Hamburg. Erstmals seit drei Jahrzehnten entsteht am Rande Hamburgs ein großes Wohnvorhaben: In Oberbillwerder sollen 15.000 Menschen leben.
Nummer 105 soll etwas ganz Besonderes werden: Die 104 bestehenden Stadtteile fügen sich zum Kunstwerk Hamburg zusammen, von dem der legendäre Oberbaudirektor Fritz Schumacher einstmals sprach. Da darf der neue nicht abfallen. Ganz im Gegenteil: Oberbillwerder wird der erste Stadtteil des 21. Jahrhunderts, mit einem neuen Verständnis von Mobilität, Mischung und Masse: Eines Tages sollen hier in 6000 bis 7000 Wohnungen rund 15.000 Menschen leben, 5000 Beschäftigte arbeiten und die Naherholung vor der Haustür beginnen.
Den neuen Stadtteil plant die städtische Projektentwicklungsgesellschaft IBA Hamburg. Hervorgegangen ist das Unternehmen aus der Internationalen Bauausstellung, die von 2006 bis 2013 die Stadtteile Veddel und Wilhelmsburg aufgewertet hat. Karen Pein ist seit 2006 dabei und hat dabei 70 Projekte mitumgesetzt, die Nachhaltigkeit, Ökologie und Soziales auszeichnen. „Es ging darum, diese Areale wieder in die Stadt hineinzuholen“, sagt die IBA-Geschäftsführerin.
Oberbillwerder: Karen Pein entwickelt einen ganzen Stadtteil
Nun kommt ihr die nicht eben leichte Aufgabe zu, nicht nur Quartiere, sondern einen ganzen Stadtteil zu entwickeln. Einen Stadtteil, der Heimat werden und die gewachsenen Ansprüche unter einen Hut bringen soll. Bislang ist Oberbillwerder noch eine landwirtschaftliche geprägte Fläche zwischen der S-Bahn-Station Allermöhe und Billwerder – ein 118 Hektar großer Stadtraum der Möglichkeiten.
Wie baut man einen neuen Stadtteil?
„Es gibt ein paar Alleinstellungsmerkmale, die den Plan ausmachen“, sagt Pein. Da ist etwa der Umgang mit dem ruhenden Verkehr: Parkenden Autos wird man im öffentlichen Raum nicht sehen. „Wir schaffen in Oberbillwerder bemerkenswerte Freiräume, die eine andere Qualität haben, als man sie aus Hamburg kennt“, verspricht Pein. Alle Autos müssen zentral in so genannten Mobility Hubs abgestellt werden, wie die Quartiersparkhäuser heißen.
Das Leben soll zurück in die Wohn- und Spielstraßen
Sie sollen noch sehr viel mehr leisten: Im Erdgeschoss finden sich Einzelhandel, Kultureinrichtungen, aber auch zentrale Poststellen. Rund um die elf geplanten Mobility Hubs liegen die Quartiersplätze - auch hier sind die Erdgeschosszonen für Versorgung und Dienstleistungen vorbehalten. Die Dächer der Parkhäuser bieten Raum für Freizeitangebote und Energiegewinnung. Das Leben soll zurück in die Wohn- und Spielstraßen, die nötige Infrastuktur ist fußläufig erreichbar wie die drei geplanten Grundschulen und die 14 Kitas.
„Die Herausforderung lautet, Urbanität zu schaffen“, sagt Pein. Dies sei nicht einfacher geworden, weil klassische Zentren ihre Bedeutung verloren hätten – ob Kirchen, Bankfilialen oder auch Rathäuser. „Vieles, was historisch das Zentrum ausmachte, ist weggefallen.“ Die öffentlichen Räume müssen neu erfunden werden, Autos behindern diese Gestaltung. „Wir haben keine Parkplätze mehr, die vom Blech belegt werden, die Sichtachsen stören, die nicht genutzt werden können.“ Autofrei aber wird Oberbillwerder nicht - eher autoarm.
