Hamburg. Verkehrssenator Anjes Tjarks über Hindernisse bei der Mobilitätswende, die Zukunft der Innenstadt und den Köhlbrandtunnel.

Sie sind nicht nur Schwestern, sie sind Zwillinge: Wie sehr Verkehrspolitik und Stadtentwicklung miteinander verbunden sind, lehrt schon die Geschichte: Wo die Alster in die Elbe mündet und sich Fernwege trafen, liegt die Keimzelle der Stadt. Mit dem Verkehr ist Hamburg gewachsen, mitunter gewuchert. Die autogerechte Stadt hat Wunden geschlagen, nun werden Weichen neu gestellt. Einer dieser Weichensteller ist der grüne Verkehrssenator Anjes Tjarks. Der passionierte Radfahrer ist Hoffnungsträger für die Mobilitätswende, für die PS-Fraktion eher ein Gottseibeiuns.

Im Podcast „Was wird aus Hamburg“ versucht der 41-Jährige gleich einen Punkt abzuräumen: Er stehe nicht nur für die fahrradgerechte, sondern eine „menschengerechte Stadt“. „Es gibt ein menschliches Maß“, sagt Tjarks und beschreibt die These mit einem Beispiel: „Fast jeder geht zu Fuß und erfasst so den Raum, vor allem die Erdgeschosse. Deswegen ist diese Ebene so wichtig für uns.“ Discounter, die ihre Fenster mit Folien abkleben, würden deshalb als unwirtliche Orte wahrgenommen. Erst wenn Menschen sichtbar werden, wird der Ort lebendig. „Diese Idee kann man weiterführen zu Straßen, Radwegen, Plätzen.“

Verkehr Hamburg: Anjes Tjarks will „menschengerechte Stadt“ schaffen

Ihm geht es um Begegnung, um soziale Bezüge. „Ich hoffe sehr stark, dass die Idee einer menschengerechten Stadt als Gegenmodell zur autogerechten Stadt Oberhand gewinnt. Das ist viel mehr als nur Fahrradpolitik.“ Gleichermaßen gehe es um eine fußgängerfreundliche Stadt, um einen funktionierenden Nahverkehr, ein gutes Eisenbahnsystem. Und um den Autoverkehr: „Das betrifft den Erhalt und die Sanierung der öffentlichen Infrastruktur, denn ich bin auch Infrastruktur-Senator dieser Stadt.“ Der „Fahrradsenator“ verweist darauf, dass der Senat im Jahr 2020 194 Kilometer Straße saniert hat, „so viel wie niemals zuvor“.

Aber so recht zufrieden ist kaum einer in der Hansestadt, Klagen kommen von allen Verkehrsteilnehmern: Fußgänger etwa fühlen sich übersehen – obwohl sie in den Statistiken (dem sogenannten Modal Split) vorne laufen: Mehr als ein Viertel aller Wege legen die Hamburger zu Fuß zurück. Seit Kurzem gibt es in den Bezirken sogenannte „Fußverkehrsbeauftragte“, was nicht nur das unfreiwillig Komische am Genderdeutsch zeigt, sondern auch die wachsende Bedeutung von Fußgängern. „Da geht noch mehr“, sagt Tjarks.

Allerdings passiert auch mehr, als viele wahrnehmen – etwa am Jungfernstieg. „Alle reden darüber, dass dort keine Autos mehr fahren. Übersehen wird, dass wir zuvor einen Radweg hatten, wo Radfahrer an der Wasserseite Slalom fahren mussten und Fußgänger Angst hatten, angefahren zu werden. Diesen Radweg haben wir auf die Straße verlegt.“ Auch am Alsterufer habe sich die Situation so verbessert. „Wenn wir jetzt sogenannte Nebenflächen – sprich die Rad- und Fußwege – sanieren, werden Fußwege immer mitgedacht.“ Es sei oft schwieriger, Rad- und Fußwege als Straßen zu sanieren. „Dort haben wir fast immer zu wenig Platz, sodass häufig ein aufwendiges Verfahren nötig wird.“

