Hamburg. Der Weg zur Macht – die Serie zur Kanzlerschaft des Hamburgers Olaf Scholz. Teil 6: Er ruht in sich – und lässt andere das spüren.

Dies ist die Geschichte eines Politikers, der belächelt und als „Scholzomat“verspottet wurde, den die eigene Partei lange nicht geliebt hat und der trotzdem fest daran glaubte, eines Tages Bundeskanzler der Bundes­republik Deutschland zu werden. So fest, dass Olaf Scholz schon 2018 genau voraussagte, was drei Jahre später bei der Bundestagswahl passieren würde ...

Ein paar Tage nach der Bundestagswahl las ich im „Spiegel“ Folgendes: „Scholz ist ein Politiker, der vor allem für die Abwesenheit von Charisma bekannt ist, ein spröder Norddeutscher, ein Mann der kleinen Gesten und Reden. Niemand hält ihn für interessant genug, um sein Leben zwischen zwei Buch­deckel zu pressen.“ Das stimmt: Es gab bis zur Bundestagswahl keine Biografie, nicht einmal ein Buch über Olaf Scholz. Das hat mehrere Gründe.

Erstens hatte sich bis dahin außerhalb Hamburgs kaum jemand ernsthaft für ihn interessiert. Zweitens müsste jede Biografie zwangsläufig auch viele private Einblicke gestatten, und die hat Scholz in seinem Leben immer gut zu verhindern gewusst. Und drittens ist der Mensch Scholz zuallererst ein Politiker.

Olaf Scholz: Wer steckt hinter der politischen Fassade

Wer ihn verstehen will, muss sich mit seiner Arbeit in den verschiedenen Ämtern beschäftigen, die er beinahe wie eine Ausbildung zum Bundeskanzler durchlaufen hat. Scholz war von 1982 bis 1988 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos, von 1987 bis 1989 zudem Vizepräsident der International Union of Socialist Youth. Aus dieser Zeit stammt das Bild, auf dem er mit schulterlangem, vollem und lockigem Haar zu sehen ist und das vor der Bundestagswahl bei Berichten über ihn in Zeitungen oft gezeigt wurde, weil er darauf kaum wiederzuerkennen war.

Er soll schon damals jemand gewesen sein, der anderen erklären konnte und wollte, wie die Welt funktioniert. 1998 versuchte er zum ersten Mal, in den Deutschen Bundestag zu gelangen, er gewann das Direktmandat im SPD-dominierten Wahlkreis Altona auf Anhieb. 2000 wurde er zum ersten Mal Vorsitzender der Hamburger SPD, musste ein Jahr später aus einer Not heraus den Posten des Innensenators übernehmen.

Es war eine schwere Zeit, in die die für Scholz bis dahin „dramatischsten Stunden“ seines Lebens fielen. Am 11. September stürzten Terroristen mit Flugzeugen in die Türme des World Trade Centers in New York, wenig später führten die Spuren des Anschlags ausgerechnet nach Hamburg.

Ein Crashkurs in Realpolitik

Das Hamburger Abendblatt schrieb dazu: „Innensenator Olaf Scholz rückt plötzlich in den Mittelpunkt des weltweiten Interesses. In einer Nacht müssen die Hamburger alle Spuren sichern: Der Führungsstab der Innenbehörde aktiviert nach Feierabend das Einwohnerzentralamt, Bezirksämter, den Verfassungsschutz, den Staatsschutz. […] Es ist eine der Nächte, die große Politiker gebiert – wie einst die Sturmflutnacht, die einen Innensenator (damals hieß das Amt offiziell noch Polizeisenator) namens Helmut Schmidt republikweit bekannt machte.

