Lauenburg. Sein größter Erfolg war 1968 die Goldmedaille im Deutschland-Achter. Kritik übt er an dem Schweigen über die Nazi-Vergangenheit.

Als Dirk Schreyer mit dem legendären „Deutschland-Achter“ bei den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt 1968 zum Gold ruderte, demonstrierte zu Hause die Außerparlamentarische Opposition, kurz Apo – gegen den „Muff aus 1000 Jahren“. Legendär ist das Protestbild aus dem November 1967: Als Hamburger Professoren, gekleidet in Talaren, die Treppe im Audimax herunterschreiten, enthüllen Studenten ein entsprechendes Plakat. Die Aktion wurde zum Symbol der Studentenbewegung. Die Rebellion gegen die Elterngeneration kann Schreyer gut nachvollziehen, aber: „Ich war nie auf einer Demonstration, dazu hatte ich zu viel zu tun als Sportler.“

Festakt zu 100 Jahre RGL musste ausfallen

100 Jahre Lauenburger Rudergesellschaft: Dirk Schreyer, Olympiasieger von 1968, gratuliert.
100 Jahre Lauenburger Rudergesellschaft: Dirk Schreyer, Olympiasieger von 1968, gratuliert. © BGZ / Dirk Schulz | Elke Richel

Schreyer sollte eigentlich den Festvortrag beim Kommersabend der Rudergesellschaft Lauenburg (RGL) halten. Die ist im vergangenen Jahr 100 Jahre alt geworden, und Schreyer ist eines der langjährigsten und erfolgreichsten Mitglieder. 1957 war Schreyer der RGL beigetreten. „Ich war damals 13 Jahre alt und habe gleich meine erste Regatta auf dem Reihersee bei Brietlingen gewonnen – damals noch als Steuermann“, erinnert sich der heute 77-Jährige.

Übergabe der Ehrenflagge bei einem privaten Besuch

Weil die RGL jedoch alle Festlichkeiten wegen der Corona-Pandemie abgesagt hatte, überreichte Schreyer seinen Vortrag sowie die Ehrenflagge des Deutschen Ruderverbands (DRV) bei einem privaten Besuch an den RGL-Vorsitzenden Peter Perthun und Ruderwart Wolfgang Lattki und ging dabei auch auf die Geschichte der Rudergesellschaft ein, die zum großen Teil auch seine eigene ist.

Vergeblich, so Schreyer, habe er in Archiven und Chroniken nach Informationen über den Verein in der Zeit des Nationalsozialismus gesucht. 1940 war die RGL mit anderen Vereinen in die Sportgemeinschaft Lauenburg eingegliedert worden. Schreyer: „Danach gibt es keine weiteren Informationen mehr aus der Lauenburger Ruderei.“

In der Nachkriegszeit war die Nazi-Diktatur kein Thema

Zwar wurde ab 1946 wieder gerudert und ein Jahr später die RGL mit Genehmigung der britischen Militärregierung wiedergegründet, über die NS-Zeit wurde jedoch ein Mantel des Schweigens gehüllt. Das galt nicht nur für den Verein, sondern für das gesamte öffentliche Leben und die Familien.

„Die Menschen hatten keine Gelegenheit, die Traumata der NS-Zeit aufzuarbeiten“, konstatiert der 1944 Geborene. Für Schreyer erwies sich dieses Schweigen jedoch als Glücksfall: Weil er Zuhause keine Antworten auf seine Fragen erhielt, suchte er sie draußen – im Erleben der Natur bei mehrtägigen Ruderfahrten, im Gespräch mit Sportkameraden und beim sportlichen Wettkampf.

Höhepunkt war die Goldmedaille mit dem Achter 1968 in Mexiko-Stadt

Die Überreichung der Goldmedaille auf dem Bootssteg in Mexiko-Stadt 1968 an Dirk Schreyer. Der Lauenburger war hinter Schlagmann Horst Meyer die Nummer zwei im Boot. Ganz vorne steht „Wetterfrosch“ Gunther Tiersch, damals gerade einmal 14 Jahre alt.
Die Überreichung der Goldmedaille auf dem Bootssteg in Mexiko-Stadt 1968 an Dirk Schreyer. Der Lauenburger war hinter Schlagmann Horst Meyer die Nummer zwei im Boot. Ganz vorne steht „Wetterfrosch“ Gunther Tiersch, damals gerade einmal 14 Jahre alt. © BGZ | privat

Hinzu kommt: Schreyer hatte Talent. Von Lauenburg wechselte er bald an die Ratzeburger Ruderakademie, die von Karl Adam (1912-1976) geleitet wurde. „Er hat uns aufgefordert, eigene Gedanken zu entwickeln. Ihn konnten wir alles fragen – anders als meine damaligen Lehrer am Geesthachter Gymnasium“, erinnert sich Schreyer.

