Hamburg. Die Woche im Rathaus: Rot-Grün hält noch am Präsenz-Unterricht fest – aber es gibt Stimmen, die wegen steigender Inzidenzen dagegen sind.

Das Virus kommt näher, sehr viel näher – wegen Omikron. Seit Beginn der Pandemie sind gut zehn Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger mit Corona infiziert worden. Angesichts der rasant steigenden Inzidenzzahlen sind Schilderungen von Infektionen im Freundes-, Bekannten- oder Kollegenkreis längst Alltag. Manche ziehen daraus die Konsequenz, dass es jeden und jede irgendwann ohnehin erwischen wird, und hoffen nach Doppelimpfung und Boosterung auf einen milden Verlauf. Je nach Charakter und Temperament kann daraus ein gewisser Leichtsinn oder Fatalismus folgen.

In diese Stimmung einer mit einem Schuss Gleichgültigkeit hingenommenen fortschreitenden „Durchseuchung“ der Bevölkerung platzte in dieser Woche ein Warnruf aus dem engsten Führungszirkel der rot-grünen Koalition. Maryam Blumenthal, Landesvorsitzende der Grünen, schilderte in einem eindringlichen und emotionalen Facebook-Post die Corona-Erkrankungen ihrer fünfköpfigen Familie, wobei es sie selbst trotz vollständigen Impfschutzes am schlimmsten getroffen hat.

„Vier Tage lang hohes Fieber, Herzrasen, krasse Schweißattacken, Schüttelfrost, Erbrechen, überall Schmerzen – es ist, als sei ein Auto über meinen Körper gefahren“, schrieb Blumenthal, die froh ist, die Erkrankung wenigstens geimpft durchgemacht zu haben, und sich nun große Sorgen um „all meine Liebsten“ macht: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele von ihnen noch einen ähnlichen Höllentrip durchmachen wie ich. Die Durchseuchung, von der immer so viel und im Zusammenhang mit Omikron immer mehr gesprochen wird, kann kein Weg sein.“

Corona in Hamburg: Schulen könnten bald schließen

Zwar haben sich Blumenthals Kinder vermutlich nicht in der Schule angesteckt, aber gerade hier – wie auch in den Kitas – steigen die Inzidenzwerte derzeit besonders rasant an. Mehr und mehr sind auch Lehrerinnen und Lehrer betroffen, sei es auch, weil sie als Väter und Mütter von Kita- oder Schulkindern selbst in Quarantäne müssen.

So ist der reguläre Schulbetrieb von zwei Seiten gefährdet: Einerseits gibt es die Diskussion, wie lange der Präsenzunterricht unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes und der Vermeidung von Infektionen sinnvoll aufrechtzuerhalten ist. Andererseits ist die Frage, wie lange noch genug Personal für das Offenhalten der Schulen vorhanden ist.

„Wir sehen bange auf die künftige Quarantäneentwicklung beim Schulpersonal und können nicht ausschließen, dass sie coronabedingt weiter steigen wird“, warnte Schulsenator Ties Rabe (SPD) am Dienstag in der Landespressekonferenz. Allerdings gebe es zurzeit keine Hamburger Schule, die ein „Notfallkonzept“ zur Aufrechterhaltung des Unterrichts anwenden müsse.

„Wir dürfen uns von reinen Inzidenzwerten nicht blenden lassen“

Die rot-grüne Koalition hält wie fast alle Bundesländer daran fest, die Schulen so lange wie möglich offen zu halten. Vor allem Rabe, aber auch vielen anderen im Rathaus-Bündnis sind die Erfahrungen der Schul-Lockdowns mit den gravierenden negativen Folgen besonders für Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Familien noch sehr präsent.

Der Schulsenator betonte am Dienstag, dass bei Kindern und Jugendlichen die Gesundheitsgefahr durch eine Grippe mit der durch Corona „mindestens gleichzusetzen“ sei. „Wir dürfen uns deswegen von reinen Inzidenzwerten nicht blenden lassen“, sagte Rabe. „Erst in dem Moment, wo es gefährlich wird, wo Kindern und Jugendlichen schwere Krankheitsverläufe drohen, ist eine Öffnung der Schulen zu hinterfragen“, sagte der SPD-Politiker.

Rabe weiß sich im Einklang mit Bürgermeister Peter Tschentscher und Sozial- und Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (beide SPD). Doch längst wird auch in der Koalition darüber diskutiert, ob und wie lange es so weitergehen kann mit den Schulen.

Schule in Hamburg: Politik ist sich uneinig

Während die grünen Senatsmitglieder den Öffnungskurs weiter unterstützen, hält zumindest ein Teil der Bürgerschaftsfraktion der Grünen eine Aussetzung der Präsenzpflicht für die angemessene Reaktion auf die aktuelle Pandemieentwicklung. Eltern entscheiden dann selbst, ob sie ihr Kind in die Schule schicken oder nicht.

