Hamburg. “Ich saß in der Kantine, als die Bombe explodierte“ – Claudia Bunks hofft, dass ihre Zeit in Afghanistan nicht umsonst war.
Sie hoffe, dass „nicht alles umsonst war“, sagt Claudia Bunks von der Polizei Hamburg. „Dass wir etwas hinterlassen haben, woran sich die Menschen erinnern und das ihnen hilft, weiterzukommen.“ „Die Menschen“, das sind Männer und Frauen in Kabul, in Mazar-e Sharif und in Kunduz, die sie ausgebildet und mit denen sie zusammengearbeitet hat.
„Wir“ – das ist das German Police Project Team. Claudia Bunks ist eine aus diesem inzwischen aufgelösten Team deutscher Polizistinnen und Polizisten. Die Truppe war fast 20 Jahre im Einsatz für den Frieden am Hindukusch. Ihr Ziel: in Afghanistan eine funktionsfähige Polizei aufzubauen. Erst als die USA ankündigten, ihre Truppen abzuziehen, endete auch die Mission der Hamburger Polizistin und ihrer Einheit.
Afghanistan: Deutsche Polizisten im Einsatz am Hindukusch
Rückblende. Ende 2001 ist das Mullah-Regime gestürzt, die Unterstützer festgenommen, vertrieben oder getötet von der Nord-Allianz um den „Löwen von Pandschschir“ und seiner Koalition rivalisierender lokaler Kriegsherren, zusammengehalten vom Hass auf die Taliban – und unterstützt von den USA. Die Schreckensherrschaft scheint beendet. In Genf kommt im Jahr darauf die G8-Geberkonferenz zusammen, um ein seit Jahrzehnten von Krieg und Terror zerrüttetes Land wieder aufzubauen.
Man einigt sich auf klare Zuständigkeiten: Die USA kümmern sich um den Aufbau einer afghanischen Armee, Großbritannien soll den Opiumanbau und -transport bekämpfen, Italien ein Justizsystem einführen und Deutschland dafür sorgen, dass eine Polizei entsteht, die den Namen verdient. Bundespolizisten arbeiten fortan in Kabul, in Mazar-e Sharif, Kunduz und Faizabad in einem Team mit Polizisten der 16 Bundesländer. Im Schnitt rund 50 deutsche Polizistinnen und Polizisten sind im Land, um Männer – und Frauen – zu Polizisten auszubilden, von denen viele noch nicht einmal schreiben und lesen können. Die Aufgabe der deutschen Experten nennt sich Train the Trainer, also Ausbildung der späteren Ausbilder und Lehrer.
Hamburger Hauptkommissarin: Mehr als 700 Tage lang im Afghanistan-Einsatz
Dreimal, erzählt die Hamburger Hauptkommissarin, sei sie, nachdem sie in Deutschland wochenlang intensiv vorbereitet wurde, dort im Einsatz gewesen, insgesamt „mehr als 700 Tage“. Ihr Testament hat sie geschrieben und eine Generalvollmacht ausgestellt, als sie von August 2012 an erst zwei Monate nach Kabul, dann zehn nach Kunduz geht. Jahre später kann Bunks erneut nach Afghanistan – als Verbindungsoffizierin zu den anderen internationalen Unterstützern. Ein Jahr soll sie in Kabul arbeiten. Doch dann kommt jener 14. Januar 2019.
„Ich saß in der Kantine, als die Bombe explodierte“, erinnert sich Bunks. Taliban hatten einen Laster beladen mit Sprengstoff am ummauerten „Green Village“, wo rund 2500 ausländische Hilfskräfte lebten, zur Explosion gebracht. Vier Menschen starben. Mehr als 100, darunter 25 Kinder, wurden schwer verletzt. Die meisten von ihnen außerhalb der Mauer, also Afghanen, die sich nahe des „grünen Dorfes“ mitten in Kabul aufhielten. Zwei Kollegen von Bunks, die im Fitnessstudio auf dem Gelände, das als sicher galt, trainierten, rissen die gewaltige Druckwelle und das Glas zerbrochener Fenster von den Beinen und verletzten sie. Zumindest schaffte es keiner der vier Attentäter, ins „Green Village“ vorzudringen. In der Kantine stürzte die Deckenverkleidung auf die Besucher – ohne sie schwerer zu verletzen.
Von den Afghanistan-Einsätzen spricht die Hauptkommissarin als "Chancen"
Die Hamburger Polizistin hatte wie ihre Kollegen zuvor gelernt, mit der Gefahr zu leben „Man musste mit Anschlägen rechnen. Wir sind darauf trainiert worden, achtsam zu sein. Nur so konnten wir ohne Angst in Kabul leben.“ Das Innenministerium lässt dennoch ein Kriseninterventionsteam einfliegen. Psychologen und speziell geschulte Polizisten sollen den Menschen aus dem German Police Project Team helfen, mit dem Angriff klarzukommen. Bunks zögert keinen Moment, aufzugeben kommt nicht in Frage, ihre Mission ist noch nicht zu Ende. Nach einem kurzen Winterurlaub in Österreich soll es weitergehen in Kabul, entscheidet sie sich.
