Hamburg. Der Weg zur Macht – die Serie zur Kanzlerschaft des Hamburgers Olaf Scholz. Teil 4: Helmut Schmidts Rolle, was die beiden unterscheidet.

Dies ist die Geschichte eines Politikers, der belächelt und als „Scholzomat“ verspottet wurde, den die eigene Partei lange nicht geliebt hat und der trotzdem fest daran glaubte, eines Tages Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. So fest, dass Olaf Scholz schon 2018 genau voraussagte, was drei Jahre später bei der Bundestagswahl passieren würde ...

Bei einem Abendessen im Hotel Atlantic im Jahr 2011 meinten es die Gastgeber sehr gut mit dem neuen Chefredakteur des Hamburger Abendblatts. Sie platzierten mich an einem Tisch direkt neben Altbundeskanzler Helmut Schmidt, und ich gebe zu, dass ich richtig, richtig aufgeregt und ziemlich unsicher war.

Ich war Helmut Schmidt vorher noch nie begegnet, ich hatte nur viele Geschichten über ihn gehört, eine war (Ehr-)Furcht einflößender als die andere. Schmidt war eine dieser Legenden, von denen man sich nicht vorstellen konnte, dass es sie wirklich gibt, und noch weniger, dass man bei einem Abendessen neben ihnen sitzt.

Helmut Schmidt: Ein Gespräch im Atlantic-Hotel

Ich tat es nun, näherte mich dem Tisch, an dem er schon in seinem Rollstuhl saß, die Zigarette im Mund, ein Glas Cola vor sich. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt, ob ich mich vorgestellt habe, so nach dem Motto: „Ich bin der neue Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, guten Abend, Herr Schmidt.“ Ich weiß nur, dass er nicht reagiert hat. Ich nahm Platz, zusammen mit zwei Bankern aus der Schweiz, die wie ich Schmidt ansahen, als sei er eines der Weltwunder.

Der bestellte ein zweites Glas Cola, steckte sich eine Zigarette an und wirkte, als habe er gar keine Lust, hier zu sitzen. Als die Vorspeise kam, von der Schmidt nur zwei Happen nahm, bevor er sich wieder der Cola zuwandte, trauten sich die Banker, ihn anzusprechen.

„Herr Schmidt“, sagten sie, „wir machen uns Sorgen um den Euro. Sind die berechtigt?“ Der Altkanzler überlegte kurz, ohne die beiden Herren, die ihm gegenübersaßen, anzusehen, und sagte dann: „Nein.“ Die Banker strahlten, als ob damit die Zukunft der Währung ein für alle Mal gesichert sei.

Olaf Scholz: Schmidt interessiert Kommunales nicht

Als die Hauptspeise kam, in der Schmidt wieder nur lustlos herumstocherte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und versuchte, ein Gespräch zustande zu bringen. Ich wollte mit ihm über etwas reden, von dem ich glaubte, mich darin hinreichend auszukennen, und das war, natürlich, die Hamburger Lokalpolitik. Wenige Monate vorher hatte die SPD mit Olaf Scholz wieder das Amt des Bürgermeisters übernommen, das Rathaus von der CDU zurückgeholt.

Also fragte ich, etwas lauter, weil ich mich zu erinnern glaubte, dass Schmidt auf einem Ohr nicht besonders gut hörte: „Herr Schmidt, wie zufrieden sind Sie mit Olaf Scholz als Bürgermeister?“ Schmidt hatte die Frage offenbar verstanden, bevor er antwortete, zog er lange an seiner Zigarette, um den Kopf dann leicht seitwärts zu mir hinüberzubeugen. Er sagte, ohne mich anzusehen: „Junger Mann, ich interessiere mich nicht für Kommunalpolitik.“

Die Begegnung mit Helmut Schmidt hat mich befangen gemacht, was die Beurteilung des Menschen angeht, der wie kein anderer erst in Hamburg und dann in Deutschland vergöttert wurde – übrigens, und das vergessen viele, weit, weit nach seiner Zeit als Bundeskanzler.

