Hamburg. Der berühmte Cartoonist Tetsche denkt auch mit 75 nicht ans Aufhören. Jetzt erscheint sein neues Buch zur Ausstellung in Stade.

Wenn ein fulminantes Spiegelei im Hafenbecken vor Anker liegt, eine dickbäuchige Amphibie namens „Friedo Frosch“ am Kran hüpft, Menschen mit Schnepfen auf roten Backsteinen Gassi gehen – präsentiert sich Stade von erstaunlich pfiffiger Seite. Noch bis Ende November lohnt sich mehr als nur ein Blick auf die Kaimauern der schmucken Hansestadt. Gut zwei Dutzend Cartoons und Kunstobjekte sorgen bei Flaneuren für Schmunzeln und gute Laune. Eine Handvoll Protestierer, die im Sommer Sexismus in der Kunst wähnten, provozierten Aufmerksamkeit.

Der Absender der ungewöhnlichen Ausstellung steht mit seinem Namen für fantasievolle Vielfalt: „Tetsche Open Air“. Ursprünglich sollten die Installationen jetzt abmontiert werden, doch animiert die Resonanz zum wochenlangen Weitermachen. Stades Hingucker erscheinen am 11. November in Buchform.

Tetsche: Ein Paradiesvogel im Norden

Mehr als ein Grund, den Urheber zum Klönschnack zu treffen. Tetsche, der Name steht sogar im Pass, ist eine einschlägig bekannte Größe. 44 Jahre schuf er für das Magazin „Stern“ eine Seite: „Neues aus Kalau“ und so weiter. Woche für Woche, bis 2018, durchweg urkomisch. Der ursprüngliche Name des gebürtigen Heidjers, Fred Tödter, ist weitgehend unbekannt. Akzeptieren wir also die Marotte und nennen den Künstler: Tetsche.

Seine Markenzeichen: Eine Saugglocke, im Volksmund Pümpel genannt, ein Spiegelei, ein Zahn, ein Kondom und eine aus der Form geratene Säge. Nicht nur im „Stern“, in seinen 30 Büchern, in Ausstellungen und nun im Stader Hafen nimmt Tetsche das Leben auf die Schippe.

Das obligatorische Spiegelei gehört auch hier dazu.
Das obligatorische Spiegelei gehört auch hier dazu. © KJM Andreas Fromm | AFROFOT

Dieser Mann tobt sich aus. Immer schon. Auch privat. Er gilt als einer der kreativsten Paradiesvögel des Nordens. Dass er beim Termin einen melonenförmigen Hut aus Kaffeesackjute trägt – und nicht abnimmt – passt ins unkonventionelle, lebenslustige Bild.

Madeleine und Tetsche wohnen in Steinkirchen

„Moin“, sagt Tetsche und nimmt am Fenstertisch des Café Elbwein im Hamburger Stadtteil Groß Flottbek Platz. Ihm zur Seite sitzt Madeleine, am heutigen Tag seine Fahrerin, aber eigentlich viel mehr: seit einem halben Jahrhundert Lebensgefährtin, Ehefrau, professionelle Cellistin, guter Geist, Seelenverwandte. Lachen gehört dazu.

Die beiden erwachsenen Söhne des Paars leben in Hamburg. Madeleine und Tetsche wohnen in einer restaurierten Dorfschule in Steinkirchen – hinterm Deich im Alten Land. Den Giebel ziert eine Saugglocke. Wenn Reisebusse durch die Region touren, bleiben sie stehen. Ein Pümpel auf dem Dach, auch das sieht man nicht alle Tage.

