Hamburg/Schleswig-Holstein. Hamburgs Gesundheitssenatorin und ihr schleswig-holsteinischer Amtskollege über das Vorgehen in der Corona-Pandemie.

Man mag sich, und man duzt sich, man lobt die Zusammenarbeit in höchsten Tönen – und doch entscheiden sich die beiden Bundesländer und ihre obersten Pandemiebekämpfer immer wieder für eigene und ganz unterschiedliche Wege, wenn es um den Umgang mit dem Coronavirus geht.

Zum ersten großen Doppelinterview trafen sich Hamburgs Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) und Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) beim Abendblatt.

Ein Gespräch mit Insa Gall und Stephan Steinlein über die Impfpflicht für Ärzte, Pflegekräfte oder Erzieher, über 2G oder 3G und über Fehler in der Pandemiebekämpfung, die mit dem Wissen von heute nicht mehr gemacht würden.

Frau Leonhard, Herr Garg, die Corona-Inzidenz steigt mit dem Ende der Herbstferien von Tag zu Tag deutlich. Auch wird die Situation in den Krankenhäusern – vor allem auf den Intensivstationen – wieder angespannter. Den Freedom Day, den einige Ärztevertreter vor Kurzem noch fordern, können wir jetzt erst einmal vergessen – oder?

Melanie Leonhard: Bestimmte Grund­hygienemaßnahmen werden wir im Herbst noch brauchen. Dazu zählt, eine Maske zu tragen, Abstand zu wahren und Hygienekonzepte bei Veranstaltungen einzuhalten.

Heiner Garg: Nach den Impferfolgen unserer beiden Länder ist ein klares bundesweites Signal wichtig, dass es harte Maßnahmen wie den Lockdown oder Ausgangssperren vermutlich nicht mehr geben wird. Vermutlich bezieht sich auf eine nicht vorhersehbare bedeutsame Entwicklung durch eine neuerliche Virusmutation, die gegen alle verfügbaren Impfstoffe resistent wäre.

Melanie Leonhard: Sollte tatsächlich eine solche Variante auftreten, was nicht sehr wahrscheinlich ist, oder der Impfschutz in bestimmten Bevölkerungsgruppen deutlich zurückgehen, müssten wir uns wieder zu neuen Maßnahmen entschließen. Gegenwärtig glaube ich, dass wir mit den Schutz- und Hygienemaßnahmen, die wir in Hamburg haben, gut zurechtkommen. Dazu gehört, in Läden, Bus oder Bahn eine Maske zu tragen, weil man hier engen Kontakt mit Unbekannten hat.

Heiner Garg: Anders als im vergangenen Jahr müssen wir uns mit gezielten Maßnahmen auf den Schutz ganz besonders vulnerabler Einrichtungen fokussieren, wie beispielsweise Pflegeheimen. Dazu gehört, die dritte Impfung für hochbetagte Menschen sicherzustellen. Hier nehmen die Impfdurchbrüche zu.

Herr Garg, Sie haben in Aussicht gestellt, Ende des Jahres den Übergang von einer pandemischen in eine endemische Einstufung des Virus einzuleiten. Was würde das konkret bedeuten?

Heiner Garg: Es zeichnet sich ab, dass die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite vom Deutschen Bundestag über den 24. November hinaus nicht verlängert wird. Das bedeutet, dass der Ausnahmezustand mit der Möglichkeit zu massivsten Grundrechtseingriffen in Deutschland endet. Und das ist zunächst einmal ein richtiges und wichtiges Signal. Damit ist Corona aber nicht vorbei. Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Dazu gehört, weiter bestimmte Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

Frau Leonhard, sehen Sie das auch so, dass man Ende des Jahres die pandemische Lage beenden kann?

