Hamburg. Der Weg zur Macht – die Serie zu Olaf Scholz' Kanzlerschaft. Teil 2: Über einen Mann, der genau weiß, was er will – und was nicht.

Dies ist die Geschichte eines Politikers, der belächelt und als „Scholzomat“ verspottet wurde, den die eigene Partei lange nicht geliebt hat und der trotzdem fest daran glaubte, eines Tages Bundeskanzler der Bundes­republik Deutschland zu werden. So fest, dass Olaf Scholz schon 2018 genau voraussagte, was drei Jahre später bei der Bundestagswahl passieren würde ...


Als Olaf Scholz ein kleiner Junge war, hat er zwei Musikinstrumente gelernt: Blockflöte, wie das viele Schüler tun, und Oboe. Das passt an den Beginn eines Kapitels, in dem es um Scholz’ Führungsstil gehen soll. Denn die Oboe gibt, wenn ich meinem Kollegen und allseits geschätzten Konzertkritiker Joachim Mischke glauben darf, dem Orchester das „A“ vor „und damit die Stimmung“. Dass Olaf Scholz gern den Ton angibt, ist keine neue Erkenntnis. Wer ihn in seinen verschiedenen Rollen als Generalsekretär der SPD, Minister oder Bürgermeister beobachtet hat, erlebte einen Mann, der sehr macht- und selbstbewusst ist, der genau weiß, was er will, und, fast noch wichtiger, was er nicht will.

Es klingt nicht selten Kritik mit an diesen Eigenschaften, etwa wenn die „Zeit“ davon schreibt, dass die Abkürzung OWD für „Olaf will das“ ein geläufiger Begriff im Hamburger Rathaus gewesen sei. Scholz vorzuwerfen, ein Machtmensch zu sein, der sich durchsetzt, wäre aber in etwa so, wie FC Bayern Münchens Stürmerstar Robert Lewandowski dafür zu kritisieren, dass er jedes Mal eiskalt ein Tor schießt, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Olaf Scholz wäre nicht Kanzler geworden, wenn er nicht den Willen und den Spaß hätte, anderen Menschen zu sagen, wie sie etwas zu machen haben, wenn er nicht die Richtlinien und Richtungen der Politik selbst bestimmen wollte.

Die entscheidende Frage dabei ist, gerade im Blick auf die Stabilität und den Fortbestand der Koalition aus SPD, Grünen und FDP bis zur nächsten Bundestagswahl, ob er neben sich andere glänzen lassen kann.

Olaf Scholz ist ein Besserwisser

Man muss wissen: Der neue Kanzler ist ein Besserwisser. Auch das klingt zunächst einmal nicht besonders nett, um nicht zu sagen böse, ist aber nicht so gemeint. Wer schreibt, dass Olaf Scholz ein Besserwisser ist, schreibt in den meisten Fällen nur die Wahrheit. Er kennt sich in den Tiefen der Politik, in Sach- und Detailfragen so gut aus wie wenige in Deutschland. Er ist einer dieser Aktenfresser, die andere Entscheidungsträger, die sich schnell und oberflächlich von Referenten informieren lassen, fürchten.

Scholz will Informationen aus erster Hand, er liest viel, und, auch das, er hört gern und lange zu, wenn er glaubt, dass andere Menschen etwas zu sagen haben und er von ihnen lernen kann. Wer mit Olaf Scholz in Verhandlungen geht, muss wissen, dass er maximal vorbereitet ist und jede inhaltliche Schwäche des Gegenübers erkennt und für die eigene Sache nutzt. „Man muss extrem ausgeschlafen sein, idealerweise auch bis ins letzte Detail gut vorbereitet, wenn man mit ihm verhandelt“, sagte Katharina Fegebank.

