Hamburg. Der ehemalige Hamburger Bürgermeister ist Bundeskanzler. Teil 1 der Serie „Der Weg zur Macht“: Verzweifelte SPD, schwacher Gegner.
Dies ist die Geschichte eines Politikers, der belächelt und als „Scholzomat“ verspottet wurde, den die eigene Partei lange nicht geliebt hat und der trotzdem fest daran glaubte, eines Tages Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. So fest, dass Olaf Scholz schon 2018 genau voraussagte, was drei Jahre später bei der Bundestagswahl passieren würde ...
Zwischen den beiden wichtigsten Wahlen in der politischen Karriere des neuen Kanzlers liegen genau zehn Jahre. Die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft 2011 hat viel mit der Bundestagswahl 2021 gemeinsam, zumindest aus Sicht der SPD und ihres Spitzenkandidaten, der in beiden Fällen Olaf Scholz hieß. Als dieser damals zurück in seine Heimatstadt kam, war die Sozialdemokratie in Hamburg am Boden.
Olaf Scholz: Die Bürgerschaftswahl 2011 als Generalprobe für die Bundestagswahl
Ausgerechnet hier, in der Stadt von Helmut Schmidt (der übrigens nie Erster Bürgermeister gewesen ist), von Klaus von Dohnanyi, Henning Voscherau und Hans-Ulrich Klose, hatte 2001 völlig überraschend die CDU die Führung des Senats übernommen.
Das kam in Hamburg, das jahrzehntelang von der SPD so regiert worden war, wie die CSU in Bayern regiert, einem Staatsstreich gleich, auch, weil der neue Bürgermeister Ole von Beust nur mithilfe des Rechtspopulisten Ronald Schill ins Amt gelangt war. Was für die hanseatischen Genossinnen und Genossen zunächst wie ein Ausrutscher aussah, entpuppte sich als neue Ära in Deutschlands zweitgrößter Stadt.
2004 gilt „Michel – Alster – Ole“ – und CDU
Von Beust warf Schill aus der Regierung, als der ihm drohte, seine Homosexualität und ein vermeintliches Verhältnis zu einem Senator öffentlich zu machen, und holte bei der vorgezogenen Bürgerschaftswahl 2004 die absolute Mehrheit. Die Affären seines ehemaligen Innensenators (Schill) hatten dem Bürgermeister nichts anhaben können, im Gegenteil: Die Hamburger mochten den jungenhaften Regierungschef, im Wahlkampf reichten der CDU Plakate mit der Aufschrift „Michel – Alster – Ole“.
Von Beust war vom unterschätzten Politiker zum Wahrzeichen der Stadt geworden; über die SPD und die Tradition ihrer kaufmannsnahen, liberalen und intellektuellen Bürgermeister – von denen einige einen Hang zur Arroganz hatten – sprach auf einmal niemand mehr. Das änderte sich erst 2010.
Ole von Beust zieht sich wenig überraschend zurück
Inzwischen regierte Ole von Beust in seiner dritten Amtszeit mit den Grünen, hatte aber sichtlich den Spaß daran verloren. Der Bürgermeister verschwand immer öfter schon am Freitagmittag Richtung Sylt, wo er in Westerland eine Wohnung hat, war auf offiziellen Anlässen in Hamburg genauso schnell wieder weg, wie er gekommen war.
Am 18. Juli gab er seinen Rückzug aus der Politik bekannt, wenig später wurde der bisherige Innensenator Christoph Ahlhaus sein Nachfolger. Es wäre ungerecht, ihn mit dem Armin Laschet aus dem Jahr 2021 zu vergleichen. Aber tatsächlich haben die beiden einige Gemeinsamkeiten. Sie waren Spitzenkandidaten der CDU bei einer wichtigen Wahl, sie stellten sich dabei alles andere als glücklich an.
„Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“
Und sie hatten denselben Gegner: Olaf Scholz. Der hatte eigentlich nicht vorgehabt, Bürgermeister der Freien und Hansestadt zu werden, sah seine Zukunft damals eher in der nationalen und internationalen Politik. Doch die Not der Hamburger SPD war groß nach den langen Jahren in der Opposition und internen Skandalen.
Der Ruf nach Olaf Scholz klang wie ein Flehen, und er erhörte ihn auf seine Art: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“, sagte er, als er 2009 den Vorsitz des Landesverbandes übernahm und begann dort aufzuräumen. Scholz hatte sich nicht aufgedrängt, Scholz war gebeten worden von seiner Partei: Genauso mag er das, genau darauf hat er auch immer auf Bundesebene gewartet, am Ende bis zur Kanzlerkandidatur 2021.
Das Duell um den Bürgermeisterposten
Zurück nach Hamburg und ins Jahr 2011, das eine für das Leben und die Karriere von Olaf Scholz entscheidende Wendung bringen sollte. Christoph Ahlhaus machte als neuer Bürgermeister nicht alles, aber vieles falsch. Die schwarz-grüne Regierung, die erste überhaupt auf Landesebene, zerbrach wenige Monate nach seinem Amtsantritt. Hamburg musste neu wählen.
Diesmal konnte Olaf Scholz sich nicht, wie bei der Wahl 2008, drücken, wollte es auch gar nicht. Er übernahm die Spitzenkandidatur und konnte sich im Duell mit Ahlhaus darauf verlassen, dass der, ähnlich wie zehn Jahre später Armin Laschet, keinen Fehler auslässt.
