Hamburg. Teile der Querdenkerszene werden uns auf Jahre beschäftigen, so der Verfassungsschutz-Chef und warnt vor Rassismus und Antisemitismus.
Hat Antisemitismus in Hamburg zugenommen? Wurde er zu lange unterschätzt? Ziehen die Demonstrationen gegen die Corona-Politik vermehrt Judenhasser an? Und muss die Szene stärker beobachtet werden? Über diese Frage spricht der langjährige Chef des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz, Torsten Voß, im großen Abendblatt-Interview.
Herr Voß, im aktuellen Verfassungsschutzbericht beklagen Sie eine „Verrohung des politischen Diskurses“, warnen vor „Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus“. Woran machen Sie das in Hamburg fest?
Torsten Voß: Da die Auswertung extremistischer Internetinhalte zu unseren Aufgaben gehört, bekommen wir natürlich auch viele Äußerungen mit, die massiv unter der Gürtellinie liegen oder strafrechtlich relevant sind. Und gerade, wenn es um die Aktivitäten von Rechtsextremisten, Reichsbürgern oder verschwörungsideologischen Corona-Leugnern im Internet geht, sind fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Aussagen an der Tagesordnung. In der vermeintlichen Anonymität sozialer Netzwerke fallen jedwede Hemmschwellen.
Welche Erkenntnisse hat der Verfassungsschutz über antisemitische Strömungen in Hamburg gewonnen?
Torsten Voß: Unsere Zuständigkeit liegt in der Beobachtung von Extremisten und ihrer Strukturen. Hierbei stellen wir Antisemitismus in nahezu allen unseren Beobachtungsfeldern fest. An erster Stelle natürlich im Rechtsextremismus. Der rassistisch-sozialdarwinistisch motivierte Antisemitismus mit den widerlichsten Aussagen gegenüber jüdischen Mitbürgern gehört zur DNA von Rechtsextremisten. Jedoch ist er kein Alleinstellungsmerkmal für diese Szene. Antisemitische Argumentationsmuster sind auch integraler Bestandteil des islamistischen Spektrums. So verbreitet zum Beispiel die in Hamburg ziemlich aktive Hizb ut-Tahrir antisemitische Hetzpropaganda, rief zur weltweiten Tötung von Juden und zur Zerstörung Israels auf. Antisemitismus findet sich zudem in der Reichsbürgerszene, im verschwörungsideologischen Querdenker- und Corona-Leugner-Milieu, bei türkischen Nationalisten und im Übrigen auch in der linksextremistischen Szene.
Hat der Antisemitismus in Hamburg zugenommen?
Torsten Voß: Keine einfache Frage, denn für eine wirklich seriöse Antwort liegen uns noch zu wenige Fakten vor. Ich bin mir aber sicher, dass wir ein Dunkelfeld von Taten, Ereignissen und Äußerungen haben, das alle betroffenen Stellen und Institutionen aufhellen müssen. Zahlreiche Berichte und Studien, beispielsweise der hochkompetenten Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), weisen auf dieses Dunkelfeld hin – auch, weil sich manche Betroffene möglicherweise noch scheuen, Anzeige zu erstatten. Umso wichtiger sind regionale, niedrigschwellige Meldestellen, an die sich jeder vertrauensvoll melden kann. Jeder Hinweis, der uns als Verfassungsschützer erreicht, wird im Übrigen grundsätzlich vertraulich behandelt.
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Wo und wie haben Antisemiten sich organisiert?
Torsten Voß: Antisemitismus findet sich in zahlreichen extremistischen Gruppierungen von rechts bis links, die eine einzige große antisemitische Organisation gibt es insofern nicht. Üble antisemitische Propaganda stellen wir in der realen wie in der virtuellen Welt fest, dort insbesondere in den verschiedenen sozialen Netzwerken. Denken Sie an Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen. An verschwörungsideologische Erzählungen aus dem Reichsbürger-, QAnon- und Querdenker-Milieu mit vielerlei Stereotypen und Schuldzuweisungen gegen Menschen jüdischen Glaubens. An informelle Netzwerke der Hisb ut-Tahrir zuzurechnenden Generation Islam oder Muslim Interaktiv, die aus ihrer Israelfeindlichkeit keinen Hehl machen. Das Gleiche gilt für iranische Islamisten, für die palästinensische Hamas, die libanesische Hizb Allah oder auch das islamistische Al-Azharis-Institut in St. Georg. Außerdem stellen wir seit mehreren Jahren in Deutschland fest, dass Teile des linksextremistischen Spektrums mit der antisemitischen Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) zusammenarbeiten. Die BDS-Bewegung ist Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzverbundes.
Antisemitismus gibt es von Links- und Rechtsextremisten, von Islamisten und neuerdings auch von Verschwörungsideologen. Aber von wem geht aktuell die größte Bedrohung aus?
