Hamburg. Neue Hamburg-Bücher zeigen die Hansestadt nicht nur von ihren schönsten Seiten – sondern auch Orte des Verfalls.
Wenn Weihnachten naht, füllen sich die Supermärkte mit Lebkuchen – und die Buchhandlungen mit Hamburg-Büchern. Denn mit einem Präsent kann man bei Hanseaten kaum danebenliegen – einem prächtigen Bildband, der die Vorzüge der Heimat ins rechte Licht rückt oder einem Buch, das der vielbesungenen Stadt noch neue Zugänge entlockt.
Erst im Oktober veröffentlichte Abendblatt-Autor Matthias Schmoock „Hamburgs verschwundene Orte“ – ein faszinierendes Buch, dass das verlorene Hamburg in Wort und Bild auferstehen lässt (192 Seiten, 19,90 Euro). Schmoock entführt die Leser zu alten Bädern, vergessenen Bierschwemmen und abgerissenen Bahnhöfen.
Bücher: Hamburg von seinen schönen und vergänglichen Seiten
Ein Klassiker unter dem Christbaum aber ist der Bildband – und für das Coffeetable-Magazin „Der Hamburger“ war es nur konsequent, „das Buch der Stadt“ herauszugeben. „Hamburger“-Macher David Pohle setzt dabei ganz auf das Geschick und den Blick des Fotografen Matthias Plander. Er komponiert die „Vier Jahreszeiten“ einer Stadt. Viel Altbekanntes ist dabei, aber auch neue spektakuläre Ansichten einer Stadt.
Pohle wollte nicht zum 500. Mal über HafenCity, Haifischbar und Heringsbrötchen dichten, sondern lässt Lyriker zu Wort kommen – von Rainer Maria Rilke bis Robert Redford, Matthias Claudius bis Wolfgang Borchert. Etwas gekünstelt wirken die englischen Überschriften („Golden autumn days“), aber auch die sind ja irgendwie typisch hamburgisch.
„In Hamburg gibt es erstaunlich viele solcher verlassenen Orte“
Gleich zwei bekannte Autoren setzen auf Verfall – die sogenannten „Lost Places“ der Stadt: Diese verlassenen Orte, mal eingestürzt, mal überwuchert, meist schwer zugänglich, üben seit Langem einen besonderen Reiz auf die Menschen aus, weil sich in ihnen die Vergänglichkeit spiegelt. Fotogalerien im Netz widmen sich mit Hingaben diesen Orten, frönen einer „Ästhetik des Verfalls“. Tipps werden in Foren herumgereicht, wobei der Ehrenkodex gilt: „Nichts mitbringen, nichts mitnehmen.“
Sowohl Thomas Hirschbiegel, Urgestein der Hamburger „Morgenpost“, als auch Manfred Ertel, langjähriger „Spiegel“-Autor und früherer HSV-Aufsichtsrat, haben sich auf die Suche gemacht und vergessene Plätze in der Stadt ausgeleuchtet. Überraschenderweise gibt es auch in einer Metropole wie Hamburg, in der Investoren angeblich jeden Quadratmeter zu Gold machen, noch manches zu entdecken. „Auch in Hamburg und seiner weiteren Umgebung gibt es noch erstaunlich viele solcher verlassenen Orte, wenngleich alte Häuser und Industrieareale hier eine besonders gefährdete Spezies sind“, schreibt Hirschbiegel.
Vom Kiez-Bad, des Kaisers Ankleidezimmer und zerstörten Tunnelstutzen
Ertel setzt auf ein reich bebildertes und auch textlich umfassendes Taschenbuch, Hirschbiegel und der Fotograf Florian Quandt auf einen Fotoband, der die Stadtgrenzen häufiger verlässt. Es liegt in der Natur der Sache, dass manche Orte von beiden Autoren besucht wurden. Und beide vereinen Geschichtsbuch und Stadtführer in einem. Ertel fühlt sich als Schatzsucher: „Die Glücksjäger der Moderne suchen nicht nach versunkenem Gold oder vergrabenen Münzen. Sie jagen nach vergessenen Plätzen – verloren, verlassen, verfallen.“ Wer es ihnen gleichtun will, wird bei Ertel bis zur genauen GPS-Ortung fündig.
- Als Neu Wulmstorf eine Jugendherberge hatte
- Als 1963 ein Wahrzeichen verloren ging
- Eine Hamburger Kindheit in den 1930er-Jahren
Auch dem Hamburg-Profi erzählt der frühere „Spiegel“-Autor noch überraschende Geschichten – ob vom Kiez-Bad, von dem nur die Fassade blieb, des Kaisers Ankleidezimmer am Baumwall oder den Tunnelstutzen der im Kriege zerstörten U-Bahn nach Rothenburgsort. Auch das Braunkohlebergwerk in den Harburger Bergen oder der U-Bootsteich in Wesel, ein Überbleibsel gigantischer Bunkerplanungen der Nazis, sind eher unbekannte Entdeckungen des Stadtreisenden Ertel. Seine Bilder der New York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie in Harburg oder der „Soul Kitchen“ in Wilhelmsburg zeigen zugleich, dass die „Ästhetik des Verfalls“ zugleich Ärgernis sein kann – denn die Zeit zerstört Bausubstanz, die es wert wäre, erhalten zu werden.
Expeditionen ins Umland zeigen vergessene Orte
Die Expeditionen von Hirschbiegel und Quandt sind eher etwas für Sofa-Entdecker, weil sie stärker auf die Ästhetik und Fotosprache abzielen. Die beiden haben verlassene Kliniken wie das Waldkrankenhaus bei Schneverdingen, das Kinderheim Birkenhöhe in Ehestorf oder das Heizhaus im Ochsenzoll besucht, aber auch Bunker wie im Finkenwerder Rüschkanal, den Besenhorster Sandbergen oder der atomare Schutzraum unter der Reeperbahn.
Ein besonderer Reiz geht von alten Industrieanlagen aus wie den Union-Eisenwerken in Pinneberg mit alten Fliesen aus dem 19. Jahrhundert, dem inzwischen abgerissenen Walzwerk in Billbrook oder den Knechtschen Hallen in Elmshorn. Auch Verkehrsflächen wie der nie fertiggestellte Geisterbahnhof „Beimoor“ oder der Schelffischtunnel schaffen es in den Bildband. Ebenso wenig fehlen zwei Vergnügungsstätten mit Kultcharakter – der Tanzpalast Fürstenhof, später die Großraumdisko Palladium, und das Atoll Travemünde, das nun in der Billwerder Bucht verrottet.
„Lost Places“ sind eigentlich „abandoned premises“
Das vielleicht faszinierendste Gebäude ist das Kurhotel Zippendorf am Schweriner See, ein Grandhotel, das völlig heruntergekommen ist, aber den Charme vergangener Tage noch erahnen lässt. Auch das größte Mausoleum des Nordens auf dem Friedhof Ohlsdorf und das Beinhaus der St. Joseph-Kirche auf St. Pauli haben Eingang gefunden – ihr „Memento Mori“ gilt eben manchmal auch für Gebäude.
Übrigens: Deutsche sind so vernarrt in „Lost Places“, dass sie dafür einen Schein-Anglizismus erfunden haben, einen Begriff, den es so nur im Deutschen gibt. Die Briten sagen „abandoned premises“. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Buch von Matthias Schmoock „Hamburgs verschwundene Orte“ ist in der Abendblatt-Geschäftsstelle erhältlich.