Hamburg. Auf einem Symposium in der JMS zum Thema „Mentale Stärke“ wird deutlich, wie wichtig der Einsatz von Psychologen sein kann.
Nur das leichte Surren der Lüftung ist zu hören im Miralles-Saal der Jugendmusikschule (JMS) Hamburg am Mittelweg, als Katharina Konradi die Zuhörenden mit ihrer Geschichte in ihren Bann zieht. Im Januar 2020 war es, als die Sopranistin bei einer Aufführung von „La Bohème“ auf der Bühne der Hamburger Staatsoper einen Nervenzusammenbruch erlitt.
Sie bekam keine Luft mehr, konnte weder ein- noch ausatmen, zitterte am ganzen Körper. „Ich konnte den ersten Akt nicht zu Ende spielen. Danach hatte ich so große Angst vor meinem nächsten Auftritt, dass ich mich drei Monate komplett zurückziehen wollte. Dann kam die Pandemie, und ich war so froh über den Lockdown, weil er mich in die Auszeit zwang, die ich sowieso nehmen wollte“, sagt sie.
Jugendmusikschule Hamburg zeigte Symposium
Für die im Juni 1988 in Kirgisistan geborene Künstlerin, die seit 2018 in Hamburg engagiert ist, war dieses Erlebnis ein Wendepunkt in ihrem beruflichen Leben. Und deshalb war sie eingeladen worden, um beim Symposium „Mentale Stärke im Leistungssport und in der Leistungsmusik“ über das zu referieren, was sich verändert hat für sie seit dem Zusammenbruch. Und über das, was sich verändern muss in ihrer Branche, damit Geschichten wie die ihre seltener werden in Zukunft.
Dieses Themas hat sich das Zentrum für Berufsmusiker (ZfB) unter der Leitung der Diplompsychologin Heidi Brandi seit eineinhalb Jahren angenommen. Doch weil die mentale Beanspruchung in Leistungssport und Berufsmusik vergleichbar ist, die Unterstützung für die Protagonistinnen und Protagonisten aber stark differiert, war die Fragestellung, unter die die Diskussion gestellt wurde: Was können die einen von den anderen lernen?
Starker Fokus auf das Thema „Erholung“ sorgt für Kritik
Mit Konradi auf dem Podium: Jan Donner (32), Posaunist an der Deutschen Oper in Berlin; die Beachvolleyball-Olympiasiegerin von 2016, Laura Ludwig (36); und der zweimalige Olympiasieger und Welthockeyspieler Moritz Fürste (37). Menschen mit Erfahrung allesamt, die Erfolge gewohnt sind, aber auch den Preis kennen, den man bezahlen muss, um sie zu feiern. Und die einander so viel zu sagen hatten, dass die 120 Minuten, auf die die Veranstaltung angesetzt waren, so rasch vergingen, dass man eine Verlängerung, eine Zugabe herbeisehnte.
Was auch daran lag, dass mit Hannah Bregler, Fagottistin mit Masterabschluss und am ZfB mit dem Thema „Prävention in der Berufsmusik als Managementaufgabe“ betraut, und Professor Michael Kellmann, Leiter des Lehr- und Fachbereichs Sportpsychologie an der Uni Bochum, ein Moderationsduo interagierte, das die Gespräche in intensive, spannende Bahnen zu lenken vermochte, ohne dabei zu tief in die Theorie abzugleiten.
Veranstaltung war als Impulsgeber gedacht
Dass Kellmann seine Bühne nutzte, um sein Fachgebiet und seine Publikationen dazu übermäßig zu thematisieren, stieß zwar nicht nur bei den Organisatoren etwas sauer auf, sondern sorgte auch bei Fachleuten im Publikum für Verdruss, die bemängelten, das Ausgangsthema „Mentale Stärke“ habe zu wenig Raum bekommen. Aber gedacht war die Veranstaltung als Impulsgeber, als erster Ansatz für dadurch ausgelöste Diskussionen.