Scholz bleibt die ganze Nacht im Polizeipräsidium, erst am Morgen fährt er kurz nach Hause, um zu duschen, den Anzug zu wechseln. Danach geht es zurück nach Alsterdorf, ins Polizeipräsidium, wo 15 Kamerateams und 80 Journalisten warten. ‚Da war die ganze Weltpresse.‘ Scholz’ größter Auftritt ist einer, auf den er gut hätte verzichten können. Aber es ist eine Feuertaufe, Scholz macht mit, was andere in Jahrzehnten nicht erleben – einen Crashkurs in Realpolitik.“

Olaf Scholz hat sich seine Erfahrung hart erarbeitet

Der endete abrupt, als die SPD den Hamburger Senat überraschend an ein Bündnis von CDU, Schill-Partei und FDP abgeben musste. Scholz kehrte zurück nach Berlin, wo er 2002 Generalsekretär der SPD wurde. Bundeskanzler Gerhard Schröder war von dem zupackenden, selbstbewussten und bisweilen nassforschen neuen Mann aus Hamburg begeistert und sagte, dass das einer sei, der auch Minister könne. Was sich allerdings erst bei Schröders Nachfolgerin bewahrheitete.

Ausgerechnet in der Großen Koalition unter Führung der CDU und Angela Merkels, die seinen Förderer Schröder das Amt gekostet hatte, wurde Scholz 2007 Arbeitsminister, nachdem er zuvor als parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion gearbeitet hatte. Es folgte die Zeit als Bürgermeister in Hamburg, dann die des Bundesfinanzministers. Am Ende wurde aus dem Vizekanzler der Kanzler Olaf Scholz, viel besser und vielfältiger kann eine Ausbildung auf dem Weg dorthin nicht sein.

Scholz dürfte in seiner langen Laufbahn nahezu jede politische Frage mindestens einmal durchdacht haben, die großen und grundlegenden mehrfach. Das war sein Vorteil gegenüber den anderen Kanzlerkandidaten, das wird auch sein Vorteil in der Bundesregierung sein, die er jetzt führt. Niemand hat die Erfahrung, die Olaf Scholz hat, er hat sie sich hart erarbeitet.

Der Erste in seiner Familie mit Abitur

Und, auch das unterscheidet ihn von manchem Spitzenpolitiker: Scholz hat zwischenzeitlich in einem anderen Beruf gearbeitet, in dem, den er nach seinem Abitur an einem Gymnasium in Rahlstedt (wo er Schulsprecher war) gelernt hatte. Er studierte in Hamburg Jura, machte sich als Anwalt selbstständig: „In dieser Zeit vertrat ich Hunderte Beschäftigte in Kündigungsschutzklagen.“ Aus dieser Zeit stammt auch Scholz’ besondere Beziehung zu und sein besonderes Verständnis für die neuen Bundesländer. Im Laufe der Wiedervereinigung beriet er „viele neue Betriebsräte in den Verhandlungen mit der Treuhand-Gesellschaft“.

Olaf Scholz war, wie so viele in seiner Generation, der Erste in der Familie mit Abitur. Er hat das seinen Eltern zu verdanken, die beide in der Textilwirtschaft arbeiteten – und irgendwie auch der SPD. „Ich zähle zu denen, die die Chance genutzt haben, studieren zu können. Das habe ich wie viele andere auch dem Engagement sozialdemokratischer Bildungspolitiker zu verdanken.“

Der große Traum der SPD, den viele ihrer Kritiker für eine Illusion halten, hat Olaf Scholz schon als Jugendlicher fasziniert, er fasziniert ihn bis heute. Es ist der Traum, dass aus jedem Menschen etwas werden kann, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, es ist die Idee, „dass es um jede und jeden in der Gesellschaft geht“. Und es ist auch die Vorstellung, die Generationen von Eltern für das Leben ihrer Kinder hatten: Die sollten es einmal besser haben als sie.