Torsten Voß: Ich bin kein Freund davon, zu gewichten, denn es gab und gibt aus meiner Sicht keinen Grund, irgendeinen extremistischen Phänomenbereich zu vernachlässigen. Die Gefahren für unsere Demokratie sind immer präsent, ich erinnere an die verschiedenen rechtsextremistisch und islamistisch motivierten Anschläge der vergangenen Jahre, an den militanten Reichsbürger, der in Bayern einen Polizisten erschossen hat, oder an mittlerweile zum Teil auch gewaltsame Proteste von Querdenkern und Corona-Leugnern in Deutschland. Und auch bei den Anschlägen aus der militanten linksextremistischen Szene ist es aus meiner Sicht reines Glück, dass in den vergangenen Jahren in Leipzig, Hamburg oder anderen Orten keine Menschen ums Leben gekommen sind. Dem Opfer ist es egal, welche Farbe der Stein hat, der trifft.
Wurde der Antisemitismus in Deutschland zu lange unterschätzt?
Torsten Voß: Deutschland hat aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber seinen jüdischen Mitbürgern und gegenüber Israel. Das muss auch künftig immer so sein. Und aus meiner Überzeugung heraus kommen die verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, Einrichtungen und Organisationen, gerade unser Staat, dieser Verantwortung auch nach. Auf der anderen Seite müssen wir, und damit meine ich die gesamte Gesellschaft, sehr sensibel zur Kenntnis nehmen, wenn jüdische Mitbürger und Vertreter jüdischer Organisationen ein noch stärkeres Engagement gegen Antisemitismus anmahnen. Daher ist es aus meiner Sicht auch so wichtig, das existierende Dunkelfeld antisemitischer Taten aufzuklären, weitere Zahlen, Daten und Fakten zu generieren, um noch besser im Kampf gegen jede Form des Antisemitismus aufgestellt zu sein.
Sie schreiben in Ihrem Lagebericht von „Mischszenen, in denen Extremisten und Nicht-Extremisten gemeinsam agieren.“ Eine dieser „Mischszenen“ ist sicher die Querdenkerszene. Wie gefährlich schätzen Sie dieses Sammelbecken ein?
Torsten Voß: Meine Prognose: Die extremistischen Teile dieser Szene werden uns auf Jahre beschäftigen, die Beobachtung dieses Spektrums wird ein weiterer Schwerpunkt der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern sein und bleiben. Und wie in fast allen extremistischen Phänomenbereichen wird es auch einen militanten Teil geben, der Gewalt befürwortet, unterstützt und auch ausführt. Schon jetzt gibt es regelmäßig Sachbeschädigungen an Büros und Wohnorten von Repräsentanten unserer Demokratie und Gesellschaft.
Wissen Sie genug über diese Szene?
Torsten Voß: Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im Bund und in den anderen Bundesländern klären wir konsequent Strukturen und Vernetzungen auf. Die Verfassungsschutzbehörden haben dafür einen neuen Phänomenbereich definiert, mit dem etwas sperrigen Titel „Demokratiefeindliche und sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“.
Verschwörungsideologische Ansätze können maßgeblich zu Radikalisierungsverläufen, die zur Begehung schwerster antisemitischer, rechtsterroristischer Anschläge führen, beitragen, haben Sie analysiert. Welche Rolle spielt der Antisemitismus schon jetzt in der Querdenkerszene?
Torsten Voß: Antisemitische Narrative spielen auch in der Querdenker- und insbesondere in der QAnon-Szene eine zentrale Rolle. Verschwörungsideologisch werden Menschen jüdischen Glaubens zu Sündenböcken für alles Mögliche auf der Welt stilisiert, und da ist es bis zur möglichen Gewalttat kein weiter Schritt mehr.
Ziehen die Anti-Corona-Demonstrationen vermehrt Antisemiten an?
Torsten Voß: In Hamburg stellen wir fest, dass einzelne Rechtsextremisten und Reichsbürger mitmarschieren, aber bisher noch keinen prägenden Einfluss haben. Darüber hinaus werden wir die weitere Entwicklung des extremistischen Querdenker-milieus aufmerksam verfolgen, gerade mit Blick auf antisemitische Argumentationsmuster, aber auch auf eine Verharmlosung der NS-Diktatur und der Shoah. Wenn selbst ernannte Impfgegner beispielsweise mit einem gelben Stern und dem Schriftzug „Ungeimpft“ herumlaufen, dann ist das eine absolute Verharmlosung des Holocaust und wird meines Erachtens völlig zu Recht als Volksverhetzung strafrechtlich verfolgt. Solche Leute, die sich mit den verfolgten Juden gleichstellen, mit Sophie Scholl oder dem Widerstand der Weißen Rose, attackieren mit ihrem Handeln und Tun die freiheitliche demokratische Grundordnung und sind ein Fall für den Verfassungsschutz.
