Hamburg. Im Hamburger Rathaus wird Claudia Schmidt, Kinderschutzkoordinatorin, mit dem Yagmur-Erinnerungspreis geehrt. Über ihre Aufgaben.
Mit mehreren Knochenbrüchen wird ein dreijähriges Mädchen eingeliefert. Es sei leider unglücklich gestürzt und dann die Treppe hinuntergepurzelt, erzählen die aufgewühlten Eltern. Doch die Röntgenaufnahmen erzählen eine ganz andere Geschichte. Wie bei dem wenige Wochen alten Säugling, der in die Notaufnahme gebracht wird, weil er vom Wickeltisch gerollt sein soll. Obwohl er sich doch noch gar nicht selbstständig drehen kann.
„Wenn die Art der Frakturen nicht zum geschilderten Unfallgeschehen passt oder wenn es eben offensichtliche Ungereimtheiten gibt, dann holen mich die Ärztinnen und Ärzte sofort beratend hinzu“, sagt Claudia Schmidt. Denn die Diplom-Kriminologin, die an der Universität Hamburg über ein Thema des Kinderschutzes promoviert hat, arbeitet seit 2015 in Vollzeit als sogenannte Kinderschutz-Koordinatorin am Altonaer Kinderkrankenhaus. Eine Position, die damals neu geschaffen wurde. Mit erheblichen Folgen, auch in der Statistik.
Kinderschutz: „Wir sind heute viel aufmerksamer"
Denn plötzlich schnellten die Fallzahlen rasant in die Höhe. Waren zuvor im Schnitt pro Jahr etwa zehn Fälle von körperlicher Gewalt, sexuellem Missbrauch oder Vernachlässigung an kleinen Patienten erfasst worden, so sind es heute jedes Jahr rund 100. Tendenz steigend. „Es ist natürlich nicht so, dass früher viel weniger passiert ist“, sagt Claudia Schmidt. „Wir sind nur heute viel aufmerksamer und sensibilisierter. Das heißt, wir holen die Fälle jetzt vermehrt aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld.“
Dafür und grundsätzlich für ihren unermüdlichen Einsatz für Kinder, die eben oft keine Lobby haben, wird die 43-Jährige nun an diesem Sonnabend im Rathaus mit dem mit 2000 Euro dotierten Preis „Zivilcourage im Kinderschutz“ geehrt. Vergeben wird diese Auszeichnung bereits zum sechsten Mal von der von Michael Lezius gegründeten Yagmur-Gedächtnisstiftung, die an das Schicksal des 2013 in Hamburg von seinen Eltern getöteten dreijährigen Mädchens erinnert. Mehr als 80 Verletzungen waren damals an Yagmurs kleinem Körper festgestellt worden.
Auch in Hamburg steigen die Fallzahlen an
„Yagmur ist nicht vergessen und auch die anderen Kinder nicht, die unter häuslicher Gewalt leiden und unseren Schutz brauchen“, sagt Stifter Michael Lezius. Und das sind einige: Im vergangenen Jahr wurden bundesweit 152 Kinder durch Misshandlungen getötet, 4600 körperlich misshandelt, 17.000 Kinder missbraucht. Auch in Hamburg sind die Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls 2020 nach Angaben des Statistikamts Nord um rund 30 Prozent auf 2659 Fälle gestiegen. „Was wir am Altonaer Kinderkrankenhaus derzeit mit großer Besorgnis beobachten: Wir sehen viel mehr Babys, die heftigst geschüttelt wurden“, sagt Claudia Schmidt, die auch ausgebildete Erzieherin ist und nach ihrem ersten Studium der Sozialpädagogik zunächst im Strafvollzug und in der Bewährungshilfe arbeitete.
Ob der Anstieg mit der Pandemie zusammenhänge, könne sie bisher nur vermuten. „Es ist schon davon auszugehen, dass diese Eltern besonders belastet und überfordert sind.“ Zu Claudia Schmidts Aufgaben gehört es, mit den betreffenden Eltern zu sprechen, gegebenenfalls auch das Jugendamt und die Staatsanwaltschaft einzuschalten. „Klar, da schlägt mir oft Unverständnis entgegen, aber es geht ja darum, die Kinder zu schützen.“ Außerdem organisiert sie regelmäßig fachübergreifende Kinderschutzkonferenzen, an denen Mediziner, Mitarbeiter aus der Pflege und Psychologen teilnehmen.
„Manchmal brauchen die Eltern einfach Unterstützung"
Mit „herausragendem Fleiß und Herzblut“ setze sich Claudia Schmidt für die Interessen der Kinder ein, sagt Professor Dr. Philippe Stock, Leitender Arzt der Pädiatrie am Altonaer Kinderkrankenhaus, der die Kriminologin für den Preis vorgeschlagen hat. Auch der ehemalige Michel-Pastor Helge Adolphsen, der die Laudatio halten wird, betont Claudia Schmidts „großes Engagement“. „Ich freue mich natürlich sehr über diese Auszeichnung, aber der größte Erfolg ist für mich, wenn wir ein Kind vor weiterer Gewalt oder vor Vernachlässigung beschützen können“, sagt die Preisträgerin.
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Das heiße übrigens nicht, dass ein Kind aus seiner Familie genommen werden müsse. „Manchmal brauchen die Eltern einfach Unterstützung, zum Beispiel eine sozialpädagogische Familienhilfe.“ Wie kürzlich die Familie eines an Diabetes erkrankten 15-Jährigen, dessen Blutzuckerwerte gefährlich erhöht waren. „Er hat Süßes gegessen, Cola getrunken, nicht regelmäßig Insulin gespritzt“, sagt Claudia Schmidt. „Das haben die Eltern gar nicht in böser Absicht zugelassen, sie waren schlicht überfordert.“
Die Verleihung mit Diskussion wird im Internet übertragen
Wie man Familien unterstützen und Kinderschutz garantieren kann, ist das Thema der Veranstaltung, die Interessierte unter http://yagmur-stiftung.hamburg verfolgen können. Es diskutieren die renommierte Soziologin Professor Dr. Jutta Allmendinger, der Jurist Professor Dr. Ludwig Salgo (Universität Frankfurt/Main) und Tobias Lucht von der Arche Hamburg.