Er verfolgt sein Ziel mit Verstand, Leidenschaft und Herz

In der Familie Scholz ist das gelungen. Olaf wurde Bundeskanzler, sein Bruder Ingo Chef eines IT-Unternehmens in Hamburg, der andere, Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Olaf Scholz meint auch solche Lebensläufe, wenn er über die Chancen spricht, die er mit seiner Politik allen Menschen ermöglichen möchte. Vor allem will er aber, dass jede Lebensleistung respektiert wird, dass wir „nicht in einer Gesellschaft leben, in der der eine auf den anderen herabschaut“.

Das ist sein Ziel, ein Ziel, das er mit Verstand, Leidenschaft und Herz verfolgt. Womit uns der Politiker Olaf Scholz zu dem Menschen Olaf Scholz gebracht hat, von dem man nach wie vor so wenig weiß, wenn man von den profanen Dingen absieht. Er kocht gern, er wandert gern, er liest viel, meistens Bücher, die sich im weitesten Sinne mit seiner Arbeit beschäftigen, kluge Gedanken von anderen klugen Köpfen. Er ist 1958 in Osnabrück zur Welt gekommen, aber in Altona getauft worden.

Dass Scholz das auf seiner Internetseite explizit betont, mag für alle Menschen, die außerhalb Hamburgs wohnen, etwas kleinteilig wirken. In Hamburg, wo Menschen stolz darauf sind, in bestimmten Stadtteilen und dort in bestimmten Straßen zu leben und die eigene Familie mehrere Generationen nachverfolgen zu können (wenn denn auch wirklich alle in Hamburg geboren sind), spielt es eine Rolle.

Wohnen in Hamburg: „Die spinnen doch, solche Preise zu nehmen“

Scholz ist ein stolzer Hamburger geworden, er liebt die Stadt, in der er seit den 1990er-Jahren eine Vierzimmerwohnung in Altona gemietet hat, zuerst gemeinsam mit Andreas Rieckhof, der unter dem Bürgermeister Scholz Staatsrat in der Wirtschaftsbehörde wurde. Scholz hat die Wohnung behalten, nachdem er zu seiner Frau Britta Ernst nach Potsdam gezogen ist, die 2017 in Brandenburg Ministerin für Bildung, Jugend und Sport geworden war.

Die beiden haben sich in Hamburg auch mal nach einer Eigentumswohnung umgesehen, die war dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz dann aber „viel zu teuer. Die spinnen doch, solche Preise zu nehmen.“ Wenn ich mich recht erinnere, ging es um eine gut 120 Quadratmeter große Wohnung für etwa 800.000 Euro. Grundsätzlich gilt Scholz als einer, dem Geld wenig bedeutet.

Er hätte schon lange vor der Bundestagswahl nicht mehr arbeiten müssen, seine Pensionen aus den verschiedenen Ämtern hätten für ein mehr als auskömmliches Leben gereicht, ohne den Stress, die permanente Aufmerksamkeit, die vielen Sicherheitsbeamten. Doch Scholz hat nie wegen des Geldes in der Politik gearbeitet, er tat es, „weil ich es kann, weil es mir Spaß macht und weil ich dazu beitragen möchte, dass die Welt gerechter und friedlicher wird“. Johannes Kahrs, ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter aus Hamburg, hat Scholz einmal, weniger vornehm, so beschrieben: „Er ist energisch, hochintelligent, fleißig bis zum Erbrechen.“

Emotionslose Politikmaschine – oder einfach tiefenentspannt?

Und er ist, was andere zur Verzweiflung und oder zu der Einschätzung treiben kann, vor einer emotionslosen Politikmaschine zu stehen, unendlich entspannt und gelassen. Scholz hat mir einmal in einem Gespräch gesagt, dass er nun mal so sei, wie er sei. Er könne nichts dafür, er ruhe tief in sich, auch wenn das andere manchmal ärgere oder nerve. Er brauche nicht einmal Ablenkungen, Freizeit- oder sonstige Beschäftigungen, um von all dem, was er täglich erlebt, runterzukommen. Er kommt, wenn man das so sagen kann, gar nicht erst hoch.

