Hamburg. Corona kann manche Konflikte der rot-grünen Koalition noch überdecken. Doch das könnte sich bald ändern – schon in diesem Jahr gab es Zoff.

Macht und Einfluss eines Politikers lassen sich nicht zuletzt auch daran bemessen, ob und für welche
„höheren“ Aufgaben er gehandelt wird. Nach dem für die SPD überraschend erfreulichen Ausgang der Bundestagswahl am 26. September glaubten nicht wenige, Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) könnte Bundesgesundheitsminister der neuen Ampelregierung werden.

Der habilitierte Labormediziner ist schließlich gewissermaßen vom Fach und hat sich als besonnen-sachlicher Regierungschef in der Bekämpfung der Corona-Pandemie auch bundesweit einen Namen gemacht. Die Spekulationen schossen derart ins Kraut, dass erste aufgeregte Zeitgenossen schon darüber diskutierten, wer denn Tschentscher im Rathaus nachfolgen solle oder könne.

Politik in Hamburg: Tschentscher dürfte erleichtert sein

Es kam bekanntlich anders. Oberster Pandemiebekämpfer im Ministerrang ist in Berlin nun der notorische Karl Lauterbach (SPD). Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Tschentscher-Vorgänger als Bürgermeister, befand, dass dessen Platz weiterhin in Hamburg sei.

Tschen­tscher selbst dürfte darüber sogar erleichtert gewesen sein, denn die Gesundheitspolitik bindet zwar wegen Corona seit zwei Jahren seine Arbeitskraft in starkem Maße, ist aber eigentlich kein politischer Schwerpunkt für ihn. Und noch alle Bürgermeister haben die Vielfalt der Themen und Tätigkeiten in diesem Amt gelobt. Vom allfälligen Ärger als Gesundheitsminister einmal abgesehen.

Dennoch: Die politischen Koordinaten haben sich mit der Bundestagswahl zugunsten Hamburgs verschoben. Die Wege zwischen dem Rathaus und dem Machtzentrum in Berlin sind kürzer geworden. Das liegt in erster Linie daran, dass mit Olaf Scholz nun ein Hamburger im Kanzleramt sitzt.

Er und Tschen­tscher telefonieren schon mal mehrere Stunden etwa über die weitere Entwicklung der Pandemie und daraus abzuleitende Schlussfolgerungen. Nicht weniger Hamburger und ebenfalls mit allen hiesigen Akteuren bestens bekannt ist auch Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD).

Die rot-grüne Dominanz ist in Hamburg größer geworden

Und auf grüner Seite sitzt die frühere Stadtentwicklungssenatorin und langjährige Bundestagsabgeordnete Anja Hajduk als beamtete Staatssekretärin an einer zentralen Schaltstelle des von Robert Habeck (Grüne) geleiteten Ministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Es ist die Aufgabe des rot-grünen Senats, aus dieser günstigen Konstellation etwas Gutes für die Stadt zu machen.

Zweiter Befund: Die rot-grüne Dominanz an Alster und Elbe ist durch die Ergebnisse der Bundestagswahl noch einmal bekräftigt worden. Mit 29,7 Prozent Zweitstimmenanteil liegt die SPD klar vor dem Koalitionspartner von den Grünen mit 24,9 Prozent. Deutlich abgeschlagen folgen CDU (15,4 Prozent), FDP (11,4), Linke (6,7) und AfD (fünf).

Dass die Grünen ein ernst zu nehmender Herausforderer der SPD auch bei der Bürgerschaftswahl 2025 sein werden, zeigt der Blick auf die Erststimmen. Erstmals konnte die Partei mit Linda Heitmann im Wahlkreis Altona und Ex-Justizsenator Till Steffen in Eimsbüttel zwei Direktmandate in Hamburg gewinnen und die SPD-Kandidaten auf den zweiten Platz verweisen. Die Grünen sind in Hamburg keine Milieupartei mehr.

Rivalität in der Regierung von Hamburg

Diese Rivalität zwischen den Koalitionsparteien, die ja schon den Bürgerschaftswahlkampf Anfang 2020 prägte, hat sich im Regierungsalltag fortgesetzt. Man redet gern mal schlecht über den jeweils anderen, zeigt sich hier und da gereizt vom politischen Partner.

Es kommt hinzu, dass die seit 2020 fast doppelt so große Bürgerschaftsfraktion der Grünen ein neues Selbstbewusstsein ausstrahlt und viele, seit 2015 eingespielte rot-grüne Automatismen wie die Vermeidung öffentlich ausgetragener Differenzen nicht mehr einfach hinnehmen mag.

Ein ums andere Mal haben sich die beiden Fraktionsvorsitzenden Jennifer Jasberg und Dominik Lorenzen mit Vorstößen oder Positionen zu Wort gemeldet, die nicht mit der SPD abgesprochen waren. Mitte November und noch vor der Omikron-Variante des Virus sprach sich Jasberg für eine allgemeine Impfpflicht unter bestimmten Voraussetzungen aus. Da waren die Sozialdemokraten noch lange nicht so weit.

