Jesteburg/Hamburg. Geächtet, verfolgt, dem KZ knapp entkommen und noch nach dem Krieg ausgegrenzt. Erfahrungen im Hamburg um die NS-Zeit.
Kurz nach seiner Einschulung im Jahr 1938 ruft ihn der Leiter der Grundschule in Hamburg-Horn bei einem Fahnenappell nach vorne. „Buterfas, tritt mal hervor. Du holst jetzt deine Sachen aus dem Klassenzimmer, du verschwindest, und du brauchst hier nie wieder auftreten!“ Die unter der Hakenkreuzflagge angetretenen Mitschüler rufen ihm „Jude! Jude!“ oder auch „Mistschwein!“ nach. So berichtet es der heute 88 Jahre alte Ivar Buterfas-Frankenthal.
Dieses Erlebnis prägte das ganze Leben des späteren Boxpromoters und Unternehmers. Als Zeitzeuge hat er die Szene immer wieder beschrieben. Vor wenigen Jahren bekam er nach einem Auftritt vor Schülern in der Hamburger Katharinenkirche eine Kunstmappe als Dank. Darin findet sich eine Zeichnung der Szene von 1938. Ein Schüler hat den kleinen Ivar mit einem Gesicht gemalt, das an Edvard Munchs „Schrei“ erinnert.
Er wusste nichts vom Judentum seiner Ahnen
Er habe damals gar nicht gewusst, was ein Jude ist, sagt Buterfas, obwohl sein Vater Jude und Kommunist gewesen sei. Seine Eltern hätten darüber nicht geredet. Sie hätten ihr Geld als Stepp-Akrobaten verdient, in der Nazi-Zeit allerdings immer weniger Auftrittsgelegenheiten bekommen. Die Großeltern Buterfas besaßen eine Tabakfabrik in Dresden. Sie unterstützen die Familie in Hamburg - bis zur „Arisierung“, also Zwangsenteignung der Fabrik 1937.
Bereits 1934 und erneut ab 1938 habe der Vater im KZ gesessen. Seine christliche Mutter habe ihn und seine sieben Geschwister taufen lassen, sagt Buterfas. Doch das nützte der Familie wenig. Die Kinder galten als Halbjuden. Für die Familie gab es keine Lebensmittelkarten. Mutter und Kinder verloren ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Während der schweren Bombenangriffe auf Hamburg durften sie keine Zuflucht in Luftschutzbunkern suchen. Schließlich drohte ihnen sogar die Deportation in ein KZ. Ein Freund des Vaters, der bei der Gestapo arbeitete und gute Kontakte zum Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann hatte, habe die Familie rechtzeitig gewarnt, berichtet Buterfas.
Im Strom der Flüchtlinge gen Osten
So machen sich 1942 Mutter und Kinder im Strom der Flüchtlinge vor den Luftangriffen Richtung Osten auf den Weg. Etwa ein Jahr lang kann die Familie in der Tucheler Heide bei Danzig untertauchen. Dann droht erneut die Deportation, Mutter und Kinder kehren nach Hamburg zurück und verstecken sich bis Kriegsende in den Kellern zerstörter Häuser.
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Ivar und sein Bruder Rolf müssen Nacht für Nacht nach Lebensmitteln in den Ruinen suchen. Am 3. Mai fahren die lang ersehnten britischen Panzer in die Stadt. Der Krieg ist zu Ende, die Not nicht. Ivar Buterfas und seine Schwester Felicitas gehen wieder zur Schule, werden aber von den Kindern wegen ihrer Herkunft und ihres Namens angefeindet. „Wir wurden regelrecht ausgegrenzt, es war schrecklich“, erinnert sich Buterfas. Der Vater war aus dem Konzentrationslager zurückgekommen, ließ die Familie jedoch im Stich.
Nach dem Krieg ging die Ausgrenzung weiter
Vielleicht wegen dieser frühen Erfahrungen ist Buterfas heute so stolz auf seine vielen Freunde und die Anerkennung, die ihm entgegengebracht wird. 37 Orden und Auszeichnungen hat er bekommen. Er hebt sie alle respektvoll in einem Glasschrank in seinem Haus in Jesteburg (Landkreis Harburg) auf. Zuletzt überreichte ihm Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) Anfang September das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Damit wurde sein außerordentliches Engagement als einer der letzten Zeitzeugen des Holocausts gewürdigt.
Buterfas hat sich in den Nachkriegsjahren durchboxen müssen. Seine deutsche Staatsangehörigkeit habe er erst 1964 zurückbekommen. Ohne Papiere habe er keine Ausbildung machen können. Er habe im Hafen die Wassertanks von Schiffen gereinigt, erzählt er. Vom Hilfsarbeiter über Verkäufer von Haarwasser und Elektrogeräten bis zum Bauunternehmer hat er es gebracht. Mit Leidenschaft hat er den Boxsport gefördert. Max Schmeling zählte er zu seinen besten Freunden. Für seine Heimatstadt, die ihn einst deportieren wollte, hat sich Buterfas ehrenamtlich engagiert.
Sein stärkster Glaube gilt seiner Frau
Besonders am Herzen lag ihm die Sanierung des Mahnmals St. Nikolai. Die Erinnerung an den Krieg und die Verbrechen der Nationalsozialisten wachzuhalten, ist ihm ein großes Anliegen. So hat er sich auch für den Erhalt der Originalbaracken im ehemaligen Kriegsgefangenenlager Sandbostel bei Bremen eingesetzt. In den vergangenen 30 Jahren ist er nach eigenen Angaben rund 1500 Mal als Zeitzeuge öffentlich aufgetreten. Immer wieder warnt er Jugendliche vor den Gefahren der Nazi-Ideologie. Seine humorvolle, direkte Ansprache kommt an. „Sunny Goj“ hat er seine 1995 erschienenen Lebenserinnerungen genannt.
Ist er nun ein Jude oder ein „Goj“, wie Juden die Nicht-Juden nennen? Woran glaubt er? „Ich glaube an das, was meine Frau sagt“, antwortet Buterfas verschmitzt. Sie ist die Person, die ihm seit bald sieben Jahrzehnten Halt gibt. Bei ihrer Diamantenen Hochzeit habe sie der Pastor erneut gesegnet und dabei auch den jüdischen Ritus berücksichtigt, sagt seine Frau Dagmar Buterfas-Frankenthal. Auf einem Foto von der Zeremonie ist eine Menora - der siebenarmige jüdische Leuchter - zu sehen.
Er mahnt noch immer
Nun will Buterfas kürzertreten und weniger öffentliche Auftritte absolvieren. Aber seine zugesagten Termine will er unbedingt halten. Mitarbeiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wollen ihn interviewen, und für den 9. November, den Jahrestag der antijüdischen Pogrome von 1938, ist eine Veranstaltung in Buchholz geplant.
Ein Vorfall hat ihn kürzlich darin bestärkt, noch intensiver vor Antisemitismus zu warnen. Sein 60 Jahre alter Neffe wurde bei einer Mahnwache für Israel am Hamburger Hauptbahnhof angegriffen und durch Schläge im Gesicht verletzt.