Hamburg. Pilotprojekt “DreiFürEins“ will Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen niedrigschwellig therapieren. Schulen überfordert?

Ein zwölf Jahre alter Schüler zieht sich immer mehr zurück, wirkt häufig sehr traurig und ängstlich. Erste Lernschwierigkeiten zeichnen sich ab, vielleicht schwänzt er hin und wieder die Schule. Eine 14-Jährige hat eine niedrige Frustrationstoleranz und immer wieder Wutanfälle, zeigt wiederholt insgesamt ein aggressives Verhalten und hat Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen oder zu halten.

Kinder und Jugendliche mit den beschriebenen emotionalen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten, die in einem frühen Stadium beobachtet werden, fallen möglicherweise durch das bestehende Versorgungsnetz. Damit junge Menschen mit psychischen Auffälligkeiten zum richtigen Zeitpunkt die richtige Hilfe erhalten, haben mehrere gesetzliche Krankenkassen mit Partnern in Behörden und Krankenhäusern das Pilotprojekt „DreiFürEins“ gestartet. In den kommenden zweieinhalb Jahren sollen bis zu 550 Jungen und Mädchen zwischen vier und 17 Jahren therapeutische Angebote bekommen und die Familien parallel unterstützt werden.

Schule Hamburg: Seit Herbstferien 22 Kinder therapiert

Schule, Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrien sollen Hand in Hand arbeiten. Angedockt ist „DreiFür-Eins“ bei vier Regionalen Bildungs- und Beratungszentren, die über Therapieräume verfügen (ReBBZ+T): Altona, Altona-West, Bergedorf und Wandsbek-Süd. Die Therapien werden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der zwei an dem Projekt beteiligten Kliniken, den Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik (KJPP) des Asklepios Klinikums Hamburg-Harburg sowie des Katholischen Kinderkrankenhauses Wilhelmstift, durchgeführt.

Derzeit befinden sich noch viele Kinder in einem sogenannten Screeningprozess, der über eine Aufnahme in das Programm entscheidet. Seit den Herbstferien werden auch schon die ersten 22 Kinder und Jugendlichen therapiert. Zentraler Baustein von „DreiFürEins“ ist die wissenschaftliche Evaluation. Wissenschaftler der Universität Oldenburg und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg untersuchen, ob sich die neuartige Zusammenarbeit der Projektpartner positiv auf die Entwicklung und Gesundheit der Kinder auswirkt.

20 Prozent der Minderjährigen psychisch auffällig

Finanziert wird das Pilotprojekt, das über einen Zeitraum von vier Jahren läuft, mit bis zu 5,9 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, in dem neben unparteiischen Mitgliedern die gesetzlichen Krankenkassen sowie die Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser vertreten sind. An „DreiFürEins“ sind unter anderem die Techniker Krankenkasse, die AOK Rheinland/Hamburg, die Barmer und die DAK beteiligt.

Laut der KIGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2018 waren rund 20 Prozent der Minderjährigen psychisch auffällig. In der Folge der Corona-Pandemie könnte der Anteil noch einmal gestiegen sein. In der Copsy-Studie (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Eppendorf wird auf der Basis von Telefon-Interviews und der subjektiv wahrgenommenen Symptomatik von einer Steigerung um 20 bis 30 Prozent ausgegangen.

,DreiFürEins‘ soll helfen, bevor es schlimmer wird

„Eine genaue Zuordnung, wie viele dieser Kinder und Jugendlichen als psychisch krank einzuordnen sind, ist offen“, sagt Sabine Ott-Jacobs, Chefärztin der KJPP am Asklepios Klinikum Harburg. Auch pandemiebedingt gebe es junge Menschen, die aufgrund ihrer emotionalen Auffälligkeiten ihre Leistungsfähigkeit nicht zeigen könnten, aneckten und möglicherweise eine psychische Erkrankung aufwiesen. „Ein gewisser Teil dieser Kinder und Jugendlichen kann in den umfassenden kassenärztlichen Hilfesystemen der KJPP nicht Fuß fassen und fällt durch die guten Hamburger Versorgungsnetze. Die Gründe dafür sind vielfältig“, sagt Medizinerin Ott-Jacobs.

„Mit dem Projekt ,DreiFürEins‘ helfen wir, bevor es schlimmer wird: Kinder mit sozialem Rückzug, Depressionen und Angstsymptomen haben wir genauso im Blick wie sogenannte Systemsprenger“, sagt Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), die für den Bereich Jugendhilfe politisch verantwortlich ist.

"Wir verbessern Diagnostik, Förderung und Behandlung“

Oft zeichne sich bereits beim Übergang von der Kita in die Schule bei einzelnen Kindern ein Unterstützungsbedarf ab. „An dieser Schnittstelle wollen wir im Projekt ,DreiFürEins‘ gut hinsehen. Wir verbessern Diagnostik, Förderung und Behandlung“, sagt die Senatorin. Es gehe darum, Probleme früh zu erkennen und niedrigschwellig zu helfen.

„Unter psychischen und emotionalen Auffälligkeiten leiden nicht nur die Kinder und Jugendlichen selbst, sondern auch ihr Umfeld. Das gilt gerade für Schule und Unterricht, wo Lehrkräfte sowie Mitschülerinnen und Mitschüler in der Auseinandersetzung mit den Betroffenen immer wieder belastende Situationen bewältigen müssen“, sagt Schulsenator Ties Rabe (SPD). „Jetzt ist es erstmals möglich, Hilfen aus einer Hand anzubieten und Unterstützungs- und Therapieangebote vor Ort stattfinden zu lassen“, so der Senator.

Kunst- und Musiktherapien für neuen Lebensmut

Die kinder- und jugendtherapeutische Behandlung der Institutsambulanzen der Kliniken erfolgt in den ReBBZ+T und schließt Kunst- und Musiktherapie mit ein. „Damit wollen wir den jungen Menschen helfen, ihnen neuen Lebensmut und eine neue Lebensqualität geben, Fehlzeiten und mangelnde Teilhabe an der Schule reduzieren“, sagt Rabe.

„Derzeit gibt es eine Vielzahl heterogener Hilfsangebote und Akteure, die systemisch nicht miteinander verknüpft sind. Um das zu ändern, hat die Techniker Krankenkasse das Projekt ,DreiFür-Eins‘ entwickelt“, sagt Thomas Ballast, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse. „Wir freuen uns, dass wir für Kinder und Jugendliche in Hamburg ein sektorenübereifendes und niedrigschwelliges Angebot schaffen können.“

Schule Hamburg: Schüler stehen unter Druck

Unterdessen wächst die Kritik, die Schulen seien in der Pandemie überfordert. „Das Fazit vieler Teilnehmender, Schule sei nicht pandemietauglich, war bitter. Dringend muss der Gefahr entgegengesteuert werden, dass Auswirkungen und Folgen der Pandemie im System Schule verstärkt statt aufgefangen werden“, sagte Anna Ammonn, Vorsitzende der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) nach einem digitalen Austausch von Lehrkräften, Schülern und Eltern am Wochenende.

Lehrer gerieten aufgrund des hohen Krankenstandes bei gleichzeitigem Druck, Klassenarbeiten schreiben lassen zu müssen, an den Rand ihrer Möglichkeiten. Schüler beklagten den massiven Druck, der durch die „Aufholjagd“ bei Lernrückständen entsteht, sowie die Angst, sich oder andere anzustecken.