Senat in der Kritik: Zweifel an der Krisenperformance

Jasberg und Lorenzen scheuen auch vor einer Kritik am Senat in der Corona-Politik etwa beim Impftempo nicht zurück, was auch den Druck auf die grünen Senatsmitglieder erhöht. Manch frus­trierter Sozialdemokrat warf den Grünen-Vorturnern da schon „Opposition in der Regierung“ vor. SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf zeigte sich irritiert darüber, dass „nun vonseiten der Grünen-Fraktionsspitze, die es besser wissen müsste, Zweifel an der Krisenperformance des Senats geäußert werden“.

Nüchtern betrachtet hat die rot-grüne Landesregierung mit breiter Unterstützung der Bürgerschaft die Hamburgerinnen und Hamburger in den vergangenen zwölf Monaten vergleichsweise gut durch die Pandemie geführt. Die Inzidenzzahlen waren – jedenfalls lange – ebenso wie die Hospitalisierungsrate im Ländervergleich erfreulich niedrig.

Tschentscher gehört im Kreis der Regierungschefs und -chefinnen zum „Team Vorsicht“, dem auch Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zugerechnet wurde. Verschärfungen der Pandemie-Beschränkungen wurden hier zumeist eher und Lockerungen später beschlossen. Die Maskenpflicht im Schulunterricht galt sogar ununterbrochen. Das über Wochen recht erfolgreiche 2G-Modell wurde zuerst in Hamburg eingeführt. Erst gegen Ende des Jahres trübte das gute Bild ein.

Corona in Hamburg: „Organisationschaos“

Da war der Ärger über die erneut schleppend angelaufene Impfkampagne – diesmal für das Boostern –, die zu geringe Zahl von Schnelltestzen­tren mit der Folge langer Warteschlangen und die falschen Zahlen geimpfter und ungeimpfter Infizierter, mit denen Tschentscher über Wochen operiert hatte. CDU-Oppositionschef Dennis Thering attestierte dem rot-grünen Pandemiemanagement „Organisationschaos“.

Das beinahe abgelaufene Jahr 2021 hat aber auch gezeigt, dass persönliche Unzulänglichkeiten, Schrittfehler und Sticheleien im Bündnis zugenommen haben und das Klima belasten.

Ein Lehrstück darüber, wie man einem unangenehmen Vorgang durch ungeschicktes Verhalten erst öffentliche Aufmerksamkeit bescheren kann, hat Innensenator Andy Grote (SPD) geliefert. Am Anfang stand ein im Mai an Grote gerichteter Tweet mit dem abschätzigen Satz „Andy, Du bist so 1 Pimmel“. Das war eine Reaktion darauf, dass Grote Menschen, die trotz Corona im Schanzenviertel feierten, als „ignorant“ bezeichnet hatte.

Innensenator Andy Grote und das „Pimmelgate“

Grote, der 2020 nach seiner erneuten Berufung zum Senator selbst unter Missachtung der Corona-Regeln in einer Bar gefeiert hatte, stellte Strafantrag wegen Beleidigung. Das mag nachvollziehbar sein. Doch nachdem die Staatsanwaltschaft die Wohnung des mutmaßlichen „Tweet“-Urhebers durchsucht hatte – in solchen Fällen eher unüblich –, stellte sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns.

Spätestens als dann ein Plakat mit dem einschlägigen Satz des Tweets an der Roten Flora auftauchte, war die Angelegenheit für Grote zum „Pimmelgate“ geworden. Polizeibeamte mussten das Plakat übertünchen, worauf es neu gemalt wurde. Ein Katz-und-Maus-Spiel mit munterer medialer Begleitung begann, bei dem Grote nur den Kürzeren ziehen konnte.

Justizsenatorin Gallina und Staatsrätin im Zwist

Zur Rubrik „ganz schlecht gelaufen“ hat auch Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) einen nennenswerten Beitrag geleistet. Ende Oktober bat die Senatorin selbst für enge Parteifreunde völlig überraschend und Knall auf Fall Bürgermeister Tschentscher, ihre Staatsrätin Katja Günther (Grüne) zu entlassen. Seit Monaten war die Auseinandersetzung zwischen den beiden Frauen eskaliert, ohne dass etwas nach außen drang.

Gallina warf Günther Illoyalität und eigenmächtiges Handeln vor. Als der Zwist durch einen Bericht des Abendblatts öffentlich zu werden drohte, versuchte Gallina mit einem Rauswurf Günthers die Reißleine zu ziehen und Handlungsstärke zu demonstrieren.