Vorgänger Ahlhaus passte nicht zum hanseatischen Understatement
Was bei Laschet der Lacher bei der Hochwasserkatastrophe in Erftstadt war, war bei Ahlhaus ein Foto mit seiner Gattin Simone in der herrschaftlichen Wohnhalle des Fünf-Sterne-Hotels Vier Jahreszeiten an der Binnenalster, veröffentlicht in einem Hochglanzmagazin. Das Bild zeigte einen Bürgermeister, der seine Frau nicht nur allen Ernstes „Fila“ nannte – die Abkürzung stand für First Lady –, sondern der es auch nicht allzu sehr mit dem hanseatischen Understatement zu haben schien.
Die mediale Resonanz war verheerend, im Wahlkampf ging es immer öfter um Oberflächlichkeiten, um das Erscheinungsbild des amtierenden Bürgermeisters („Kommt der nicht aus Heidelberg?“) und am Ende sogar um ein geringeltes Polohemd. Olaf Scholz musste gar nicht viel machen, um mit Anzug und Krawatte daneben hoch seriös und kompetent auszusehen. All das, was man in Berlin an ihm bemängelt, um nicht zu sagen verspottet hatte – seine Art zu reden, das mangelnde Charisma, die spröde Ernsthaftigkeit –, geriet im Wahlkampf 2011 zu unschlagbaren Vorteilen.
Hamburg sehnte sich nach Verlässlichkeit
Hamburg hatte genug von Affären und Skandälchen, man sehnte sich angesichts der gigantischen Fehlleistungen rund um die Planung und den Bau der Elbphilharmonie nach Verlässlichkeit. Scholz’ Schwächen waren auf einmal Stärken und er musste gar nicht mehr tun, als zu versprechen, „ordentlich zu regieren“.
Das kommt einem mit dem Blick aus dem Jahr 2021 ebenso bekannt vor wie die Frage, die der „Tagesspiegel“ dem Bürgermeisterkandidaten Scholz in einem Interview im Februar 2011 stellte: „Kann man sagen: Olaf Scholz verdankt seine momentane Popularität vor allem den Schwächen der anderen?“ Die Wahrheit ist: Wahrscheinlich hätte jeder Spitzenkandidat der SPD die Bürgerschaftswahl am 20. Februar 2011 für sich entschieden.
Schwäche der Gegenkandidaten spielt Scholz in die Karten
Das galt für die Bundestagswahl 2021 nicht, die Scholz bekanntermaßen nicht gewonnen hat, weil, sondern obwohl er in der SPD war. Aber die Schwäche des beziehungsweise der Gegenkandidaten hat ihm hier wie dort geholfen. Als ich Olaf Scholz wenige Wochen vor der Bundestagswahl in Berlin traf und fragte, wie er sich fühle, sagte er: „Es fühlt sich an wie 2011.“ Was man schnell falsch verstehen konnte, weil Scholz 2011 in Hamburg die Wahl mit absoluter Mehrheit gewonnen hat.
Der Kanzlerkandidat meinte etwas anderes. Wie damals in Hamburg, spürte er im Spätsommer 2021, dass und wie die Stimmung sich gedreht hatte. In den Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern genauso wie bei Treffen mit Journalistinnen und Journalisten. Er kannte dieses Gefühl, weil er schon einmal erlebt hatte, wie es ist, mit einer tief frustrierten und eben noch zerrütteten Partei aus dem Nichts zu kommen und zu gewinnen. Insofern hat ihm die Erfahrung seines ersten Wahlsieges auch die Gelassenheit gegeben, die ihn in der Schlussphase des Bundestagswahlkampfes von seinen direkten Konkurrenten abgehoben hat.
Er wurde respektiert, aber nicht gemocht
2011 war noch aus einem anderen Grund wichtig für die Entwicklung von Olaf Scholz: Zum ersten Mal musste er sich ohne Wenn und Aber willkommen gefühlt haben. In seiner Zeit in Berlin, sei es als Abgeordneter, als SPD-Generalsekretär und schließlich als Bundesarbeitsminister, wurde er respektiert für seine tiefen und tiefsten Detailkenntnisse, für seinen Arbeitseinsatz und die Bereitschaft, alles, wirklich alles für die Politik zu geben.
Aber gemocht wurde er nicht, weil er so war, wie er war: sperrig, unzugänglich, langweilig. Das änderte sich in Hamburg, der Stadt, die von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern gern als die schönste der Welt bezeichnet wird und in der selbst Menschen wie Udo Lindenberg davon träumen, eines Tages Ehrenbürger zu werden (inzwischen hat er es geschafft).
Olaf Scholz hat sich schon immer gut gefunden
Wer hier Bürgermeister wird, erfährt eine ungewöhnliche Achtung und Zuneigung von den Bürgerinnen und Bürgern. Olaf Scholz hat die, vor allem in den ersten Jahren, genossen und sie hat ihm gutgetan. Nun hat er in der Lebensspanne, die ich übersehen kann, nie an einem mangelnden Selbstbewusstsein gelitten, anders geht es wahrscheinlich auch nicht, wenn man das werden will, was Scholz geworden ist. Er selbst hat sich schon immer gut gefunden. In Hamburg, seiner Heimatstadt, haben das von 2011 an aber auch andere getan. Zum ersten Mal hatte Scholz so etwas wie Beliebtheitswerte, zum ersten Mal zeigten Menschen ihm, dass sie ihn so mochten, wie er ist. Seine Lehre: Ich muss mich nicht verstellen, wenn ich erfolgreich sein will, ich muss keine große Show abziehen. Ich muss einfach nur besser regieren als andere.
Lesen Sie in der Folge am Freitag: Das Prinzip Scholz: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“