Fegebank ist 2015 unter Scholz Zweite Bürgermeisterin und Hamburger Wissenschaftssenatorin geworden, sie hat damals unter anderem mit ihm die rot-grüne Koalition verhandelt. Und sie hatte es nicht leicht, weil Scholz bei der Bürgerschaftswahl zuvor nur knapp erneut die absolute Mehrheit verpasst hatte. 45,6 Prozent der Stimmen für seine SPD bedeuteten eine deutlich andere Verhandlungsposition, als es die 25,7 Prozent nach der Bundestagswahl 2021 waren. Entsprechend liefen die Gespräche zwischen Sozialdemokraten und Grünen ab, die in Hamburg knapp über zwölf Prozent kamen.

Wenn Olaf Scholz überheblich wirkt

Am Ende bezeichnete Scholz in einem für ihn auch nicht unüblichen Anflug von Überheblichkeit den neuen Senat als Fortsetzung der Alleinregierung mit „grünem Anbau“. Das war so falsch nicht, siehe oben, ärgerte Katharina Fegebank trotzdem. Als sie ihn aufforderte, das Anbau-Zitat nicht zu wiederholen, soll Scholz nur genickt und gesagt haben: „Das muss ich jetzt ja gar nicht mehr.“ Auch das ist typisch für ihn. Er weiß, dass er bestimmte Sätze nur einmal sagen muss, weil sie sich danach verselbstständigen.

Der Spruch „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“ ist aus dieser Reihe der bekannteste. Und, da dürfen sich seine politischen Gegner wie Verbündeten keine Illusionen machen: Er ist genau so gemeint. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet Katharina Fegebank ihre Grünen 2021 vor den Koalitionsgesprächen mit Olaf Scholz warnte und dazu riet, die Alternative einer Jamaika-Regierung lange offenzuhalten.

Wie Olaf Scholz sein Team führt

Von Markus Söder erzählt man sich, dass er sich bei der Vergabe der wöchentlichen Pressetermine jeweils jene aussucht, die am vielversprechendsten klingen, den Rest teilen seine Minister dann unter sich auf. So hat sich Olaf Scholz als Hamburger Bürgermeister nicht verhalten, im Gegenteil: In seiner Zeit entwickelte sich etwa Ties Rabe, ehemaliger Redaktionsleiter eines Anzeigenblatts und gelernter Lehrer, zu einem der angesehensten Bildungspolitiker Deutschlands. Kultursenator Carsten Brosda gilt, nicht nur wegen seiner zahlreichen klugen (und selbst geschriebenen!) Bücher als einer der neuen, intellektuellen Politikköpfe der Republik. Und Peter Tschentscher, unter Scholz Finanzsenator und nach dessen Wechsel nach Berlin überraschend Nachfolger im Amt des Bürgermeisters, wurde in und durch die Corona-Zeit zu einem der beliebtesten Ministerpräsidenten.

Überhaupt sagt es viel über Scholz, der aufgrund seiner Wahlergebnisse und der damit verbundenen Machtfülle oft als „König Olaf“ bezeichnet wurde, dass es nach seinem Rücktritt gleich vier Kandidaten innerhalb der Hamburger SPD gab, denen die Öffentlichkeit zutraute, Bürgermeister zu werden. Neben Tschentscher, in den das Vertrauen zu Beginn am wenigsten ausgeprägt war, und Brosda galt das noch für den damaligen Fraktionsvorsitzenden der Partei in der Bürgerschaft, Andreas Dressel, der heute Finanzsenator ist. Und für Melanie Leonhard, Landesvorsitzende der SPD und Sozialsenatorin. Ihr Vorgänger in diesem Amt, Detlef Scheele, ist inzwischen übrigens Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit.

Soll heißen: Es schadet der eigenen Karriere nicht, wenn man Mitglied einer Regierung unter Olaf Scholz war, auch wenn man durch eine harte Schule und nach den Regeln der Nummer eins spielen muss. Die wichtigste lautet: Scholz versucht alles, was intern zu klären ist, intern zu klären, er verabscheut Durchstechereien und öffentliche Schuldzuweisungen. In seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister wird er sicher den einen oder anderen Senator in der wöchent­lichen Besprechung oder unter vier Augen­ zur Rede gestellt haben, über die Medien hat er das so gut wie nie getan.