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Nur kehrt die erfahrene Skiläuferin mit einem Kreuzbandriss nach Hause in Hamburg zurück. Den unterbrochenen Einsatz in Afghanistan fortzusetzen, kann sie vergessen. „Dabei war ich noch nicht fertig dort“, erzählt die 53-Jährige. „Als ich wieder gesund war, bekam ich eine dritte Chance“, sagt Bunks. Am 20. Januar 2020 kann sie wieder hin. Jetzt wird sie für mehr als ein Jahr in Kabul bleiben. Aber nicht mehr im „Green Village“ – nach einem zweiten, noch verheerenderen Anschlag im September 2019 mit 22 Toten und wieder mehr als 100 Verletzten wird das „Dorf“ aufgegeben. Ohne den Kreuzbandriss wäre sie vermutlich in dem Camp gewesen, als Terroristen die Autobombe zündeten.
Ohne Schutzausrüstung darf niemand die Anlage in Kabul verlassen
Bunks‘ Aufgabe beim dritten Einsatz ist es, sich im Personalbüro in Kabul um die Kollegen, um Ein- und Ausreise, Urlaube oder Nachbesetzungen zu kümmern. Sie hilft außerdem bei allen Projekten, die anstehen. Die Afghanen – Bunks spricht lieber von „den Kollegen“ – nimmt sie als „absolut offen, interessiert und dankbar“ wahr. Es gibt Einladungen zum Tee nach Hause. Nur annehmen kann sie diese Einladungen in der sich ständig weiter zuspitzenden Situation nicht. „Leider!“ In schwer gepanzerten, zivilen Wagen sind die deutschen Polizisten in Kabul unterwegs, daran, sich privat und ungeschützt in der Stadt zu bewegen, ist schon lange nicht mehr zu denken. Wer dienstlich nach Kunduz oder Mazar-e Sharif muss, fliegt mit Hubschraubern oder Militärmaschinen.
Schutzhelm und -weste, Pistole und Sturmgewehr, Erste-Hilfe-Material und Überlebensrucksack sind Pflicht, sobald Bunks die Anlage verlässt. Um die 25 Kilo Ausrüstung schleppt sie dann mit sicher herum Und drinnen? Gelebt wird streng bewacht hinter Mauern und Stacheldraht, jeder hat seinen zehn Quadratmeter kleinen Container. Es gibt Billard und Darts, man sitzt an Lagerfeuern und erzählt sich vom 5000 Kilometer entfernten Zuhause, macht Sport im Fitnessraum, steht Weihnachten am geschmückten Plastikbaum, isst in der Kantine oder dem kleinen Restaurant auf dem Gelände. Und man hält via Wlan den Kontakt mit den Lieben daheim – wie Bunks es tat mit ihrer Familie in Nordfriesland, wo Mutter, Bruder, Schwester und deren Sohn, der selbst ständig (für die Bundeswehr) auf Auslandseinsätzen ist, leben.
Hauptkommissarin Bunks hofft, dass die Arbeit in Afghanistan nicht umsonst war
Als im Sommer die Taliban das Land nach dem überstürzten Abzug der US-Truppen überrennen, als die Ortskräfte, die Dolmetscher, Fahrer, Helfer in den Camps versuchen, sich in eine Maschine raus aus dem Land zu retten, als bei einem Selbstmordanschlag im Gewühl 170 Afghanen und 13 US-Soldaten sterben – da erkennt Bunks zu Hause am Bildschirm alles wieder: Den Flughafen, die Zuwegung, das Rollfeld, das Terminal. Die Bilder muss sie als schrecklich, verstörend und herzzerreißend empfunden haben. Sie sagt, dass sie sich um die Menschen sorgt. Und dass sie hofft, dass die Arbeit nicht umsonst war.
Afghanistan sei ein wunderschönes Land, so Bunks. Die Natur abseits von Kabul oder Kunduz überwältigend, die Märkte in den Städten bunt und vielfältig, viele Menschen äußerst herzlich. Wieder zu Hause, nimmt Bunks wahr, wie „gut es uns gut“. Sie muss nach dem langen Aufenthalt in Kabul wieder lernen, mit „dem Reichtum und der Reizüberflutung“ zurecht zu kommen. „Es ist eine so andere Welt, in die ich eingetaucht war.“ Die Zeit am Hindukusch sei eine großartige Erfahrung gewesen, sagt die Hauptkommissarin, die vor ihrem ersten Afghanistaneinsatz die üblichen Stationen bei der Polizei durchlaufen hat: Wache, Bereitschaftspolizei, Leitungsstab. Aktuell gehört sie zum Stab der Schutzpolizei, koordiniert mit Kollegen Fußballspiele, Triathlon, Marathon - und Demonstrationen.
Ihr Vater wäre vermutlich sehr stolz gewesen auf seine Claudia. Leider sei er früh gestorben, sagt die Tochter. Er habe zwar mitbekommen, dass sie vor 33 Jahren zur Polizei ging, aber vor ihrem ersten Auslandseinsatz war er, der Dorfpolizist aus dem Ein-Mann-Revier von Risum-Lindholm bei Niebüll, schon tot gewesen. Und die Mutter? „Die sagte nur: ,Wenn das dein Wunsch ist, mach es‘“, erinnert sich Bunks.