Oberbillwerder: Hier sollen auf eigenes Auto verzichten
Während in der Hansestadt derzeit auf 1,85 Millionen Einwohner mehr als 800.000 Autos kommen, rechnen die Planer im neuen Stadtteil mit einer Stellplatzquote von 0,4 Autos – rund 2500 Fahrzeuge auf 15.000 Bewohner. „Das wäre deutlich weniger als anderswo. Die Menschen, die nach Oberbillwerder ziehen, sollten bereit sein, auf ein eigenes Auto zu verzichten oder andere Mobilitätsangebote zu nutzen.“
Aus diesem Grund sei eine funktionierende alternative Mobilität elementar: Die S-Bahn schließt den neuen Stadtteil ebenso an wie ein Radschnellweg. Hinzu kommt das Autoteilen oder autonome Busse. „Es geht gar nicht darum, dass keiner mehr Auto fahren darf“, sagt Pein. „Die Frage lautet, ob jeder sein eigenes Auto haben muss.“
In anderen Stadtteilen dominiert das Auto den öffentlichen Raum
Damit unterscheidet sich Oberbillwerder von der letzten großen Stadterweiterung in Hamburg: In den Achtzigerjahren entstand in unmittelbarer Nachbarschaft Neuallermöhe-Ost, ein Jahrzehnt später Neuallermöhe-West. Hier dominiert das Auto den öffentlichen Raum. Weitere Unterschiede springen ins Auge. Allermöhe weist eine niedrigere Dichte auf, die Häuser sind relativ monoton – und Arbeitsplätze finden sich kaum. „Die öffentlichen Räume sind häufig nicht sehr belebt, die Erdgeschosszonen haben Schwierigkeiten, etwas anderes als Wohnungen unterzubringen“, sagt Pein. „Alles hängt miteinander zusammen. Daher haben wir sehr darum gekämpft, unsere Zielzahlen zu halten: 7000 Wohneinheiten und 4000 bis 5000 Arbeitsplätze. Wir brauchen diese kritische Masse.“
Nur so arbeiteten die geplanten Mobilitätsangebote wirtschaftlich. Die Ziele sind durchaus ambitioniert, gibt Pein zu. „Das ist eine Menge Holz.“ Deshalb hat die IBA Hamburg ihre Herangehensweise verändert. „Für Gewerbe gibt es keine Hektarvorgabe mehr, sondern wir wollen Arbeitsplätze, die mischungsfähig sind, die sich im Stadtteil verteilen.“ Für Besorgungen und Dienstleistungen sollten die neuen Bewohner nicht kilometerweit fahren, sondern vieles in unmittelbarer Nähe finden – eine Verwirklichung des Ideals der Zehn Minuten Stadt.
Karen Pein spricht vom Paradigmenwechsel
Für diese Neuerfindung – Pein spricht gern vom Paradigmenwechsel - gebe es mehrere internationale Vorbilder. „Bevor der Wettbewerb begann, haben wir eine sehr große europaweite Exkursion gemacht“, sagt Pein. Es ging nach Helsinki, Stockholm, Amsterdam, Wien. „Wir stehen in einem regelmäßigen Austausch mit großen Neubauprojekten.“ Weltweit hochgelobt wird die Seestadt Wien-Aspern, die um einen fünf Hektar großen See wächst. „Da bin ich selbst noch im September geschwommen, es war fantastisch“, erzählt Pein. „Das ist ein wirkliches Pfund der Seestadt Aspern. Die großen Projekte lernen voneinander. Stockholm etwa hat unser Regenwassermanagement übernommen.“
Die Reisen hätten verdeutlicht, wie wichtig ein Mindestmaß an Dichte und die architektonische Vielfalt sind. „Das ist ein Grund, warum sich der siegreiche Entwurf im Wettbewerb durchgesetzt hat. Wir möchten einen Höhenspiel der Dachlandschaften, wir wollen unterschiedliche Fassaden, einen vielseitigen Stadtteil.“ So sind einige höhere Häuser mit sieben, acht Geschossen geplant, Bungalows hingegen ausgeschlossen. „Einfamilienhäuser wird es geben, aber in kleiner Zahl und verdichtet. Das Reihenhaus ist das neue Einfamilienhaus. Darüber muss man sich in Hamburg im Klaren sein.“
Das Antlitz der Stadt wird sich wandeln
„Die gesamte Masterplanung ist aus der Freiraumplanung heraus entstanden, in der wir die alten Wasserläufe aufgenommen haben.“ Sie geben dem neuen Stadtteil seinen Charakter. „Es wird viele Arten von Freiräumen geben, die vernetzt sind: Statt eines großen Parks gibt es überall grüne Räume, die sich weiten und verengen und von einem feinen Wegenetz durchzogen sind.“ Gemeinschafts- und Kleingärten sollen den grünen Stadtteil abrunden.