Melanie Leonhard: In den vergangenen Monaten haben wir gelernt, immer die aktuelle Lage zu bewerten und das nicht vorwegzunehmen. Die Pandemie ist vorbei, wenn sie vorbei ist. Und keinen Tag früher. Ich kann dazu keine kalendarische Planung versprechen. Wir brauchen aber auch nach dem Auslaufen der pandemischen Lage eine gesetzliche und gerichtsfeste Grundlage, um bestimmte Maßnahmen noch darüber hinaus umsetzen zu können. Dabei geht es um überschaubare Regelungen mit großer Wirkung: beispielsweise die Maskenpflicht, die Testkonzepte oder die Pflicht, einen Impfnachweis in bestimmten Situationen vorlegen zu müssen. Das sind alles Dinge, die bei anderen Impfungen und Erkrankungen nicht im normalen gesetzlichen Rahmen vorgesehen sind. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Impfungen einen Ausweg aus der Lage ermöglichen.

Eine Studie in Israel zeigt, dass Menschen, die eine Drittimpfung bekommen haben, sehr viel besser vor einer Corona-Infektion geschützt sind und auch weniger schwere Verläufe haben. Warum geben Sie den Impfstoff nicht auch für eine Booster-Impfung aller Bürgerinnen und Bürger sechs Monate nach ihrer Zweitimpfung frei, sondern bislang nur für Senioren und Vorerkrankte?

Melanie Leonhard: Die Ärztinnen und Ärzte richten sich nach der Empfehlung der Ständigen Impfkommission. Die Stiko wertet die weltweit verfügbaren Daten aus. Für eine Drittimpfung sprechen das fortgeschrittene Alter, eine Vorerkrankung zum Beispiel durch Krebs, eine Immunschwäche. Ansonsten kann man davon ausgehen, dass die bei uns zugelassenen Impfstoffe für alle anderen Gruppen gegenwärtig ausreichenden Impfschutz bieten. Es ist wie zu Beginn der Impfungen: Wir beginnen mit den Ältesten, den Schwächsten, den Gefährdetsten.

Verstehen wir das richtig: Das einzige Ar­gument, dass gegen eine Drittimpfung auch jüngerer Menschen spricht, ist, dass die Stiko­ die Impfung noch nicht empfohlen hat …

Melanie Leonhard: Genau. Die Ärzte müssen Daten vorliegen haben, bevor sie handeln.

Müssen die Hamburger aller Altersgruppen also bis zu einer Empfehlung der Stiko auf ihre Impfung warten?

Melanie Leonhard: Viele Menschen sind noch gar nicht geimpft, nicht nur in Hamburg, sondern weltweit. Eine Pandemie beenden wir aber nur, wenn wir das Thema Impfschutz insgesamt vorantreiben. Die wichtigste Aufgabe ist, Impflücken zu schließen. Ob ich dann individuell mit einer Drittimpfung besser dastehe als nur mit einer Zweitimpfung, hängt von meinem Alter und meinem Immunsystem ab.

Herr Garg, wie wollen Sie die ungeimpften Menschen in Ihrem Bundesland bewegen, sich doch noch impfen zu lassen?

Melanie Leonhard: (Lacht) Du hast ja nicht mehr so viele …

Heiner Garg: Massiver Druck seitens Politik hilft nur begrenzt. Krasse Impfgegner erreichen Sie auch mit den besten Argumenten nicht. Aber das ist eine sehr kleine Minderheit. Es gibt noch Skeptiker gegenüber den bislang vorhandenen Impfstoffen. Ich gehe davon aus, dass wir im vierten Quartal noch mindestens ein oder zwei neue, proteinbasierte Impfstoffe bekommen. Diese Art der Impfstoffe kennt man von vielen anderen Impfungen, wie der Grippeimpfung. Ich hoffe, dass dadurch die Zahl der Impfwilligen bundesweit um ein paar 100.000 Menschen steigt, die skeptisch sind gegenüber den beiden anderen bislang eingesetzten Impfstofftypen. Zudem müssen wir Menschen mit niedrigschwelligen Angeboten ansprechen. Deshalb schicken wir weiterhin mobile Impfteams in Familienzentren, Bahnhöfe, Einkaufszentren.