Tetsche arbeitete auch in Hamburg

Im Hafen von Stade ist Tetsche an der Kaimauer verewigt.
Im Hafen von Stade ist Tetsche an der Kaimauer verewigt. © KJM Tödter | KJM Tödter

Dabei geht’s im ehemaligen Schulgebäude und dem Außengelände noch exotischer zu. Dort gedeiht Federvieh, das in keinem Biologiebuch zu sehen ist: Unglücksrabe, Wanderfalke, Schleiereule, Lachmöwe, Haubentaucher, Graupapagei. Man kann sich denken, was Tetsche daraus machte. Die „Eingefrorene Seele von Roy Black“ hängt im Birnbaum; „Günter Gras“ mäht automatisch den Rasen. Zudem existieren alle möglichen Saugglocken: ein Steinzeit-Pümpel, ein Pharaonen-Pümpel und der Puder-Pümpel. „Zu Hause ist meine Spielwiese“, sagt Tetsche. Auf 4000 Quadratmetern hat er reichlich Raum zum Austoben.

Ein Leben nach ureigenem Gusto führte der eigenwillige, bodenstämmige Niedersachse von jeher. Das strenge, konservative Elternhaus in Soltau verließ er früh. Fred lernte Schriftsetzer in einer Buchdruckerei in Schneverdingen, arbeitete bei Werbeagenturen und Verlagen in Hamburg und Köln, wohnte teilweise in Hotels, entdeckte sein Talent für einen Strich ureigener Art.

Tetsche Karriere nahm Fahrt auf

Kümmerte er sich anfangs um Typografie und die Entwicklung besonderer Logos, spezialisierte er sich zusehends mit Illustrationen und Cartoons. Zwischendurch fuhr er mit einem schrottreifen Fiat 600 durch Europa. Rost und Beulen wurden mit breiten Rallyestreifen kaschiert. Ein halbes Jahr verdiente er sein Geld als Pflastermaler in Amsterdam. Es war eine fidele Zeit. Einfach war sie nicht. „Hunger gehörte zu meinen Lebenserfahrungen“, sagt er.

Eines der Werke aus der Schau „Tetsche Open Air“.
Eines der Werke aus der Schau „Tetsche Open Air“. © KJM Buchverlag | KJM Buchverlag

Als seine Zeichnungen auf ein wachsendes Echo stießen und Einnahmen zunahmen, konnte Tetsche seine Leidenschaft zum Beruf machen. Schon als Jugendlicher entwarf er Grafiken für Pfefferminzdrops und Zigarettenmarken. Seine Cartoons schickte er an Zeitschriften. 1962 kassierte der 16-Jährige das erste Honorar: Die Fernsehzeitschrift „Hör zu“ druckte einen der Cartoons. Daraus wurde immer mehr. Auch „Die Zeit“, „Pardon“, „Konkret“ und andere Magazine servierten ihren Lesern Köstliches von Tetsche.

„Das Wort Alltag kenne ich gar nicht“

Nach weiteren Stationen in Kayhude im Kreis Segeberg sowie dem Dorf Insel in der Lüneburger Heide zogen Tetsche und seine Madeleine 1988 in die Dorfschule nach Steinkirchen, zwischen Buxtehude und Stade an der Lühe idyllisch gelegen.„Das Wort Alltag kenne ich gar nicht“, sagt der 75-Jährige. Für ihn hat jeder Tag Format. Und Genuss. Das Dasein nach seiner Fasson zu gestalten, ist Tetsches Kunst. Zwar lief der Job beim „Stern“, für den es übrigens nie einen Vertrag gab, vor drei Jahren kostenbedingt aus, doch zähmte die freundschaftliche Trennung keinesfalls den Schaffensdrang.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Beispielsweise in Büchern des „Hamburger Strich“, einem norddeutschen Cartoonistenkollektiv mit Heimathafen Hamburg. Oder im neuen „Hochglanz Magazin“, das im Januar 2022 erstmals erscheint und alljährlich veröffentlicht werden soll. In diesen Tagen kommt das Buch zur Ausstellung in Stade im Blankeneser KJM-Verlag auf den Markt: „Tetsche Open Air“. Das Programm bürgt für Qualität.