Wie man Olaf Scholz aus der Ruhe bringt

Ein ehernes Prinzip, das selbst der Mann gut findet, der in Hamburg am ehesten gegen Olaf Scholz aufbegehrt hat. Umweltsenator Jens Kerstan von den Grünen regelte die Dinge nach eigenen Angaben zwar auch am liebsten hinter den Kulissen und in gemeinsamen Sitzungen. Aber wenn ein öffentlicher Streit nötig sei, dann gebe es den halt, sagte er einmal der „Welt“, und dass Olaf Scholz schlau genug gewesen sei, Konflikte, die bekannt geworden seien, schnell aus der Welt zu schaffen. Merke: Das könnte für Christian Lindner und Robert Habeck eine Methode sein, den Kanzler aus der Ruhe zu bringen.

Sonst ist das gar nicht so leicht. Er weiß, dass die scheinbar nicht enden wollende Gelassenheit, Beharrlichkeit und Sturheit zu seinen großen Stärken zählen, und er ist stolz darauf. „Ich verhandele oft und viel“, sagte er einmal, „manchmal auch bis 3.30 Uhr morgens, zum Beispiel über die Neugestaltung der Bund-Länder-Finanzen. Da ging es um viele Milliarden, und ich glaube, ich bin trotzdem ruhig geblieben.“

Olaf Scholz hat auch eine Schwäche

In solchen Situationen ist er seiner Vorgängerin Angela Merkel sehr ähnlich, Scholz’ Belastbarkeit und Ausdauer sind mindestens so enorm wie seine Sachkenntnis. Er braucht sie aber auch, weil er andere Eigenschaften eben nicht besitzt, mit denen man Gesprächs- und Verhandlungspartner auf seine Seite ziehen könnte. Scholz ist nicht in der Lage, so etwas wie Leidenschaft zu entfachen, rhetorisch spielt er im Vergleich zu Politikern wie Söder, Habeck und Lindner in einer anderen Liga, ein Menschenfänger ist er bekanntermaßen auch nicht.

Scholz muss mit Argumenten überzeugen, sonst hat er verloren, und er braucht möglichst ernste Situationen, in denen es um viel geht. Deshalb war er besonders in schwierigen Zeiten gut, etwa als Arbeitsminister in der Finanzkrise, als Finanzminister in der Corona-Pandemie oder bei der Vollendung der Elbphilharmonie. Und deshalb wirkt er bei allen Terminen und Veranstaltungen, zu denen ein roter Teppich führt, irgendwie fehl am Platz. Das ist nicht seine Welt, so wie es nicht die Welt von Merkel war.

Inzwischen hat Scholz ein Alter, verbunden mit entsprechender Lebenserfahrung, erreicht, in dem ihm sein Ruf als gewiefter und kluger Verhandler vorauseilt. Scholz hat sich diesen Respekt hart erarbeitet, er war bereits in seiner Zeit in Hamburg körperlich spürbar.

Wenn der Bürgermeister mit seinen Personenschützern einen Raum betrat, änderte sich etwas an den Machtverhältnissen, eben noch plaudernde Senatoren wurden still, andere, in der Anfangsphase insbesondere die Grünen, nickten dem Regierungschef zur Begrüßung fast ehrfurchtsvoll zu. Die Anwesenheit des Politprofis machte einen Unterschied, auch in den Senatssitzungen, die nach Angaben von Teilnehmern entspannter und diskussionsoffener verlaufen, seit Peter Tschentscher Bürgermeister ist.

Olaf Scholz kann auch emotional werden

Dabei sind dieser und Scholz sich nun wirklich nicht unähnlich, in ihrer jeweils ruhigen und analytischen Art. Scholz als Jurist hat zwar qua Ausbildung andere Zugänge zu politischen Entscheidungen als der Labormediziner Tschentscher, aber beide schätzen die sachliche Auseinandersetzung, haben sich bewusst unter Kontrolle, neigen nicht zu Gefühlsausbrüchen. Wobei: Olaf Scholz kann auch anders, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung.