Hamburger Bundeskanzler – ein Patriarch der alten Schule

Je älter Helmut Schmidt wurde, desto stärker wurde die Achtung vor ihm als Welterklärer, vor dem Orakel, das mit allem, was es sagte, am Ende recht behielt. Er war ein besonderer Mann, keine Frage, und ein bodenständiger, zumindest wenn man diese Eigenschaft auf seine tiefe und lange Verbundenheit zu Hamburg bezieht und auf sein Haus im eher unspektakulären Stadtteil Langenhorn.

Buchcover: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“ von Abendblatt-Chefredakeur Lars Haider.
Lars Haider: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“, 20 Euro, erhältlich in der Abendblatt- Geschäftsstelle (Großer Burstah 18– 32), im Buchhandel und auf abendblatt.de/shop. © Klartext Verlag | Unbekannt

Andere Bundeskanzler wären an die Elbe oder an die Alster gezogen, Schmidt kam nicht mal auf die Idee. Das machte ihn sympathisch, andere Eigenschaften taten das eher nicht. Der Hamburger Ehrenbürger war ein Patriarch alter Schule, er ließ die Menschen spüren, gerade Journalisten, wenn er nichts von ihnen hielt.

Schmidt, der nach der Politik bekanntlich eine große Karriere als Herausgeber der „Zeit“ und Autor vieler wichtiger Bücher gemacht hat, sagte einmal, dass er nie ein richtiger Journalist werden würde, „weil ich mir das Arbeiten nicht abgewöhnen kann“. Das war böse, aber so war Helmut Schmidt eben auch, die Bodenständigkeit endete dort, wo es darum ging, wer der Klügste im Land war. Da konnte es nur einen geben.

Ein Hamburger, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wird, wird automatisch mit dem Hamburger verglichen, der dieses Amt schon einmal innehatte. Olaf Scholz ist aus Hamburger Sicht de facto so etwas wie der Nachfolger von Helmut Schmidt, er war wie er, wenn auch nur kurz, Innensenator und es geht die Sage, dass er, also Scholz, damals verlautet haben soll: „So hat Helmut Schmidt auch einmal angefangen.“ Man hält es, wenn man ihn kennt, nicht für unmöglich.

„Der Weg zur Macht“: Scholz trat mit 17 in die SPD ein

Wie viel Schmidt steckt in Scholz? FDP-Chef Christian Lindner sagte mir dazu vor der Bundestagswahl: „Ich habe mit Herrn Scholz persönlich ein gutes Verhältnis und wir haben auch schon Dinge, etwa Verfassungsänderungen, gemeinsam beschlossen. Ich will nur in Klarheit herausarbeiten, dass bei allem Respekt gegenüber Herrn Scholz und der Anerkennung seiner Professionalität nicht der Eindruck entstehen darf, er sei der natürliche Nachfolger von Helmut Schmidt. Das ist er nicht.“

Hat Olaf Scholz das getan? Die Antwort ist: Nein. Die Vergleiche mit Helmut Schmidt werden ihn nicht stören, richtig freuen werden sie ihn aber auch nicht. Scholz ist in einer Zeit Mitglied der SPD geworden, in der Schmidt Kanzler war, 1975, und „es liegt auf der Hand, dass mein Eintritt viel mit ihm zu tun hatte“, sagte er einmal in einem Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt.

„Allerdings warne ich davor, Geschichte nachträglich zu überinterpretieren. Ich war 17 Jahre alt – und machte mir keine größeren Gedanken über die Unterschiede zwischen Willy Brandt und Helmut Schmidt. Wichtiger aber war mir schon als Jugendlicher, Partei zu ergreifen für Gerechtigkeit. Dafür gab und gibt es nur eine Partei: die SPD.“

Olaf Scholz' Rhetorik funktioniert anders

Scholz hat es nicht so mit Vorbildern, er ist niemand, der anderen nacheifert, und auf die Frage, ob er der neue Helmut Schmidt sei, antwortete er: „Na ja, ich bin Olaf Scholz.“ Tatsächlich haben die beiden Bundeskanzler einige Gemeinsamkeiten. Schmidt schätzte wie Scholz eine pragmatische Politik, war sich seiner eigenen Rolle und Bedeutung jederzeit sicher, arbeitete sehr hart, schonte sich nicht. Aber schon bei der Art zu reden beginnen die Unterschiede.

