Hamburg. Im Januar geht der Jurist in Pension. Er hat viele spektakuläre Mordfälle verhandelt. Was das mit einem macht, wie man das bewältigt.
Er hat das Böse erlebt. Die Abgründe des Lebens. Er hatte viele Jahre seines Berufslebens mit Menschen zu tun, die andere umgebracht haben. Als Vorsitzender Richter am Schwurgericht verhandelte Joachim Bülter die letzten 13 Jahre seiner juristischen Karriere über Mord und Totschlag. Und doch sagt der 66-Jährige: „In den meisten Fällen sitzt auf der Anklagebank nicht der Killertyp.“ Er wolle nicht so weit gehen zu sagen, „dass jeder zum Mörder werden kann. Doch jeder kann in Grenzsituationen geraten, in denen er sich so benimmt, wie er selber glaubte, dass er sich nie verhalten würde.“
Nach 39 Jahren in der Justiz hat Bülter jetzt sein letztes Urteil verkündet. Am 31. Januar geht der gebürtige Hamburger offiziell in Pension. Zeit, Bilanz zu ziehen über einen Beruf, von dem er sagt, er sei wichtig, interessant, und er sei auch befriedigend. „Es ist immer die Arbeit am und mit dem Menschen, die mich fasziniert hat. Auch wenn es oft um bedrückende Schicksale geht.“
Joachim Bülter: Richter am Schwurgericht geht in Pension
Das Schicksal der kleinen Yagmur, die im Alter von drei Jahren von ihrer Mutter totgeprügelt wurde, sei „ganz sicher einer der herausragenden Fälle“ gewesen, mit denen er je konfrontiert war, sagt Bülter. „Das war in mehrfacher Hinsicht besonders beklemmend und traurig.“ Schon lange vor seinem Tod am 13. Dezember 2013 war das Kind immer wieder von seiner Mutter misshandelt und gequält worden. Als Yagmur starb, stellten Rechtsmediziner mehr als 80 Verletzungen fest. „Das Mädchen hat wirklich über lange Zeit gelitten“, sagt der Jurist.
Die Mutter wurde zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Der Vater der Kleinen, der die Misshandlungen nicht verhindert hatte, erhielt viereinhalb Jahre Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen. „Es war ein Verfahren, in dem auch Defizite in den Jugendämtern eine Rolle gespielt haben“, erinnert sich Bülter. So hätten die Mitarbeiter beispielsweise nicht insistiert, Yagmur zu sehen, wenn die Mutter behauptete, ihre Tochter schlafe. „Dass man sich beim Verdacht einer Kindeswohlgefährdung und Misshandlung so abspeisen lassen kann, war für das Gericht nicht nachvollziehbar.“
Yagmurs Mutter habe ihrer Tochter nicht nur schwerste körperliche Misshandlung zugefügt, „sondern auch das Grundvertrauen des Kindes wurde immer wieder verraten. Yagmur war in besonderer Weise ein wehrloses Opfer“, sagt Bülter. „Der Fall hat auch in meiner Erinnerung Spuren hinterlassen.“
Manchmal droht ihm die Stimme wegzubrechen
Eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen wie in diesem Fall, sei „das schärfste Schwert, das das Strafrecht bereithält. Es ist selbstverständlich, dass man so ein Urteil nicht mit leichter Hand ausspricht. Man prüft sich ganz gründlich im kammerinternen Diskurs. Wir wollen so sicher wie irgend möglich sein, dass wir auf der richtigen Seite sind.“