Mobilitätswende soll den Verkehr flüssiger machen

Die Steigerung des Radverkehrs ist eines der ambitioniertesten Ziele des Senats: 2017 lag der Anteil der Radler erst bei 15 Prozent und soll bis 2030 auf 25 bis 30 Prozent steigen. Tjarks glaubt, dass es gelingen kann. „Daran werden wir hart arbeiten. Vor allem müssen wir Radwege bauen – das ist die Grundvoraussetzung, um Menschen auf das Fahrrad zu bekommen.“ Er kennt als Radler die Pro­bleme: Zu oft endeten Radwege im Nichts. „Momentan haben wir etwa zwischen Altona und der Innenstadt keinen einzigen durchgängig befahrbaren Radweg. Das muss man sich mal vorstellen, und das wollen wir ändern.“ Im vergangenen Jahr blieb der Senat allerdings mit 56 Kilometern hinter dem selbst gesteckten Ziel von 60 Kilometern zurück.

In den kommenden Jahren will Tjarks bessere Zahlen liefern. Zudem sei wichtig, „dass wir Radwege bauen, auf denen sich Menschen sicher und wohl fühlen. Daran hapere es bislang. „Deswegen müssen wir mehr Radwege wie an der Esplanade bauen.“ Die Offensive für den Radverkehr betreffe alle Straßen. „Ehrlicherweise findet man in einer Fahrradstadt sowohl an Hauptverkehrs- als auch an Nebenstraßen einen vernünftigen Radweg.“ Oft stehe die deutsche Straßenverkehrsordnung im Weg, etwa weil Radwege in Tempo-30-Zonen nicht erlaubt sind.

„Die Idee der Verkehrsvermeidung kann funktionieren“

Der promovierte Politikwissenschaftler warnt vor überzogenen Erwartungen: „Wir können nicht über Nacht aufholen, was zuvor in Jahrzehnten versäumt worden ist.“ Ähnlich ambitioniert sind die Ziele im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), der bis 2030 ebenfalls ein knappes Drittel der Wege stemmen soll – beim Modal Split von 2017 waren es erst 22 Prozent. Die Pandemie hat den Umstieg auf Busse und Bahn dramatisch ausgebremst, die Zahl der Fahrgäste sank 2020 um 30 bis 40 Prozent. Der Verkehr ging 2021 insgesamt zurück – bei Rad und Auto lag das Minus bei acht Prozent.

Darin kann eine Chance liegen. Tjarks treibt ein Thema um, das in der Stadtentwicklung als 15-Minuten-Stadt seit Längerem verfolgt wird: die Metropole der kurzen Wege, wo sich vieles fußläufig erreichen lässt. „Die Idee der Verkehrsvermeidung kann funktionieren“, sagt der gebürtige Barmbeker und verweist aufs Homeoffice: „Das wird nicht wieder komplett zurückgedreht werden.“ Zugleich aber werde Corona auch nicht alles verändern: „Die Pandemie spielt für den U-Bahn-Bau keine Rolle, weil wir in Dimensionen von 100 Jahren denken.“ Tjarks wirbt für ein besseres Angebot. „Es ist verständlich, dass Leute, die mit dem ÖPNV eine Stunde benötigen und im Auto 20 Minuten, sich nicht in den Bus setzen.“ Deshalb werde das Nahverkehrsangebot nun ausgeweitet und digitalisiert.

Deutschlandweit 15 Millionen E-Autos für Erreichen des Klimaziels nötig

Das allein dürfte nicht genügen, die Ziele zu erreichen. „Natürlich werden wir auch gucken müssen, wie das eigene Fahrzeug als zentrales Verkehrsmittel zurückgedrängt werden kann.“ Im Modal Split kam das Auto bei allen Wegen 2008 auf 39 und 2017 noch auf 36 Prozent – dieser Anteil soll mittelfristig auf höchstens 20 Prozent sinken. „Das ist auch im europäischen Vergleich ambitioniert“, sagt Tjarks. „Aber es ist wichtig, ein ambitioniertes Ziel zu definieren. Wir müssen die Fahrleistung von Verbrennern sub­stanziell reduzieren, sonst werden wir unsere Klimaziele nicht erreichen. Das bekommen wir nur mit der Antriebswende hin.“