Adam lehrte sie, größte Zufriedenheit daraus zu ziehen, dass sie im Training immer und immer wieder ihren inneren Schweinehund besiegten. 1960 in Rom und 1968 in Mexiko-Stadt holte der von ihm trainierte Achter die Goldmedaille – Erfolge, die in der damaligen deutschen Öffentlichkeit ähnlich begeistert wie die Fußballweltmeisterschaft 1954 („Wunder von Bern“) oder der Ritt des verletzten Springreiters Hans Günter Winkler auf seinem Pferd Halla 1956 in Stockholm aufgenommen wurden.

Karl Adam: Ein Boxer revolutioniert den Rudersport

Adam wurde daraufhin aus „Ruderprofessor“ bezeichnet – dabei war er eigentlich Boxer. 1937 hatte er die Studentenweltmeisterschaft im Schwergewicht gewonnen. Als Student war Adam im November 1933 mit 2500 Kommilitonen zunächst der SA beigetreten, wechselte nach einem Jahr in den Deutschen Luftsport-Verband, ebenfalls eine Nazi-Organisation, aber weniger plakativ.

Dass er 1939 in die NSDAP eintrat, hängt mit seiner Berufung an die Nationalsozialistische Erziehungsanstalt (Napola) in Bensberg zusammen. Mit sanftem Druck wurde der Box-Weltmeister, der auch Lehrer für Mathematik und Physik war, dorthin gedrängt.

Adam baute in Ratzeburg eine Schülerruderriege auf

Dank der entlastenden Aussagen von Freunden, die bezeugten, Adam habe dem Nationalsozialismus „innerlich völlig ablehnend“ gegenübergestanden, wurde er 1947 vom Entnazifizierungsausschuss als „entlastet“ eingestuft und konnte seine Lehrerstelle an der Lauenburgischen Gelehrtenschule in Ratzeburg antreten. Dort baute er eine Schülerruderriege auf. Adam führte das Intervalltraining ein, intensivierte das Hanteltraining, verbesserte die Rudertechnik und modifizierte die Boote – mit überragenden Ergebnissen.

Auch ZDF-Meteorologe Gunther Tiersch ruderte mit

Davon profitierte auch Schreyer, dem Adam wie allen seinen Sportlern noch mehr mitgab: den Willen zum Sieg und das Leistungsverhalten im Sport als Modell für das spätere Leben zu nutzen. Deshalb gibt es unter Adams Sportlern auch viele Erfolgsgeschichten: Schreyer, der in Hamburg Volkswirtschaft studiert hatte, wurde Mitinhaber einer Versicherungsfirma, Horst Meyer leitete eine Unternehmensberatung und war Mitglied im Nationalen Olympischen Komitee, Hans Lenk Philosophieprofessor und Gunther Tiersch, Steuermann im Deutschland-Achter, moderierte als Meteorologe für mehr als 30 Jahr die Wettervorhersagen im ZDF.

Generation, die ohne geschichtliche Wurzeln aufgewachsen ist.

Was ihnen allen jedoch fehlte, so Schreyer, war ein Bewusstsein für ihre Erfolge: „Man hat die Ruderer des Achters aus den 1960er-Jahren mal in einer soziologischen Studie befragt, für wen sie denn ihre Erfolge errungen hätten – da kam nur Gestammel.“

Die Nachkriegsgeneration, so Schreyer, sei ohne Wurzeln aufgewachsen, weil Eltern und Großeltern nach Kaiserreich und Nazi-Diktatur mit ihren Kindern das Gespräch über die Vergangenheit nicht geführt hätten. Schreyer: „Wir haben trotz Flagge und Hymne bei der Siegerehrung nie die Identifikation mit einer Nation erleben können.“ Diese Erfahrung hätten erst spätere Generationen wieder machen können.

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