Bei einer Urteilsverkündung wie im Prozess um das zu Tode gequälte Kind kämen ihm zwar nicht die Tränen. „Aber manchmal muss ich eine Pause machen, weil die Stimme zu brechen droht.“ So belastende Fälle nehme er auch „mit nach Hause“, erzählt Bülter. „Man muss im privaten Umfeld verständnisvolle Zuhörer haben und Dinge abladen können. Sonst ist das nicht zu bewältigen.“
Dass gerade in Schwurgerichtsfällen drei Berufsrichter zu einer Kammer gehören, habe „seine Richtigkeit“, betont der Jurist. „Es ist absolut notwendig, insbesondere nach sehr belastenden Prozesstagen über das Erlebte sprechen zu können. Wir begegnen uns – unabhängig vom Lebensalter – auf Augenhöhe. Auch der deutlich gestiegene Anteil von sehr gut qualifizierten Frauen hat sich in vielfältiger Weise positiv ausgewirkt. Und der kammerinterne Diskurs führt dazu, dass man die Feinheiten eines Verfahrens besser erfassen kann.“
Richter Bülter: Fasziniert von der Kombination aus Jura und Rechtsmedizin
Dass er eines Tages Jurist werden würde, zeichnete sich bei dem heute 66-Jährigen bereits sehr früh ab. „Es gab in den 60er- und 70er-Jahren die Sendung: ,Das Fernsehgericht tagt‘, sozusagen die Mutter aller Gerichtssendungen“, erinnert sich Bülter. „Da verhandelten Juristen reale Fälle. Schon in meinem damals jugendlichen Alter fand ich diese Verfahren hochinteressant. Da entstand bei mir der Impuls: Das will ich auch mal machen.“ Nach dem Studium wurde er im Alter von 27 in der Hamburger Justiz als Richter eingestellt, arbeitete überwiegend im Strafrecht, unter anderem als Ermittlungsrichter und bei einer Kammer, die über Drogendelikte verhandelte.
Mitte der 90er-Jahre kam Bülter als stellvertretender Vorsitzender zum Schwurgericht, wo er – nach kurzer Unterbrechung in anderen Bereichen der Justiz – 2008 schließlich Vorsitzender wurde. „Die Fälle um versuchte und vollendete Tötungsdelikte haben mich immer sehr interessiert. Beiden Seiten gleichermaßen gerecht zu werden, den Angeklagten und den Opfern, war mir stets ein Anliegen. Es ist auch wichtig, auf die Befindlichkeiten und Betroffenheit von überlebenden Opfern, die ihr Leben lang gezeichnet sind, sowie der Angehörigen von Todesopfern einzugehen.“
Manche Menschen seien ratlos, wie man sich das freiwillig antun könne: der Umgang mit Gewalt, Leid und Schmerz, mit Toten und solchen Menschen, die einen Angriff auf ihr Leben knapp überlebt haben. „Aber mich fasziniert die Schnittmenge von Jura, forensischer Psychiatrie und Rechtsmedizin.“
Bülter: Bei Tötungsdelikten spielt oft ein Affekt eine Rolle
Man dürfe als Schwurgerichts-Vorsitzender „nicht denken: Die Welt ist generell schlecht“, warnt Bülter. „Wir erleben nur das Ergebnis dessen, was lange schiefgelaufen ist. Wir erleben den Negativausschnitt. Trotzdem glaube ich noch absolut an das Gute im Menschen.“ Wichtig sei es für ihn, privat einen Ausgleich zum Beruf zu haben, „etwas zu erleben, worauf man man sich freut, Sport zum Beispiel, Theater, Konzerte oder Reisen. Man muss sich auch etwas Schönes gönnen.“
Was er aus seiner langen Tätigkeit beim Schwurgericht über die Menschen gelernt hat?