Derzeit liegt der Anteil des Verkehrs am CO2-Ausstoß der Stadt bei 28,3 Prozent – und dürfte zunächst nur langsam sinken. Für das Erreichen des Klimaziels sind deutschlandweit 15 Millionen Elektroautos nötig. „Wir brauchen massive Investitionen in die Ladesäulen-Infrastruktur. Wir müssen zugleich aber schauen, dass wir jetzt nicht alle Seitenstreifen unserer Stadt zu einer Tankstelle machen.“ Tjarks stellt sich – auch in Zusammenarbeit mit traditionellen Tankstellenbetreibern – größere Schnellladestationen vor, wo sich das Laden dem traditionellen Tanken angleicht.

Verkehr Hamburg: „23 Stunden am Tag steht ein Auto herum“

„In der Mobilitätswende stecken noch ein paar mehr Ziele“, macht der Politiker klar, der vor seinem Wechsel ins Verkehrsressort Fraktionschef der Grünen in der Bürgerschaft war. „Wir wollen einen besseren Verkehrsfluss. Bis 2019 ist die Fahrleistung in Hamburg aller Verkehrsträger jedes Jahr angestiegen, weil rund 15.000 Menschen zusätzlich in die Stadt gezogen sind. Alle wollen mobil sein.“ Weil die Flächen aber nicht mitwüchsen, werde die Mobilitätswende essenziell. Tjarks nennt weitere Argumente: Eine bessere Luftqualität, ein besserer Lärmschutz. Eine bessere Lebensqualität: „Wie viel Platz gönnen wir eigentlich unseren Kindern?“, fragt der Vater von drei Kindern.

Tjarks erwartet, dass viele mittelfristig auf ihr Auto verzichten werden: „Die Politik hat seit dem Zweiten Weltkrieg das Auto massiv gefördert, ob beim Diesel-Privileg, der Pendlerpauschale oder dem Straßenbau.“ Nun werde diese Bevorzugung beendet. „Wir erleben zwar, dass die Zahl der Pkw noch steigt, aber deren Fahrleistung sinkt seit Jahren. 23 Stunden am Tag steht ein Auto herum.“

Mehr Wohnraum soll die Hamburger Innenstadt wiederbeleben

Tjarks favorisiert eine Politik, die lockt, statt zu zwingen. So gehe es nicht darum, Parkplätze zu reduzieren, sondern alternative Angebote zu schaffen. So haben Radler und Fußgänger am Jungfernstieg oder dem Ballindamm mehr Platz bekommen. „Wir wollen, dass die Autos in Parkhäusern parken. Wenn in den Straßen Parkplätze verschwinden, entsteht ein anderes Flair, fällt der Blick auf die freie Alster. Dagegen hat niemand was.“

Diese Politik richte sich nicht gegen den Handel. „Wir haben einen Strukturwandel in der Innenstadt, den alle Innenstädte dieser Welt momentan durchlaufen und wo wir auch handeln müssen. Der Trend zum Onlinehandel ist allgegenwärtig. Ich glaube aber, dass diese Frage unabhängig von der der Verkehrspolitik ist. Das ist eher eine Frage der Stadtentwicklungspolitik.“ Tjarks schlägt zur Belebung der Innenstadt deutlich mehr Wohnraum vor. „Und es ist von entscheidender Bedeutung, dass sie gut erreichbar ist.“ Auch aus diesem Grund baut Hamburg neue U- und S-Bahnen und ertüchtigt die Fernbahn.

