groß, schlank, mittelblondes Haar, blaue Augen. Wahrscheinlich hat der Täter sie mit einer Schnur erdrosselt. An ihrem Hals stellen die Rechtsmediziner eine drei Millimeter dünne Linie fest, ihr Alter bestimmen sie mit 18 bis 22 Jahren. Weitere Anhaltspunkte gibt es nicht. Wer ist die junge Frau?

Fünf Tage später wurde die nächste Leiche gefunden

Fünf Tage später: ein Ruinengrundstück an der Lappenbergsallee in Eimsbüttel. Schrottsammler stoßen in einem Trümmerflur auf die Leiche eines 65 bis 70 Jahre alten Mannes. Auch er ist unbekleidet, erdrosselt – und völlig unbekannt. So wie das sechs bis acht Jahre alte Mädchen, das am 1. Februar tot im Fahrstuhlschacht einer zerbombten, ehemaligen Matratzenfabrik an der Billstraße entdeckt wird. Und wie die etwa 30 bis 35 Jahre alte Frau, deren Leiche am 12. Februar nicht weit vom Bahnhof Berliner Tor in den Trümmern an der Anckelmannstraße liegt. Alle Opfer sind nackt und wurden erdrosselt - was verbindet sie sonst? Ist das Motiv wirklich Habgier, wie die Ermittler zunächst vermuten? Was sie nicht ahnen: Eine Antwort auf diese und viele weitere Fragen werden sie nie bekommen.

Damals können die Beamten nur mutmaßen. Und diese Vermutungen stützen sich auf kleine, unscheinbare Spuren, die an oder bei den Opfern gesichert werden, etwa ein Gehstock aus Bambus in der Nähe des Mannes. Auffällig sind die Hände der Opfer – zart und frei von Schwielen. „Keine Arbeitshände“, notieren die Ermittler. Überhaupt machen die Opfer einen äußerst gepflegten Eindruck, es gibt nur kleine Makel.

Leichen hatten eine Blinddarmnarbe und eine Zahnprotese

Die junge Frau hat eine Blinddarmnarbe, die ältere eine Zahnprothese. Abbildungen der Zahnprothese der ermordeten 35-Jährigen schicken die Beamten an die Berufsvereinigungen der Zahnärzte und Dentisten. Doch die Ermittlungen führen in eine Sackgasse – kein Mediziner kann sich daran erinnern, eine derartige Prothese angefertigt zu haben. Auch die Spur „Blinddarmnarbe“ versickert, von den dazu befragten Chirurgen aus Hamburg weiß niemand etwas. Mehr als 120 Menschen aus dem Reichsgebiet reisen in die Hansestadt, um die unbekannten Toten zu identifizieren. Doch auf einen Treffer warten die Beamten vergeblich, sie kommen nicht voran.

Gleichzeitig steigt in der Bevölkerung die Furcht vor dem mysteriösen Killer, der den Kriminalisten scheinbar mühelos ein Schnippchen schlägt. Es steht ja noch nicht einmal fest, wer seine Opfer sind. Deren Identität aber ist der Schlüssel, um den Fall aufzuklären. Lässt sich so einer überhaupt stoppen?

Die Tatorte sprachen eine klare Sprache

Immerhin: In Hinblick auf den Tatort sprechen die Spuren eine deutliche Sprache. Dass die Opfer nicht dort getötet worden waren, wo die Zeugen sie entdeckt hatten, erkennen die Ermittler unter anderem daran, dass auf einigen spitzen Trümmersteinen Schleif-, aber keine Kampfspuren zu sehen sind. Später gehen sie davon aus, dass die Vier vor ihrem gewaltsamen Tod nicht mal in Hamburg gelebt hatten. Niemand, auf den die Beschreibung passt, wird in der Hansestadt vermisst. Nicht einmal das getötete kleine Mädchen.