„Es gibt natürlich auch festgelegte Gewalttäter wie Auftragsmörder.“ Aber: Viele Tötungsdelikte resultierten aus sich zuspitzenden Konflikten, und häufig spiele ein Affekt eine Rolle. Das gelte beispielsweise für Partnerschaften, in denen keine Streitkultur herrsche. „Und irgendwann greift einer zum Brotmesser. Eine beachtliche Anzahl von Fällen ist im Vorfeld durch eine Beziehungsproblematik oder eine Persönlichkeitsproblematik getriggert. Oft geht es um Männer, die ein ganz schwaches Selbstwertgefühl haben. Warum müssen so viele mit einem Messer herumlaufen? Oder mit der Gaspistole oder einer scharfe Waffe?“ Das Strafrecht komme „häufig zu spät, und man kann nur noch die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen anwenden“. Er begrüße allerdings, dass die Rechte der Opfer im Strafverfahren stärker zur Geltung kämen. „Aber wir sind noch nicht am Ende dessen, was wünschenswert wäre.“
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Der Unterschied zwischen Mord und Totschlag
Er hoffe, sagt Bülter, dass die neue Bundesregierung sich „mal an die Dogmatik der vorsätzlichen Tötungsdelikte herantraut, die Differenzierung zwischen Mord und Totschlag aufzulösen“. Bei Mord hat das Gericht in der Regel keinen Spielraum, eine geringere Strafe als lebenslang auszusprechen – sofern keine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit vorliegt. Ein Mord ist stets durch besondere Merkmale wie beispielsweise Grausamkeit, Habgier oder Heimtücke gekennzeichnet. Das Merkmal, das am häufigsten zum Tragen komme, sei die Heimtücke, erklärt Bülter.
Also das „bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit“ eines Opfers. „Es gibt aber beim Mord auch Fälle, die weniger schwerwiegend sind. Ich würde es begrüßen, eine einheitliche Norm für Tötungsdelikte zu schaffen und dann nach besonders schweren Fällen mit der Folge lebenslanger Freiheitsstrafe und minder schweren Fällen mit einem milderen Strafrahmen zu unterscheiden. Ein Gericht hätte dann eine größere Bandbreite, um die richtige Strafe zu finden.“
Besondere Schwere der Schuld beim „Doppelmord am Jungfernstieg“
Lebenslange Haft wegen Mordes gab es in Bülters Schwurgerichtskammer beispielsweise bei einem Fall, bei dem eine Frau und ihre Tochter getötet wurden. Die Tat wurde als „Doppelmord am Jungfernstieg“ bekannt. Ein aus Niger stammender Mann hatte nach einem Sorgerechtsstreit um seine zwei Jahre alte Tochter auf einem Bahnsteig am Jungfernstieg die Frau und das kleine Mädchen mit einem Messer attackiert. Das Kind wurde dabei nahezu enthauptet. Der Mutter stach der Täter seitlich in den Rumpf und traf dabei die Hauptschlagader. „Sie war schon klinisch tot, als sie ins Krankenhaus kam.“
Der Fall zeige, dass es ein „großes Problem sein kann, wenn Menschen aus anderen Kulturkreisen nicht mit unseren Werten aufwachsen, sie auch nicht verstehen können – und es dann zu solchen Tragödien kommt.“ Neben der lebenslangen Haft für den Täter stellte Bülters Kammer die besondere Schwere der Schuld fest. Das bedeutet, dass eine vorzeitige Entlassung zur Bewährung nach 15 Jahren praktisch ausgeschlossen ist.
„Er hat auch versucht, den 38-Jährigen zu enthaupten“
Auch ein anderer Fall ist dem Juristen ganz besonders in Erinnerung. Es ging um einen Mord von 2003, bei dem es erst 13 Jahre später zum Prozess kommen konnte. „Das war praktisch ein Cold Case“, erzählt Bülter. „Es war schwierig, die Tat aufzuklären. Der Mörder bekam von Bekannten zunächst ein falsches Alibi.“
Ein 38-Jähriger war im Schlaf attackiert worden. Der Täter stach immer wieder auf das Opfer ein. Als das Messer abbrach, nahm er ein neues. Schließlich hielt er das Opfer für tot, doch der Mann rappelte sich wieder auf, rannte laut um Hilfe schreiend durchs Treppenhaus und versuchte, in einen Innenhof zu entkommen. Dort holte der Täter ihn ein und stach erneut zu. „Er hat auch versucht, den 38-Jährigen zu enthaupten“, berichtet Bülter. „Es war ein gruseliges Verletzungsbild.“ Das Motiv für die Tat war Eifersucht. Das Opfer hatte ein Verhältnis mit der Ehefrau des späteren Mörders.