Das gelang allenfalls zum Teil. Tschentscher, der seine Zusammenarbeit mit Günther pikanterweise ausdrücklich lobte, versetzte die Staatsrätin nicht in den einstweiligen Ruhestand, sondern verschaffte ihr einen neuen Posten bei der Hamburg Port Authority (HPA). Gallina konnte sich zudem nicht mit ihrem Wunschkandidaten für den Staatsratsposten durchsetzen.

Erst Wochen später wurde mit Holger Schatz, bis dahin Leiter des Strafvollzugsamtes, ein Nachfolger für Günther berufen. Mit Schatz, der ausgerechnet ein SPD-Parteibuch hat, steht ein hoch angesehener Jurist und Behördeninsider der Nicht-Juristin Anna Gallina zur Seite.

Cum-Ex als Damokles-Schwert für die Sozialdemokraten

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) zum Cum-Ex-Skandal hat bislang keinen eindeutigen Beweis für eine Einflussnahme von Scholz als damaligem Bürgermeister oder Tschen­tscher als Finanzsenator auf eine erste Entscheidung der Steuerverwaltung 2016 gefunden, auf eine Steuerrückforderung gegen die Warburg-Bank in Höhe von 47 Millionen Euro wegen Cum-Ex-Geschäften zu verzichten.

Wie risikobehaftet und skandalgeneigt die ganze Angelegenheit für die SPD gleichwohl nach wie vor ist, zeigte dieser Vorgang: Ende September wurde bekannt, dass der SPD-Landesvorstand 2017 mehrere Spenden der Warburg-Bank und mit ihr verbundener Firmen in Höhe von 45.500 Euro abgenickt hatte, obwohl damals bereits die Ermittlungen gegen die Bank wegen der Cum-Ex-Deals bekannt waren.

Einer der Spendenempfänger war der SPD-Kreisverband Hamburg-Mitte, der vom damaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs geleitet wurde. Kahrs wiederum soll Warburg-Mitinhaber Christian Olearius beraten haben.

Provokation durch Klimabeirat

In die Kategorie „gezielte Provokation“ des Koalitionspartners fällt diese Personalie: Mitte Mai holte Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) den langjährigen BUND-Landesgeschäftsführer Manfred Braasch als Leiter der Geschäftsstelle des neu gegründeten wissenschaftlichen Klimabeirates in die Behörde. Braasch war einer der maßgeblichen Gegner der (SPD-)Umwelt- und Energiepolitik – ob Netzerückkauf, Elbvertiefung oder Stickoxid-Belastung. Entsprechend schmallippig fiel die Reaktion aufseiten der SPD aus.

Eben dieser Klimabeirat ließ mit seiner ersten Stellungnahme Anfang Dezember aufhorchen. Die Experten, die aus dem Koalitionsvertrag der Ampel-Bundesregierung Ziele für Hamburg abgeleitet haben, sprachen sich unter anderem für eine Absenkung des Wohnungsbauprogramms von 10.000 auf 5000 Wohnungen jährlich aus.

Die Bevölkerungsprognose sei rückläufig, Wohnungsbau belaste das Klima durch Energieeinsatz, Material- und Flächenverbrauch. Innerkoalitionäre Konflikte dürften damit programmiert sein: Die Notwendigkeit von 10.000 neuen Wohnungen jährlich gehört zum ehernen Überzeugungsbestand der SPD.

Es kommt hinzu, dass Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) vor wenigen Tagen den höchsten Mietenanstieg seit zwei Jahrzehnten mit durchschnittlich 7,3 Prozent seit 2019 verkünden musste. Aus SPD-Sicht trägt das Wohnungsbauprogramm gerade zur Dämpfung des Preisanstiegs bei. Wenn nun auch noch weniger Wohnungen gebaut werden sollten ...

Innerkoalitionäre Konflikte durch Corona überdeckt

Als Menetekel für das innerkoalitionäre Klima könnte sich die Volksinitiative „Rettet Hamburgs Grün – Klimaschutz jetzt“ erweisen, der es darum geht, alle Grün- und Erholungsflächen von mindestens einem Hektar im gesamten Stadtgebiet zu erhalten. Die erste Hürde mit mehr als 10.000 Unterstützer-Unterschriften haben die Initiatoren vor wenigen Tagen genommen.

Die fortdauernden Belastungen und Handlungserfordernisse durch die Pandemie haben manchen innerkoalitionären Konflikt überdeckt. Es spricht viel dafür, dass die rot-grüne Koalition „nach Corona“ vor einer Reihe wichtiger Richtungsentscheidungen steht, die alte Konflikte wieder aufreißen könnten.

Im Prinzip geht es um die Frage, auf wie weitreichende Einschnitte und wie hohe finanzielle Belastungen für die Bevölkerung für einen besseren Klimaschutz sich SPD und Grüne verständigen. Dazu gehört auch die Frage, wie stark der private Autoverkehr zugunsten des Radverkehrs auf den Straßen zurückgedrängt werden soll.