Zudem musste beachtet werden, dass für eine Veranstaltung in einer Jugendmusikschule, die sich auch und besonders an Jugendliche und junge Erwachsene richten sollte, die Inhalte leicht zugänglich gehalten werden mussten, anstatt ins Fachchinesische abzudriften. Dieser Maßgabe wurde die Diskussionsrunde jederzeit gerecht.
„Balance zwischen Anspannung und Erholung“
Erschreckend deutlich wurde die Diskrepanz, die zwischen Leistungssport und Berufsmusik in der Priorisierung des Themas „Balance zwischen Anspannung und Erholung“ vorherrscht. Laura Ludwig erntete herzhaftes Lachen der 100 Zuhörenden, als sie ungläubig fragte, ob es unter Profimusikern nicht Usus sei, nach anstrengenden Auftritten zur Physiotherapie zu gehen – gang und gäbe bis in die unteren Ligen des Randsports, um Verletzungen vorzubeugen. „Bei uns geht man erst zur Behandlung, wenn die Schmerzen zu spüren sind. Dann ist es meist zu spät“, sagte Katharina Konradi.
Die größere Rolle in der Musik spielt indes die seelische Pein. „Mental und emotional ist man nach einer Aufführung viel ausgelaugter als physisch“, sagte Konradi, die im Vergleich zum Sport vor allem die Möglichkeit vermisst, ihre Emotionen zu teilen. Nach einer Vorstellung, wenn der Vorhang fällt, sei es normal, sich im Ensemble zu umarmen und gemeinsam zu feiern.
„Meine härteste Gegnerin bin ich selbst.“
Aber während der Siegtorschütze von seinen Teamkameraden sofort nach seinem emotionalen Höhepunkt geherzt wird, müsse sich die Solistin an einer perfekt vorgetragenen Arie allein erfreuen. Auch ein Gegenüber, an dem man sich messen und darüber Emotionen abbauen könne, fehlt in der Musik. Konradi: „Meine härteste Gegnerin bin ich selbst.“
Jan Donner kennt diese Emotionen, auch er hat oft erfahren, innerhalb eines Orchesters auf sich allein gestellt zu sein. Der Rheinländer, der einen Lehrauftrag an der Uni Rostock hat, erheiterte das Publikum mit seiner Einlassung, zwar Musik zu lieben, sein Instrument aber gar nicht so sehr. „Ich würde nicht sagen, dass ich gern Posaune spiele. Aber ich kann dabei in einen Tunnel kommen, um die höchste Leistungsfähigkeit zu erreichen.“
Berufsmusiker werden oft allein gelassen
Diesen Tunnel kennt auch jeder Leistungssporttreibende, und Donner, der zertifizierter Mentalcoach ist, hat Mittel und Wege gefunden, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. „Aber ich wünschte, das Thema würde in der Ausbildung mal angesprochen werden. Das habe ich nie erlebt.“
Stattdessen würden Berufsmusiker auf ihren Fahrten in der Gefühlsachterbahn zu oft allein gelassen. Was die Gefahr birgt, dass der Kreislauf aus Anspannung und Entspannung versagt, wie Psychologe Kellmann anhand verschiedener Praxisbeispiele zu erläutern versuchte. Einer seiner wichtigsten Glaubenssätze ist, dass es nicht darum gehe, Beanspruchung zu reduzieren, auf deren Entstehung man keinen Einfluss habe, sondern die Erholung zu optimieren, um den Beanspruchungen standhalten zu können. „Denn nur, wer richtig erholt ist, kann volle Leistung bringen“, sagte er.
