Hamburg. Über Nacht erwachsen: Hilde David schildert in „Abschiede, Aufbrüche“ ihr Leben in Weimarer Republik, Nazi-Zeit und Krieg.
Viele Menschen wollen ihre Lebensgeschichte aufschreiben, aber das ist so eine Sache. Mal gibt es eher wenig Berichtenswertes, mal fehlt das schreiberische Können, und mal versiegt die Lust am Mitteilungsbedürfnis nach ein paar Kapiteln. All das trifft auf das Buch „Abschiede, Aufbrüche“ von Hilde David (1926-2020) nicht zu. Rund 20 Jahre hat David an den „Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in Hamburg 1926-1949“ (so der Untertitel) gearbeitet – und es hat sich gelohnt.
Erstaunlich: 590 Seiten umfassen diese nur 23 Jahre, aber man langweilt sich beim Lesen nie. Das fiel auch Steffen Herrmann auf, dem Geschäftsführer des Junius Verlags, der das Buch soeben veröffentlich hat. „Hier ist keine Hobbyerzählerin, sondern eine geborene Erzählerin am Werk“, sagt Herrmann, der zu Recht auch „sehr anschauliche und mit Hamburgensien gespickte Alltagsbeschreibungen, viel Selbstdistanz und Humor, außerdem ein gutes erzählerisches Timing“ ausmacht.
Buch: Wie Hilde David im Hamburg der 1930er Jahre aufwuchs
Die Eckdaten dieser Biografie sind schnell erzählt: Hilde David wird in Barmbek geboren. Ihre Eltern, die der klassenbewussten Arbeiterjugend entstammen, sind sehr jung und geprägt von der Aufbruchstimmung der Weimarer Republik. Hilde, die nach der Trennung der Eltern mit alleinstehenden, selbstbewussten Frauen aufwächst, besucht eine Reformschule und erlebt, wie die moderne Pädagogik durch die NS-Politik zurückgedreht wird und die Propaganda der neuen Machthaber den Alltag immer mehr durchsetzt.
Nach Kriegsbeginn ändert sich das Leben der Familie spürbar. Die schweren Bombardierungen Hamburgs vom Juli 1943 überstehen Hilde und ihre Familie zwar. Doch Kurt, ihre Jugendliebe, stirbt bei seinem ersten Kriegseinsatz – ein Schicksalsschlag, den sie mit Millionen anderen teilt. An eine klassische Schulausbildung ist in den Kriegswirren nicht mehr zu denken, und gegen Kriegsende beginnt Hilde im AK St. Georg eine Ausbildung als Krankenschwester.
Hilde David erzählt aus Sicht der „Kleinen Leute“
Anders als viele andere Autobiografien spielen Hilde Davids Erinnerungen in dem Milieu, das umgangssprachlich mit „Kleine Leute“ umschrieben wird. Man liest also nicht zum Hundertsten Mal von Segelerlebnissen, Abistreichen und Tanzstunden in Alsternähe, sondern David setzt ganz andere Akzente. Zu Hause geht es ungezwungen, anspruchslos und auch witzig zu. Die gesellschaftlichen Veränderungen der 1920er und 1930er Jahre werden von der politisch links stehenden Familie offen diskutiert. Für viele Leserinnen und Leser erschließt sich auf diese Weise mal ein ganz anderer Blickwinkel.
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Hinzu kommt, dass Hilde Davids Familie oft umziehen muss – mal aus persönlichen Gründen, mal aufgrund der Zeitumstände. Die Orte des jeweiligen Geschehens wechseln, in und außerhalb Hamburgs, eine Tabelle im Buch hilft bei der Orientierung. Doch David gelingt es dank ihres anschaulichen Stils, Leserinnen und Leser überall mit hinzunehmen und mit detaillierten und informativen Schilderungen permanent zu fesseln. Auffällig: David beschreibt oft ganz einfache Begebenheiten, aber ihre Sprache selbst ist nie einfach. Deutlich lässt sich erkennen, dass sie sich als Autodidaktin über Jahre weiter gebildet hat, vielfach interessiert und belesen war.
Während der Luftangriffe 1943 lebt sie an der Bürgerweide
Sie repräsentiert so das Heer der vielen namenlosen ihrer Generation, die völlig unvorbereitet in Diktatur, Krieg und Zerstörung hineinwuchsen, denen eine unbeschwerte Kindheit geraubt wurde und die quasi über Nacht erwachsen werden mussten. Als die verheerenden Luftangriffe auf Hamburg beginnen, lebt die Familie an der Bürgerweide, also in einer der 1943 besonders schwer betroffenen Gegenden. Die junge Frau ist damals als „Einsatzmädchen“ für einen Kindergarten dienstverpflichtet. „Auf Nimmerwiedersehen“ – so verabschiedet sich eine Kollegin abends, die in Borgfelde wohnt.
Eindringlich, aber ohne Pathos beschreibt David Nächte im Bunker und die Flucht durch die brennende Stadt: „Wir eilen durch die Lübecker Straße, wo zu beiden Seiten die hohen Häuser brennen, biegen in die Wartenau ein. Viele Menschen suchen den Weg zu Kuhmühlenteich und Alster. Ans Wasser.“ Und später: „Tränen der Erleichterung werden geweint, bevor die vielen, vielen Tränen über schmerzliche Verluste folgen werden.“
Hilde David: „Ich könnte mich glatt beneiden“
Tage später erkrankt Hilde plötzlich an einer massiven Gallenkolik. Sie ist sicher: „Meine Antwort auf die grausigen Nächte mit ihrer zähneklappernden Angst.“ Mit achtundfünfzig Jahren wird ihre Großmutter grau – „nicht (...) in einer Nacht schlohweiß geworden, nur eben: erkennbar mehr.“ Hilde Davids Bilanz aus dieser Zeit: „Ja, ich war doch in diesem gerade vergangenen Juli erwachsen geworden. Ganz schnell, in wenigen Wochen, sehr dramatisch.“
Später arbeitete Hilde David jahrzehntelang bei der damaligen ÖTV, als Rentnerin engagierte sie sich dann für das Museum der Arbeit. Mehr als 40 Jahre lebte David in Barmbek, ihr Grab befindet sich im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Über ihr Leben sagte sie einmal mit erkennbarem Humor: „Wenn ich bedenke, welch schreckliche Zeiten und wie viel Schönes ich danach erlebt habe, könnte ich mich glatt beneiden.“