Spektakulärer Fall: Restaurant-Pächter wird um Schutzgeld erpresst
Aufgeklärt werden konnte der Fall erst, als sich ein Bekannter eines an der Tat beteiligten zweiten Mannes viele Jahre später der Polizei offenbarte, und aufgrund weiterer Zeugenaussagen. „Der Angeklagte hat das Verbrechen letztlich gestanden, am 34. Verhandlungstag. Er behauptete aber, es habe vor der Tat einen Streit gegeben, und er habe dann im Affekt zugestochen. Das haben wir ihm angesichts der Beweislage nicht geglaubt.“ Die Kammer verhängte lebenslange Haft.
In Schwurgerichtsprozessen kommt es allerdings auch mal zum Freispruch. Spektakulär war das Verfahren um einen Mann, der als einbetonierte Leiche in einer Gaststätte in St. Georg gefunden wurde. Hintergrund war der Streit des Restaurant-Pächters mit einem Mann, der ihn schon länger um Schutzgeld erpresst hatte. Die Auseinandersetzung eskalierte im September 2015: Es kam zu einem Gerangel zwischen dem Opfer und seinem Erpresser, bei dem dieser eine scharfe Waffe dabei hatte und drohte, dass einer der beiden diesen Kampf nicht überleben werde. Der Restaurant-Pächter bekam, nachdem die Kontrahenten zu Boden gefallen waren, die Pistole zu fassen und schoss.
Aus Notwehr gehandelt und freigesprochen
„Im Nachbarraum der Lokalität war für Renovierungsarbeiten schon eine Grube ausgehoben“, so Bülter. Dort betonierte der Schütze den Toten ein. Zwei Monate lang speisten nun die Gäste in dem Lokal – nicht ahnend, dass in der Nähe eine Leiche lag. Schließlich wurde der Tote entdeckt, dem Schützen der Prozess gemacht. Doch die Kammer um Bülter sprach den Angeklagten im August 2016 frei – wegen Notwehr.
„Die Tat war an der äußersten Grenze dessen, was Notwehr abdeckt“, erläutert der Jurist. „Man darf nicht nur mit gleicher Münze zurückzahlen, sondern den Angriff unter Berücksichtigung von Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im äußersten Fall auch durch Tötung des Angreifers abwehren und dauerhaft beenden – wenn keine mildere Möglichkeit mehr zur Verfügung steht.“ Der Freispruch wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt.
Joachim Bülter: Eine „vom Angeklagten verschuldete Katastrophe“
Ein Fall, den Bülter in einer Urteilsverkündung als „vom Angeklagten verschuldeten Katastrophe“ bezeichnete, war der Mord an einer 22 Jahre alten Frau. Sie war wenige Monate verheiratet, hatte mit ihrem Mann eine gemeinsame Wohnung bezogen. Als das Schicksal am 22. April 2019 zuschlug, hatte das Paar gerade eine Küche eingebaut. „Danach ging er duschen, sie bereitete ihm inzwischen Essen zu“, erinnert sich Bülter. „Als er wenige Minuten später aus dem Bad kommt, ist seine Frau nicht mehr da.“
Ein Nachbar, so stellte sich im Prozess zur Überzeugung des Gerichts heraus, hatte die junge Frau unter einem Vorwand aus der Wohnung gelockt und in seine verschleppt. Dort versuchte er, sie zu vergewaltigen. „Als sie sich wehrte und schrie, hat er so lange mit dem Fuß auf den Hals des am Boden liegenden Opfers gedrückt, bis es erstickte.“ Danach schleifte der 34-Jährige die junge Frau durchs Treppenhaus in den Hof und legte sie in einem Gebüsch ab. „Eben noch war in dem Leben der Frau alles gut. Und dann wird sie ermordet, mitten aus dem Leben gerissen. Was für ein Verhängnis das ist!“