Bei dem Versuch, die Identität der Opfer zu enthüllen, treten die Ermittler unter der Ägide von Oberkommissar Ingwersen auf der Stelle. Der Ansatz, in allen vier Besatzungszonen mehr als 50.000 Plakate mit Bildern der Ermordeten aufzuhängen, ist ambitioniert - und erfolglos. Man sieht die Plakate überall. Auf den Bahnhöfen und an zahllosen Litfaßsäulen prangt die Frage: „Wer kennt die hier abgebildeten Personen?“ Einmal keimt Hoffnung auf, als sich eine Zimmervermieterin das männliche Opfer zeigen lässt. Das sei ihr Mieter, sagt sie den Beamten. Endlich, ein Treffer! Doch Fehlanzeige. Der vermeintlich Getötete erscheint wenige Tage später putzmunter bei der Hauswirtin: Er war beim Besuch von Verwandten in Flensburg krank geworden und musste seine Rückreise hinausschieben.

Mordkommission setzte hohe Belohnung aus

Parallel setzen die Ermittler alle Hebel in Bewegung, um den Täter zu fassen. Die Mordkommission spricht von der „Bestie in Menschengestalt“ und setzt eine Belohnung von zunächst 5000 Reichsmark plus 1000 Zigaretten (!) und dann 10.000 Reichsmark aus. Ingwersen weist seine Untergebenen an, Schwarzhändler und Tauschläden auf verdächtige Ware zu durchsuchen und die von Flüchtlingen gefüllten Wartesäle der Bahnhöfe zu beschatten. Ein Heer von Beamten durchkämmt die Ausgabestellen für Lebensmittelkarten, die damals überlebenswichtig sind. Mehr als 1000 Menschen, die nicht polizeilich gemeldet sind, werden kontrolliert. Am meisten interessieren die Ermittler solche, die ihre Karte nicht abgeholt haben. Denn wer darauf verzichtet in diesen bitteren Zeiten, dem ist vermutlich etwas zugestoßen.

Außerdem werden alle deutschen Standesämter gebeten, ihre Sterbeurkunden durchzusehen. Eine These der Polizei lautet, dass es sich bei dem Täter um einen Erbschleicher handeln könnte, der einen ganzen Familienverband ausgelöscht hat, um sich in den Besitz des Erbes zu bringen. Dass die Opfer verwandt sind, lässt sich nicht belegen. Und die DNA-Methode gibt es noch nicht.

Überführter Massenmörder schaltete sich ein

Rudolph Pleil brüstete sich mit den Morden, doch er war es nicht.
Rudolph Pleil brüstete sich mit den Morden, doch er war es nicht. © Staatsarchiv Hamburg

Schließlich schaltet sich mit Rudolf Pleil 1949 auch noch ein überführter Massenmörder in den Fall ein. Pleil prahlt damit, „der größte Totmacher Deutschlands“ zu sein. Mindestens zehn Frauen hat er brutal ermordet, teils mit Komplizen. Die meisten hat er missbraucht. Einem Wächter gesteht er im Celler Zuchthaus, er sei es, er sei der gesuchte Trümmermörder. Die Hamburger Polizei, die keine noch so vage Spur auslassen will, bringt ihn in die Hansestadt und dann zum Berliner Tor. Er soll sie zum Fundort des vierten und letzten Opfers an der nicht weit entfernten Anckelmannstraße führen. Dabei entpuppt er sich als Aufschneider. Pleil sagt: „Ich bedaure, in diesen Fällen doch nicht der Totmacher zu sein.“

Die Ermittler gehen davon aus, dass die Opfer einer durchreisenden, wohlhabenden Familie angehören. Als 20 Jahre später die Morde verjähren, was damals noch möglich ist, spricht das Abendblatt mit Hans Lühr, dem Chef der „Inspektion Tötungsdelikte“. Er war 1947 auch an den Trümmermörder-Ermittlungen beteiligt. „Ich glaube immer mehr“, sagt Lühr, „dass es sich bei den Ermordeten um eine Familie handelte und dass der Mörder das fünfte Glied dieser Kette ist.“ Eine Familie, ausgelöscht. Bis heute weiß niemand, wer die Opfer waren; ihr Tod ist nie gesühnt worden. Was für eine schlimme Zeit das doch war.

Die Akten über die Trümmermorde sind nach dem Schutzfristende 1984 im Hamburger Staatsarchiv öffentlich zugänglich