Gespräche mit Sportpsychologin halfen
Die Olympioniken auf dem Podium nickten wissend – und konnten mit Beispielen aus ihrer Praxis belegen, wie ihnen die Beschäftigung mit Mentaltraining aus manch einem Leistungsloch geholfen habe. So schilderte Laura Ludwig, die im Mai ihr zweites Kind erwartet und danach ein weiteres Comeback im Sand wagen will, wie sie 2015 während der Qualifikation für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro über mehrere Wochen an Schlafstörungen litt, weil der Erfolgsdruck übermächtig geworden war.
„Als junge Spielerin habe ich mir über die mentale Seite des Sports null Gedanken gemacht. Doch plötzlich hatte ich Angst, ins Bett zu gehen – und das, obwohl Schlaf meine wichtigste Erholungsmethode ist und ich eigentlich immer und überall schlafen kann“, sagte sie. Panik und eine dauerhafte Gereiztheit habe sie belastet. Abhilfe schafften die Gespräche mit ihrer Sportpsychologin Anett Szigeti, Mitglied im Organisationsteam des Symposiums. „Sie hat mir Entspannungstechniken beigebracht und mich gelehrt, negative Situationen mit positiven Bildern auszuschalten. Die richtigen Fragen gestellt zu bekommen und zu fühlen, dass jemand da ist, der helfen kann, war extrem wichtig für meine Entwicklung“, sagte sie.
Kaum Psychologen im Profifußball
Fürste, der seine Karriere im Sommer 2018 beendete, war in all seinen Mannschaften als Führungsspieler hoch angesehen. „Aber auch ich habe als junger Spieler über die mentale Seite nicht nachgedacht. Das kam erst Ende 20, als ich die nötige Selbstreflexion hatte“, sagte er. Dennoch sei er von Beginn seiner Karriere an mit dem Thema konfrontiert worden.
Im Studentensport Hockey sind Psychologen seit mindestens 20 Jahren Usus, heute haben – im Gegensatz zum Profifußball, in dem sich viele Vereine trotz ihrer finanziellen Mittel aus unerfindlichen Gründen gegen professionelle mentale Begleitung sperren – alle Hockey-Bundesligisten Fachleute auf diesem Gebiet. „Für die Talente von heute ist es vollkommen normal, sich damit zu beschäftigen. Die brauchen nicht mehr den Rat von den erfahrenen Spielern, den ich damals hatte“, sagte Fürste.
Jungen Musikern wird falscher Eindruck vermittelt
Katharina Konradi dagegen hat die Erfahrung gemacht, dass in der Berufsmusik noch immer die Ansicht vorherrsche, dass, wer zum Psychologen gehe, krank sein müsse. Was ihrer Ansicht nach daran liege, dass niemand die Aura des perfekten Künstlers zu attackieren wage. „Das wahre Gesicht zu zeigen ist in der Berufsmusik ein schwieriges Thema, private Probleme werden nicht preisgegeben, obwohl viele sich damit plagen.“ Der Ursprung dieser Einstellung liege in der Erziehung an den Musikschulen und zöge sich durch alle Stationen des beruflichen Lebens.
„Der Eindruck, der jungen Musikerinnen und Musikern vermittelt wird, ist der, dass die Lehrenden alle perfekt sind. Über psychische Belastungen oder private Probleme und den Umgang damit wird einfach nicht gesprochen“, sagte sie.
Sopranistin Konradi sorgt mehrfach für Erstaunen
Einem eloquenten Unternehmer wie Fürste, der mit seiner Agentur Upsolut Sports nach der Hockeykarriere die Fitnesssportart Hyrox erfand, die Sprache zu verschlagen ist nicht einfach. Katharina Konradi schaffte es mit ihrer eindrücklichen Schilderung, dass Berufsmusik in jeder Probe 100 Prozent Leistung einfordere. „Meine ärgsten Kritiker sind oft die Kolleginnen und Kollegen. Da muss man sich in jeder Probe aufs Neue beweisen, und das führt dazu, dass der mentale Druck zu groß wird.“
Im Sport dagegen hat der Begriff der Belastungssteuerung Hochkonjunktur, der besagt, dass 100 Prozent Leistung nur zu den Wettkampfhöhepunkten erreicht werden kann, wenn im Training bewusst Pausen eingebaut würden. „Wer das nicht tut, der wird von seinem Körper bestraft. Und Zwangspausen wollen wir vermeiden“, sagte Professor Kellmann.