Das würde noch nicht die Schließung der Schulen bedeuten, könnte aber als ein Schritt dorthin gesehen werden. Allerdings sehen insbesondere die sozialpolitisch orientierten Abgeordneten die Gefahr, dass ohnehin benachteiligte Schüler erneut abgehängt werden könnten.

Dennoch: Auch in dieser Woche war die Präsenzpflicht wieder Thema in der Senatsvorbesprechung der Spitzen von SPD und Grünen. „Ich persönlich bin für die Aussetzung der Präsenzpflicht. Ich kann dem etwas abgewinnen“, sagt die Grünen-Fraktionschefin Jennifer Jasberg. Für einen Teil der Elternschaft und der Familien wäre das ein wichtiges Signal. Allerdings gebe es im Bündnis derzeit dafür keine Mehrheit. „Aber die Diskussion geht weiter“, sagt Jasberg.

Rabe hat schon einmal vorsorglich darauf hingewiesen, dass es eine „Grenze der Belastbarkeit des Personals“ gebe. Einerseits Präsenzunterricht in der Schule und andererseits Stoffvermittlung in digitaler Form für diejenigen, die zu Hause sind – beides zusammen werde nicht funktionieren.

Obwohl sich der Krankenstand der Lehrerinnen und Lehrer mit 9,8 Prozent noch im Rahmen des Üblichen für den Erkältungsmonat Januar hält, bereiten sich Behörde und Schulen auf weitere Engpässe vor. Relativ unproblematisch können Schulen auf Doppelbesetzungen im Unterricht verzichten. In Betracht kommen auch Klassenzusammenlegungen, wenn nicht genug Lehrkräfte einsetzbar sind.

Unterrichts-Livestream statt interaktiver Konferenz

Aber es wird auch verstärkt um kreative Lösungen gehen, gerade wenn weiter zunehmend Kinder und Jugendliche nicht mehr in die Schule kommen können oder dürfen. Mit besonderer Aufmerksamkeit wird in der Schulbehörde das Vorgehen des Gymnasiums Hochrad in Othmarschen verfolgt.

Die Schule bietet allen Schülerinnen und Schülern, die in Quarantäne sind, an, den Unterricht im Klassenraum in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik sowie der zweiten Fremdsprache (Französisch, Latein oder Spanisch) per Livestream zu verfolgen, was aber keine interaktive Teilnahme einschließt – anders als bei einer Videokonferenz.

Zudem gibt es Datenschutz-Bedenken, weil nicht zu kontrollieren ist, wer sich in den Livestream einwählt. Neben den technischen Gegebenheiten ist die Zustimmung der Lehrkräfte zur Übertragung ihres Unterrichts erforderlich. In der Schulbehörde wird gleichwohl von einem „guten Modell“ gesprochen.

Schulsenator Rabe will kein inzidenzbasiertes Stufenkonzept

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wie auch viele Schulleitungen fordern von Rabe ein Stufenkonzept zur Personalversorgung. Ein solches Konzept soll abhängig vom Krankenstand der Lehrkräfte klare Vorgaben etwa für Klassenzusammenlegungen festlegen, aber zudem klären, von welchem Punkt an eine Betreuung an Schulen nicht mehr zu leisten ist und der Wechsel in den Wechsel- oder Distanzunterricht erfolgen muss.

Ein Teil der Schulleitungen wünscht sich mehr Freiheiten vor Ort bei der Bewältigung der Corona-Krise. Andere pädagogische Führungskräfte wollen im Gegenteil mehr eindeutige Vorgaben und Handlungsanweisungen der Schulbehörde und des Schulsenators für ihren Standort.

Rabe hat in dieser Woche bereits erklärt, dass es mit ihm Regelungen wie in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen nicht geben werde. Dort können die Schulen selbst entscheiden, ob sie in Präsenz, im Wechsel- oder Fernunterricht arbeiten.

Eine klare Absage hatte der SPD-Politiker auch einem inzidenzbasierten Stufenkonzept erteilt, nach dem Schulen von einem bestimmten Sieben-Tage-Wert an zum Beispiel geschlossen werden müssten. Nach Informationen des Abendblatts arbeitet die Rabe-Behörde hingegen an einem Stufenkonzept, das den Schulen Vorgaben für die Unterrichtsorganisation macht, die abhängig sind vom jeweiligen Krankenstand.

Das dürfte auch die Bürgerschaftsfraktion der Grünen interessieren, die viele Fragen rund um das Thema Corona an Schulen haben. Am Montag treffen sich die 33 Parlamentarier zu einer Sondersitzung zum Thema Corona. Gesundheitssenatorin Leonhard war bereits da. Jetzt haben Jasberg und Co. Schulsenator Rabe eingeladen. Es dürfte ein angeregtes Gespräch werden …