Müssen die Querdenker stärker beobachtet werden?
Torsten Voß: Ja, das müssen wir tun, und das machen wir auch. Wenn wir die Entwicklung außerhalb Hamburgs deutschlandweit betrachten, beobachten wir, dass der von der Versammlungsfreiheit im Grundgesetz gedeckte Protest gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auch von sogenannten Querdenkern instrumentalisiert, ich will sogar sagen, missbraucht wird – missbraucht, um unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat die Legitimation abzusprechen und zu bekämpfen. Diese Querdenker passen, ähnlich wie die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter, in die klassischen Extremismusbereiche, zum Beispiel den Rechtsextremismus, nicht hinein. Dieses im Übrigen sehr heterogene Spektrum bildet einen Extremismus sui generis, einen Extremismus eigener Art. Es sind neue Extremisten, die wir in Deutschland im Verfassungsschutzverbund gemeinsam in den Fokus nehmen.
Rechnen Sie mit einer weiteren Radikalisierung dieser Szene, wenn es zu einer generellen Impfpflicht kommt?
Torsten Voß: Dazu muss es gar nicht kommen. Allein die Diskussion um eine mögliche Impfpflicht reicht manchen Angehörigen dieser Szene, sich zu radikalisieren. Und wenn es die Impfpflicht nicht ist, dann werden sie ein anderes verschwörungsideologisches Thema finden. Selbst wenn die Entwicklung in Hamburg derzeit noch von der Entwicklung in anderen Bundesländern wie Thüringen oder Sachsen zu trennen ist – wir registrieren auch hier schon manch aggressiven Ton. Wenn auf den Versammlungen auf Plakaten oder in Wortbeiträgen zum Widerstand aufgerufen wird, wenn Plakate mit „Nürnberg 2.0“ gezeigt werden, wenn aggressiv gerufen wird, dass der Erste Bürgermeister „rauskommen“ solle, um etwas „zu klären“, dann registrieren wir das sehr aufmerksam. Im Übrigen sollten sich die Demo-Teilnehmer fragen, mit wem sie da marschieren. Wer sich nicht von Extremisten distanziert, macht mit ihnen gemeinsame Sache.
Schon jetzt wird in Teilen dieser Szene pauschal den „Juden“ Mitschuld an der Pandemie gegeben ...
Torsten Voß: ... und damit ein ganz übles antisemitisches Motiv bedient, das wir seit Jahrhunderten kennen. Daher bin ich dafür, alle rechtsstaatlichen Mittel, die uns als Nachrichtendienst sowie den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, bis an die Grenze auszuschöpfen, um jede Form des Antisemitismus zu verfolgen. Null Toleranz für jede Form des Extremismus, null Toleranz für Antisemitismus, dafür steht der Hamburger Verfassungsschutz.
Sie haben „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“, ausgemacht, die einer „fundierten Analyse und Bewertung“ bedürfen. Reicht die Kapazität des Verfassungsschutzes für diese Aufgabe?
Torsten Voß: Jede neue Mitarbeiterin, jeder neue Mitarbeiter hilft uns bei der Beobachtung des Extremismus. Die Vernetzungen, Mobilisierungen und Radikalisierungen von Verfassungsfeinden im Internet, insbesondere in den sozialen Netzwerken, bringen seit einigen Jahren enorme neue Herausforderungen für den Verfassungsschutz und für alle weiteren Sicherheitsbehörden. Aber in Hamburg ist viel Erfreuliches passiert. Senat und Bürgerschaft haben unseren Personalbestand um mehr als ein Drittel aufgestockt, der Bereich Rechtsextremismus wurde zusätzlich durch eine spezielle Interneteinheit verstärkt.
Hamburg hat vor einem halben Jahr mit Stefan Hensel erstmals einen Antisemitismusbeauftragten eingesetzt. Der soll Antisemitismus bekämpfen und das jüdische Leben fördern. Ganz in Ihrem Sinne?
Torsten Voß: Wir als Verfassungsschützer begrüßen es, dass wir jetzt mit Stefan Hensel einen so kompetenten und engagierten Beauftragten für jüdisches Leben und die Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus haben und dass es solche Antisemitismusbeauftragte inzwischen in ganz Deutschland gibt. Auch der behörden- und institutionenübergreifende runde Tisch gegen Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens in Hamburg ist aus unserer Sicht eine unverzichtbare Einrichtung, weil genau hier Expertenwissen, vielfältige Infos und Erfahrungen gebündelt zusammenkommen. Hamburg ist hier ganz weit vorn.