Trotzdem treibt viele Nachbarn die Sorge um, der neue Stadtteil werde ihre Quartiere überlasten oder Naherholungsgebiete wie die Boberger Dünen gefährden. „Diese Sorgen nehmen wir ernst. Wenn wir einen neuen Stadtteil in dieser Dimension planen, muss das Verkehrsnetz ausgebaut werden.“ Schon früh im Wettbewerb habe man Verbindungen ausgeschlossen, um bestehende Siedlungen nicht zu überfordern. Die Boberger Dünen seien schon heute stark belastet - gerade deshalb sollte die Erholung in Oberbillwerder vor der Haustür beginnen.
Oberbillwerder wird ein Standort der HAW
Noch etwas macht den neuen Stadtteil besonders: Oberbillwerder wird ein Standort der Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Pein ist sich sicher, dass er Studenten in den neuen Stadtteil locken wird. „Sie organisieren sich schon jetzt in Arbeitsgruppen und machen Workshops, wie das neue Projekt aussehen könnte.“ Die Idee eines Gesundheitscampus passe hervorragend nach Oberbillwerder. „Wir haben das Leitbild Active City und das Leitbild Gesundheit, Ernährung, Sport. Wir bieten die passenden baulichen Strukturen im Quartier.“
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Es werde kein monolithischer Campus entstehen, sondern die Hochschule öffne sich in den Stadtteil, etwa über die Mensa. Mit den Schulstandorten wird das Schwerpunktthema Sport entwickelt. Auch ein Schwimmbad entsteht in Oberbillwerder. Pein hat noch weitere Ideen: „Mein persönlicher Ansporn ist ein Projekt, wo das eigene Pferd direkt an der Kulturlandschaft auf der Wiese steht. So etwas gibt es in Hamburg noch nicht.“
IBA Hamburg befasst sich mit dem ökologischen Fußabdruck
Intensiv befasst sich die IBA Hamburg mit dem ökologischen Fußabdruck: Die gesamte Planung wird durch die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen begleitet und bewertet - ein Zertifikat in Platin hat Oberbillwerder schon gewonnen. „Das ist nicht einfach zu bekommen, man muss an die 100 Kriterien mitdenken und von Anfang an in der Planung erfüllen. Nachhaltigkeit bedeutet immer eine Ausgewogenheit zwischen Wirtschaftlichkeit, Ökologie und Sozialem. Wir müssen dieses Dreieck in Balance halten.“ Es gebe Herausforderungen gerade bei der CO2-Bilanz, gesteht Pein ein.
Woher kommen die Baustoffe? Lässt sich der Materialeinsatz reduzieren? Wie werden die Baustellen organisiert? Gelingt eine Energieversorgung zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien? Gerade die Bauphase entscheidet, wie grün Oberbillwerder wirklich wird: „Die Emissionen der Nutzungszeit der Immobilien ist weniger wichtig als die Frage der Emissionen bei der Entstehung“, sagt Pein.
Oberbillwerder: Eine unglaublich komplexe Aufgabe
Hamburg hat sich mit Oberbillwerder hohe Ziel gesteckt - sind sie zu hoch? „Es ist eine unglaublich komplexe Aufgabe“, sagt die Geschäftsführerin. „Es kommen eine Menge Ansprüche auf uns zu. Jede Fachbehörden schraubt an ihrem Thema, die Frage der Mobilität ist dominant und auch die Umweltbehörde hat ihre Themen.“ Aber Pein klingt nicht danach, dass aus Anforderungen Überforderungen werden.
Nach ihren Worten sollen 2026 oder 2027 die ersten Menschen nach Oberbillwerder ziehen. Wann Hamburgs 105. Stadtteil fertig sein wird, könne sie heute noch nicht sagen. „Das ist ein Unterschied zu den früheren Wohnsiedlungen. Man muss solchen Stadtteilen Zeit zum Wachsen geben, wir müssen eine Identität entwickeln. Die kann man nicht in fünf oder zehn Jahren aus dem Boden stampfen. Das darf auch 20 Jahre dauern.“