„Niemand kann jeden Tag sein Optimum abrufen“
Laura Ludwig und Moritz Fürste haben deshalb gelernt, manchmal mit 60 Prozent ihrer maximalen Leistungsfähigkeit 100 Prozent Wirkung erreichen zu können. „Niemand kann jeden Tag sein Optimum abrufen“, sagte Fürste, der auf seinen 2011 erlittenen Kreuzbandriss verwies. „Sechs Tage nach dem Gewinn des EM-Titels habe ich mich in einem Trainingsspiel verletzt. Im Nachhinein weiß ich, dass es meine eigene Schuld war und mein Körper mir sagen wollte: Jetzt ist Schluss.“
Jan Donner sagte, er könne mittlerweile akzeptieren, dass Fehler zum Beruf dazugehörten. „Man muss ein Bewusstsein dafür entwickeln, welches Maß an Eigeninitiative und Gestaltungsmöglichkeiten man hat, um damit umgehen zu können, dass Perfektion nicht dauerhaft möglich ist.“
Erkenntnisse aus der Sportwissenschaft
Was zu tun ist, um in der Leistungsmusik die Bedeutung des Themas „Mentale Stärke“ in den Fokus zu rücken, in dem es im Leistungssport bereits steht, erläuterte Christoph Herr. Der Koordinator des Fachbereichs Sportpsychologie beim Deutschen Fußball-Bund, der im Publikum saß, sagte: „Das Thema muss in der breiten Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden, um einen impliziten Druck zu entfachen, damit die Menschen, die darüber entscheiden und es bezahlen sollen, verstehen, wie wichtig es wirklich ist.“
Dazu brauche es bekannte Persönlichkeiten aus der Musikbranche als Multiplikatoren. Kellmann regte eine Onlineplattform an, auf der sich psychologisches Fachpersonal mit Musikschulen, Orchestern oder Veranstaltern vernetzen könne. Außerdem müssten valide Daten erhoben werden, um Bedarfe zu verdeutlichen. Hannah Bregler sagte: „Wir bekommen die Erkenntnisse von der Sportwissenschaft geliefert und müssen nur auf den fahrenden Zug aufspringen, wenn wir es wollen.“
Leiter der JMS: "Wir haben strukturelle Probleme"
Winfried Stegmann will. Immer wieder hatte er, während er der Diskussion lauschte, mit dem Kopf genickt, er hatte an manchen Stellen gelacht und sich an anderen fast verschämt hinter seiner Maske versteckt. Die kommenden Monate will der pädagogische Leiter der JMS nun nutzen, um die vielen Denkanstöße in Handlungsanweisungen umzusetzen.
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„Es gibt sehr viele Ansätze, an denen wir arbeiten müssen“, sagte er. JMS-Leiter Professor Guido Müller möchte ein zweites Symposium für die 320 Musikpädagogen, die an rund 160 Standorten im gesamten Stadtgebiet mit 23.500 Kindern und Jugendlichen arbeiten, organisieren, „um diese Themen zu vertiefen. Wir haben strukturelle Probleme, die wir dringend angehen müssen“, sagte er.
Wunsch nach stressfreien Berufsmusikern
Heidi Brandi verband ihr Schlusswort mit dem Wunsch, „dass wir in 30 Jahren viele stressfreie und entspannte Berufsmusikerinnen und -musiker haben“. Wenn die Impulse, die am Freitagnachmittag ausgesandt wurden, in angemessener Form umgesetzt werden, sollte dieser Wunsch durchaus etwas schneller in Erfüllung gehen können.