In diesem Punkt sind sich die beiden Bundesländer einig, aber ansonsten waren Hamburg und Schleswig-Holstein im Verlauf der Pandemie ganz und gar nicht im Gleichtakt unterwegs. Was man sehr gut im Hamburger Umland festmachen konnte. Warum war es oft nicht möglich, sich in der Metropolregion auf eine gemeinsame Linie zu einigen?

Melanie Leonhard: Grundsätzlich stimmen sich Hamburg und Schleswig-Holstein in vielen Dinge sehr gut ab. Ich gehe so weit zu sagen, dass wir in den Impffragen zwei der am besten abgestimmten Bundesländer überhaupt waren und sind. Das ging bis zum Austausch von Material.

Heiner Garg: Auf der Gesundheitsebene war unsere Zusammenarbeit die beste aller Bundesländer. Und das von Anfang an.

Melanie Leonhard: Dennoch sind wir zwei unterschiedliche Bundesländer mit sehr unterschiedlichen Pandemieverläufen. Die Schleswig-Holsteiner haben beispielsweise zehnmal so viel Platz wie die Hamburger. Hinzukommt: Hamburg ist eine Einheitsgemeinde. Die kann eine Lösung für alle Bürger beschließen. In Schleswig-Holstein sind andere politische Ebenen wie die Landkreise zu beteiligen, die manches Mal eigene Wege gehen. Zu Unverständnis und Ärger beim Bürger kann dann führen, wenn auf der einen Seite andere Regeln gelten als 50 Meter weiter.

Ein aktuelles Beispiel, das exemplarisch die unterschiedliche Herangehensweise der Länder zeigt, ist 2G beziehungsweise 3G. Schleswig-Holstein setzt auf 3G, also gleiche Rechte für Getestete, Geimpfte und Genesene, Hamburg präferiert das 2G-Modell und erhöht so den Druck auf Ungeimpfte. Herr Garg, was sagen Sie zum Hamburger 2G-Modell?

Heiner Garg: Wir haben es uns in der Pandemie verkniffen, die Politik anderer Bundesländer zu bewerten. Schleswig-Holstein hat sich für 3G entschieden, weil die Gesellschaft durch die Pandemie ohnehin schon droht tief gespalten zu werden. Das 3G-Modell soll beitragen, dass auch Getestete Theater, Kinos, Konzerte oder Restaurants besuchen können. Wir wollen Menschen nicht ausschließen. Man muss auch den unterschiedlichen Verlauf der Pandemie sehen. Schleswig-Holstein war mit einer Ausnahme im Sommer das Bundesland mit den niedrigsten Inzidenzen. Vor gut einer Woche lagen wir noch bei einer Inzidenz unter 30 ...

Trotzdem haben Sie in der frühen Phase der Pandemie die Zweitwohnungsbesitzer aus dem Land geschmissen …

Heiner Garg: Das war im Frühjahr 2020, und wir wussten alle herzlich wenig über dieses Virus. Als ich im Januar 2020 die ersten Testkapazitäten für Schleswig-Holstein geordert habe, weil ich gemerkt habe, da kommt etwas auf uns zu, konnte ich nicht genau wissen: Wie lange dauert das? Welche Ausmaße nimmt das an? Das alles wussten wir nicht. Mit dem Wissen von heute würden wir sicherlich manche Entscheidungen von damals heute anders treffen. Vermutlich auch die Entscheidung zu den Zweitwohnungsbesitzern.

Gibt es Entscheidungen, die Sie heute anders treffen würden, Frau Leonhard?

Melanie Leonhard: Mit Sicherheit. Retrospektiv ist man immer schlauer. Aber das Wissen von heute hatten wir damals nicht. Hätten wir im März 2020 gewusst, wie lange Schulen und Kitas geschlossen sein würden, hätten wir nicht zugemacht. Wir standen im Frühjahr 2020 unter dem Eindruck der Bilder aus Italien, Spanien und den USA.