Als ein Pressesprecher ein Treffen einmal nicht so vorbereitet hatte, wie Scholz das voraussetzte, wies der ihn schroff und knapp zurecht. Umgekehrt neigte er als Bürgermeister in Fällen von Überschwang oder Überschätzung zu Aussagen, die so recht nicht zu seinem sonstigen Auftreten passten. Das in diesem Kapitel bereits zitierte „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“ ist so eine Aussage, aber auch „I want my money back“, als es um eine Beteiligung der Stadt Hamburg an der Traditionsreederei Hapag-Lloyd ging. Und als das G-20-Treffen der Staats- und Regierungschefs in Hamburg bevorstand, ließ sich Gastgeber Scholz zu einer Reihe von Sätzen hinreißen, die ihm später richtig leidtaten – und ihn endgültig zur Überzeugung brachten, dass die vorsichtige, verklausulierte Art, wie er normalerweise spricht und sich verhält, richtig ist.

Er sagte mir dazu einmal Folgendes: „Ich bin so, wie ich bin. Man sollte sich auch nicht verstellen. Es ist der Vorteil unserer modernen Mediendemokratie, dass man jedem ununterbrochen ins Gesicht gucken kann und schon merkt, ob jemand etwas spielt oder so ist, wie er wirklich ist. Ich bin bewegt wie alle anderen und mich ärgern Sachen, klar. Allerdings glaube ich schon, dass ich in der Lage bin, einen klaren Kopf zu behalten.“ Ansonsten gilt: Olaf Scholz sagt das, was er macht, und macht das, was er sagt. „Er ist ein beinharter Verhandler, aber wenn man sich mal mit ihm auf etwas geeinigt hat, kann man sich darauf verlassen“, sagte Dieter Lenzen. Der Präsident der Universität Hamburg hat mit Scholz als Bürgermeister unter anderem die Finanzierung der Hochschulen ausgehandelt: „Scholz ist keiner, der leere Versprechungen macht. Bei ihm weiß man, woran man ist.“

Olaf Scholz ist extrem belastbar

Und Scholz ist keiner, der sich im Amt schont: In Hamburg hat er wichtige Termine auch mit hohem Fieber wahrgenommen und Reden gehalten, obwohl er eigentlich gar keine Stimme mehr hatte. Er hat sich Spritzen geben lassen, um Auftritte einhalten zu können, er hat sich sowieso ein Pensum auferlegt, das Politiker vom Typ eines Ole von Beust nach einem halben Jahr in den Wahnsinn getrieben hätte.

Zu Beginn seiner ersten Amtszeit als Bürgermeister nahm Scholz zwar nicht jede Einladung an, die ins Rathaus kam. Aber fast. Und wenn er irgendwo war, blieb er meist lange, nicht selten bis zum Schluss. Kaum vorstellbar, dass ihm all das zu jeder Zeit Freude gemacht hat. Aber er hat es als seine Pflicht empfunden. Und irgendwie hat es ihm Spaß gemacht, dass sich viele gefragt haben, wie er das alles schafft – eine Frage, die sich mir bis heute stellt und die viel mit einer anderen Eigenschaft zu tun hat: Olaf Scholz ist diszipliniert, seit er die Chance hatte, Kanzler zu werden, noch mehr als jemals zuvor. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Lars Haider: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“; 20 Euro. Erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle (Großer Burstah 18–32), im Buchhandel sowie auf abendblatt.de/shop.
Lars Haider: „Olaf Scholz – Der Weg zur Macht“; 20 Euro. Erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle (Großer Burstah 18–32), im Buchhandel sowie auf abendblatt.de/shop. © Klartext Verlag

Lesen Sie in der nächsten Folge: Sie nannten in Scholzomat: Warum Scholz so spricht, wie er spricht