Deutschlandtakt birgt Chancen für Hamburg

„Wir brauchen eine viel bessere nationale und internationale Verkehrsanbindung. 2029 kommt die Fehmarnbelt-Querung: Bislang benötigen wir 4:45 Stunden nach Kopenhagen, in Zukunft weniger als 2:45 Stunden.“ Damit kämen mehr Menschen nach Hamburg. „Wir müssen auch den Regionalverkehr mit dem Umland anders organisieren. Wenn wir die Mobilitätswende wirklich wollen, benötigen wir Alternativen für rund 360.000 Einpendler“, so Tjarks. Das ist mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als der Fahrradverkehr.“

Konkret heißt das: Hamburg benötigt einen weiteren Tunnel für die Verbindungsbahn zwischen Altona und Hauptbahnhof, um die Kapazität des notorisch überlasteten Hauptbahnhofs zu erhöhen. „Das geht nicht oberirdisch“, kontert er die Kritik von Umweltschützern, die Tunnelbauten ablehnen. Hamburg habe viele neue Strecken auf den Weg gebracht – die U 4 mit einer möglichen Verlängerung nach Süden, die S 4 bis Bad Oldesloe und die U 5 von Bramfeld bis zu den Arenen. „Wir reden nicht nur darüber, wir bauen es.“

Tjarks glaubt nicht an überparteilichen „Verkehrsfrieden“

Der frühere Vize-Parteichef ist zwar weiterhin von der Stadtbahn überzeugt, die 2001 und 2011 zweimal scheiterte. Er sieht aber auch, dass der Streit die Stadt gelähmt hat: „Ich bin damit aufgewachsen. In den 20 Jahren hat sich im Nahverkehr in Hamburg wirklich wenig getan.“ 1978 sei die letzte Straßenbahn abgebaut worden, danach fast 40 Jahre kaum etwas passiert. „Jetzt haben wir ein gigantisches Programm vor uns, wie wir die Eisenbahn in und um Hamburg ausbauen können.“ Man könne Programme und Planungen nicht alle zwei Jahre ändern, sondern müsse handeln. „Da kann uns ein Konsens helfen.“

Allerdings glaubt Tjarks nicht an einen überparteilichen „Verkehrsfrieden“, der für einen längeren Zeitraum die Weichen stellen kann. „Die Frage ist, ob das hier gelingt. Dafür ist das Thema zu umstritten.“ Immerhin sei Deutschland „relativ dicht dran“ an einem Infrastruktur-Konsens für die Eisenbahn: „Das ist der Deutschlandtakt. Hierfür werde ich immer energisch werben. Hier liegen für Hamburg große Chancen, und wir müssen das als ganzes Land hinbekommen. Es gibt nichts Schlechteres als Projekte, die nach fünf oder zehn Jahren abgebrochen werden.“

„Der größte Hafen der größten Exportnation Europas braucht den Tunnel“

Umstritten sind zwei Straßenbauprojekte im Süden der Stadt – die A 26- Ost, die als Hafenpassage die A 7 mit der A 1 verbinden soll – und der Köhlbrandtunnel. „Bekanntlich sind wir Grünen nicht die größten Freunde der Autobahn. Aber sie ist Teil des Koalitionsvertrags.“ Würde sie gebaut, könnte die B 73 in Harburg zurückgebaut werden. Deutlicher wirbt er für den Ersatz der Köhlbrandbrücke: „Der größte Hafen der größten Exportnation Europas braucht den Tunnel.“ Tjarks verweist in der Debatte um neue Straßen auf eine andere Baustelle: „Entscheidend wird in den nächsten Jahren sein, ob wir die Autobahnbrücken sanieren – und die Eisenbahnbrücken.“

Die Reparatur der maroden Infrastruktur gehöre ins Zentrum. Schon jetzt sind hierzulande mehrere Autobahnbrücken so baufällig, dass sie gesperrt werden mussten. Die Zahl der sanierungsbedürftigen Brücken liege inzwischen bei 400 pro Jahr, sagt Tjarks. Das bekommen die Autofahrer zu spüren: Die Hochstraße Elbmarsch auf der A 7 südlich des Elbtunnels wird gerade saniert und ausgebaut, ab 2025 wird die A 1 zur Baustelle: Dann müssen dort die Brücken saniert werden, auch hier werden aber alle Fahrstreifen erhalten. Zunächst entsteht eine neue Norderelbbrücke neben der alten – nach deren Fertigstellung wird der Verkehr mit allen Fahrstreifen über die neue Brücke geleitet.

„Da muss richtig was gemacht werden”, sagt der Verkehrssenator. Der Fahrradsenator kann auch Autobahn.