Helmut Schmidt war der große Politik­erklärer, der selbst komplizierteste Zusammenhänge und Konsequenzen so beschreiben konnte, dass sie jedermann einleuchteten. Er war bei Weitem nicht so zurückhaltend wie Olaf Scholz, konnte bissig und richtig aggressiv werden, zynisch sowieso. Mit Schmidt Schnauze legte man sich lieber nicht an, man konnte nur verlieren. Scholz’ Rhetorik und seine Auftritte funktionieren anders, er bleibt auch ruhig, wenn es um ihn herum unruhig wird.

„In erbarmungsloser Weise von sich selbst überzeugt“

Seine Fähigkeiten als Redner sind nicht im Ansatz mit denen Schmidts vergleichbar. Das liegt auch daran, dass die beiden zwei unterschiedliche politische Schwerpunkte hatten beziehungsweise haben. Schmidt beschäftigte sich vor allem mit dem großen Ganzen, er war ein Außenpolitiker, der sich für die Kräfteverhältnisse auf der Welt interessierte, für die Rollen von China und den USA – und für Europa.

Sein Deutschland war fester Bestandteil der Europäischen Union, die nur in ihrem Zusammenschluss und mit einer gemeinsamen Politik die Chance haben würde, in der neuen globalisierten Welt zu bestehen. Die Mühen der Ebene, all das, was national, lokal oder gar kommunal passierte, interessierten ihn nur am Rande.

Bei Scholz ist das anders, er ist durchaus ein Mann dieser Ebenen und hat als Jurist mindestens die Fähig­keiten, aber wohl auch Spaß daran, sie zu durchdringen, Gesetze, Vorschriften oder eben Koalitionsverträge zu formulieren. Auch er hat den Hang, bei Treffen mit anderen, nicht nur mit anderen Politikern, ins Dozieren zu verfallen. So entstehende Monologe sind aber (noch) deutlich kleinteiliger, als sie es bei Helmut Schmidt waren.

Scholz lässt gern sein Fachwissen, die Kenntnis jedes Details aufblitzen, um andere zu beeindrucken oder, bei Verhandlungen, einzuschüchtern. „Er ist in erbarmungsloser Weise von sich selbst überzeugt“, zitierte das Hamburger Abendblatt aus einer Verhandlungsrunde zwischen der SPD und den Grünen. Das hat er mit Helmut Schmidt gemeinsam.

Olaf Scholz ist höflich geblieben

Ein Regierungschef muss sendungsbewusst, selbstsicher und eitel sein, sonst ist er im Kanzleramt an der falschen Stelle. Die Frage ist, ob er dabei die Grenze zur Arroganz überschreitet, die mit der Geringschätzung erst des Gegenübers, dann der Bürger und Wähler einhergeht.

Das kann ich bei Olaf Scholz nicht feststellen, gerade nicht im direkten Vergleich mit Helmut Schmidt. Während der schon zu Lebzeiten die Sphären des Irdischen verlassen hatte und mit seiner scheinbar unendlichen Weisheit über allem schwebte, hat sich Scholz ein Stück seiner Unsicherheit bewahrt, auch wenn er selbst vielleicht gar nicht froh darüber ist.

Wenn Menschen Scholz als distanziert und schwer zugänglich empfinden, liegt das nicht daran, dass er sich bewusst von ihnen abheben will oder sich als etwas Besseres empfindet. Es liegt daran, dass er ein schüchterner Mensch geblieben ist. Scholz’ Auftritte sind nach wie vor leise und bedacht, genauso redet er auch. Und, auch das ist für einen Politiker seiner Ranghöhe nicht selbstverständlich: Er ist ein höflicher Mensch geblieben, dem Umgangsformen wichtig sind.