Kommen wir zurück zu 2G. Frau Leonhard, haben Sie kein schlechtes Gefühl, wenn Sie viele Hamburger ausgrenzen von der öffentlichen Teilhabe?

Melanie Leonhard: 2G ist nicht der Weg, andere auszuschließen, sondern Genesenen und Geimpften mehr zu ermöglichen. Warum sollten Geimpfte schließlich noch bestimmte Einschränkungen hinnehmen müssen, wo sie doch bereits geschützt sind? Der Weg mit 3G steht aber für andere Veranstaltungsformen unverändert zur Verfügung.

Die Impfdurchbrüche gerade in Alten- und Pflegeheimen nehmen zu. Ist es nicht Zeit für eine Impfpflicht für Beschäftigte in Berufsgruppen mit körperlichem Kontakt zu anderen? Also zum Beispiel für Pflegekräfte oder Erzieher?

Heiner Garg: Ich setze zuallererst auf die Solidarität, Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein aller Menschen, auch in diesen Berufsgruppen. Die Impfpflicht kann dann das wirklich allerletzte Mittel sein, besonders vulnerable Gruppen zu schützen. Bis wir einem solchen Gedanken nähertreten, müssen wir aber alle Anstrengungen unternehmen, um den Mitarbeitenden in der Pflege Impfangebote zu machen. Und bevor wir zu einer Impfpflicht kämen, müssten andere Maßnahmen ausgeschöpft sein, zum Beispiel das Arbeiten in voller Schutzausrüstung, wenn man nicht geimpft ist. Wir haben außerdem die tägliche Testpflicht für nicht Geimpfte als Instrument eingeführt. Auch müssen wir, daran erinnerte kürzlich ein Corona-Ausbruch in einem Norderstedter Heim, peinlich genau darauf achten, dass die bestehenden Hygienemaßnahmen konsequent umgesetzt werden. Die besten Regeln helfen uns nichts, wenn es an Verantwortung und Rücksichtnahme mangelt, also beispielsweise symptomatische Beschäftigte dennoch den Dienst aufnehmen.

Melanie Leonhard: Ich bin überzeugt, dass es keine Alternative zur Impfung gibt, wenn man in solchen Berufen arbeitet. Es sei denn, man wäre bereit, unter Vollschutz zu arbeiten. Ich kann persönlich überhaupt nicht nachvollziehen, warum man sich gegen eine Impfung entscheidet. Aber manche Menschen entscheiden sich nun mal anders. Das Wichtigste ist, Menschen davon zu überzeugen, dass die Impfung sinnvoll und notwendig ist über den individuellen Schutz hinaus: Jeder kann einen Beitrag leisten, die Pandemie zu überwinden und Verantwortung für ältere und kranke Menschen zu übernehmen. Bei den Masern sind wir am Ende einer gesellschaftlichen Debatte zu einer Impfpflicht gekommen. Diese Debatte brauchen wir jetzt auch hier.

Frau Leonhard, Sie haben im Sommer 2020 nach dem Abgang von Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks auch noch deren Aufgaben und damit die Zuständigkeit für die Pandemiebekämpfung übernommen. Waren Sie als Arbeits- und Sozialsenatorin nicht ausgelastet?

Melanie Leonhard: (Lachen beide) Ich war immer ausgelastet und auch sehr zufrieden und einverstanden mit meinen Aufgaben. In der Gesundheitspolitik gibt es viele Schnittstellen zur Arbeitsmarkt-, Familien- oder Sozialpolitik. Das ergänzt sich sehr gut und macht deshalb politisch auch Sinn.

Heiner Garg: Ich habe mich unglaublich gefreut, dass Melanie Leonhard die Aufgaben der Gesundheitssenatorin mit übernommen hat.

Das Interview führten Insa Gall und Stephan Steinlein.