Dass er vor 23 Jahren mit Sport angefangen hat, dem Sport, den er als Schüler so gehasst hat, hatte weniger etwas damit zu tun, dass er den Kopf freikriegen wollte. Scholz war schlicht körperlich nicht fit, „am Anfang habe ich es nicht einmal geschafft, zwei Runden in dem kleinen Park in unserer Nachbarschaft zu drehen“. Das ist inzwischen ganz anders. Auf die Frage, woran er denkt, wenn er durch eine Stadt läuft oder auf einem See rudert, antwortet Olaf Scholz aber bis heute: „Ich denke an nichts.“ Das passt zu einem anderen Satz, der in der Vergangenheit gern zitiert worden ist, wenn es um seinen Lebens- und Politikstil ging: „Don’t complain, don’t explain.“ Beschwer dich nicht, rede nicht drüber.

Olaf Scholz: Der Auftritt im Bierzelt ist nicht seine Stärke

Dass so ein (Macht-)Mensch es schwer hat, die Herzen der Menschen zu erreichen, auch wenn er immer wieder beteuert, mit großem Herzen und großer Leidenschaft Politik zu machen, erklärt sich von selbst. Olaf Scholz musste in seiner politischen Karriere über den Verstand kommen, und er musste den direkten Kontakt zu den Leuten suchen. Nicht die großen Säle mit Tausenden Besuchern waren seine Stärke, nicht der Auftritt im Bierzelt.

Scholz’ Wirkung war umso besser, je überschaubarer die Zahl seiner Zuhörerinnen und Zuhörer war. Er machte schon sogenannte Town Hall Meetings, als es die so in Deutschland noch gar nicht gab, lud während seiner Zeit in Hamburg regelmäßig Bürgerinnen und Bürger zu gemeinsamen Treffen ein. Wenn nur 50 kamen, dann kamen eben nur 50, und wenn die Gesprächsrunden bis tief in den Abend dauerten, dann dauerten sie eben so lange.

Lars Haider: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“, 20 Euro, erhältlich in der Abendblatt- Geschäftsstelle (Großer Burstah 18– 32), im Buchhandel und auf abendblatt.de/shop.
Lars Haider: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“, 20 Euro, erhältlich in der Abendblatt- Geschäftsstelle (Großer Burstah 18– 32), im Buchhandel und auf abendblatt.de/shop. © Klartext Verlag

„Er ist Generalist und Spezialist in einem“

Meine Eltern, die aus Harburg stammen, haben einmal an so einer Veranstaltung teilgenommen; sie waren bis dahin keine Fans von Scholz. Hinterher sagte mein Vater: „Der wusste auf jede Frage eine Antwort.“ Und meine Mutter: „Der hat keinen Fragesteller gehen lassen, bevor er nicht mit ihm gesprochen hatte.“ Als die Veranstaltung offiziell zu Ende war, hat Scholz all denen, die noch nicht drangekommen waren, angeboten, ihre Belange im Einzelgespräch zu klären. Die Warteschlange, die sich bildete, arbeitete er ab, bis niemand mehr übrig war.

Es waren solche Abende, mit denen Olaf Scholz punkten konnte, „weil er ein Wissen hat, das sonst kaum ein Politiker hat“, sagt sein Intimus Wolfgang Schmidt. „Er kann zu jedem Thema etwas sagen, er ist Generalist und Spezialist in einem.“ Hatten meine Eltern das Gefühl, dem Menschen Scholz nachdem Treffen nähergekommen zu sein? Nein, sagten sie, aber darauf käme es bei einem Politiker doch auch nicht an. Und dabei wollte ich eigentlich noch schreiben, dass Olaf Scholz gern Jazzmusik hört, dass er in seiner Aktentasche immer sein rotes Parteibuch dabeihat. Und dass er als Kind einen schwarzen Kater mit dem Namen Burle hatte …

In unserer nächsten Folge lesen Sie: Scholz, die Frauen und die Liebe