Olaf Scholz: Einer der klug regiert

Wenn Scholz etwa einen Journalisten, den er lange und gut kennt, in Begleitung von dessen Frau trifft, begrüßt er zuerst die Frau, spricht kurz mit ihr und wendet sich dann erst dem Mann zu. Man mag das für völlig normal und natürlich halten, in der Welt von Politikern, die vor allem auf sich und die fixiert sind, die für sie wichtig sind, ist es das nicht. Ach ja: Scholz hätte sich, wenn er rauchen würde, auch nie ohne zu fragen in Räumen eine Zigarette angesteckt, in denen das eigentlich verboten ist – wenn Sie wissen, was ich meine …

Wenn man sich also die Frage stellt, ob Olaf Scholz der neue Helmut Schmidt ist, heißt die Antwort: Im Moment nicht, und die Wahrscheinlichkeit, dass er es wird, ist gering. Olaf Scholz will Olaf Scholz sein, bleiben und werden, auch wenn das bedeutet, vielleicht nie in die intellektuellen Sphären seines Vorgängers dringen zu können. Denn, das kann man eindeutig sagen: Scholz wird nicht als einer der klügsten Köpfe in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen, sondern als einer, der klug regiert hat.

Scholz hielt Schmidts Trauerrede

Man wäre gern bei den langen Gesprächen dabei gewesen, die die beiden bei den Schmidts in Langenhorn geführt haben, mal am spartanischen Küchentisch, mal im Wohnzimmer. „Es waren stets Gespräche im familiären Rahmen. Ich habe sie sehr geschätzt“, hat Scholz einmal erzählt.

„Man ist dort nie schnell weggegangen. Mir hat es immer gut gefallen. Und es war ja schon etwas Besonderes, irgendwann mit jenem Helmut Schmidt in seinem Haus zu sitzen, der schon Bundeskanzler war, als ich 17-jährig in die SPD eingetreten bin.“

Olaf Scholz war es schließlich auch, der in seiner Funktion als Bürgermeister beim Staatsakt für den verstorbenen Ehrenbürger Helmut Schmidt die Trauerrede gehalten hat, in diesem Fall muss man vielleicht auch sagen: halten durfte.

Es ist eine der besten Reden, die es von Scholz gibt, sie endet mit der ikonischen Formulierung, dass „wir einen Giganten verloren“ haben. Und sie enthält nicht nur das Vermächtnis von Bundeskanzler Helmut Schmidt, sondern auch einen Ausblick auf das, was wir vom Bundeskanzler Olaf Scholz zu erwarten haben.

„Ein Politikstil der vielen kleinen Schritte“

Er sagte im November 2015 im Hamburger Michel: „Ein politisches Angebot zu formulieren, das Sicherheit im Wandel der Moderne vermittelt, ohne die Freiheit des Wandels dadurch infrage zu stellen, gehört zu den großen Lebensleistungen Helmut Schmidts. Von ihm haben wir gelernt, wie eine soziale und demokratische Politik mit klugen und pragmatischen Reformen helfen kann, das Leben vieler zu verbessern.“

Und weiter: „Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken, hat er geschrieben und damit die nüchtern-pragmatische Philosophie Karl Poppers auch der bisweilen eher romantisch-idealistischen Sozialdemokratie erschlossen. Der Reformismus Eduard Bernsteins fand so nicht nur eine weitere philosophische Grundlage, sondern zugleich auch seine politische und praktische Realisierung im Regierungshandeln der sozialliberalen Koalition. Hier zeigt sich, dass Helmut Schmidt zeitlebens ein Intellektueller gewesen ist, der viel Energie in die redliche Begründung seiner politischen Initiativen investierte. Aber er war ein Intellektueller, dem das kluge Kommentieren der Zeitläufte nie genug war. Für ihn war die Theorie untrennbar mit der Praxis ihrer Umsetzung verbunden.“

Schließlich: „Daraus entsteht ein Politikstil der vielen kleinen Schritte, der bis heute Regierungen ganz unterschiedlicher politischer Couleur prägt. Die Vorstellung, dass sich unsere Gesellschaft auf diese Weise nachhaltig verbessern lässt, ist zutiefst demokratisch und einer dynamischen Moderne mehr als angemessen.“

Das werden die Freien Demokraten um Christian Lindner gern hören. Olaf Scholz ist seit vier Jahrzehnten der erste Sozialdemokrat, der eine Koalition mit den Liberalen auf Bundesebene anführt. Der letzte war – Helmut Schmidt.

In der nächsten Folge der Serie lesen Sie: Das G-20-Desaster und andere Skandale