Der Mediziner behandelte Helmut Schmidt, war noch zwölf Jahre nach seiner Verabschiedung Chefarzt – und verfasste jetzt seine Memoiren.

Wer mit Roland Tauber spricht, muss sich gegen Assoziationen mit Alpenglühen, Brezeln und Trachtenjoppe geradezu stemmen. Tauber, 82 Jahre alt, aber drahtig wie ein Mittsechziger, plaudert wie ein Altbayer – inklusive „Pfüati“, „Servus“ und „Saukerl“.

Dabei wohnt er schon seit 1988 an der Alster, und Hamburg ist ihm, wie er sagt, längst zur Heimat geworden. Doch viele Angehörige und Freunde leben im Süden, und er quert mit seinem scheckheftgepflegten BMW Baujahr 1987 mehrmals jährlich den Weißwurstäquator.

Roland Tauber ist stolz auf seine Identität

Frischt er dabei seine weiß-blauen Zellen also jedes Mal wieder auf? Der Punkt ist eher, dass der hoch angesehene Mediziner immer authentisch blieb. Vermutlich könnte er lupenreines Hochdeutsch sprechen, aber es kommt ihm gar nicht in den Sinn, seine Herkunft zu verschleiern, die Teil seiner Identität ist und auf die er auch stolz sein kann.

Wir treffen uns in der weitläufigen, mit alten Möbeln gefüllten Harvestehuder Altbau-Mietwohnung, die schon seit mehr als 30 Jahren Zuhause der Taubers ist. Ehefrau Antoinette, genannt Nanette, serviert eine „Brotzeit“, die sich als umfangreiches Mittagessen entpuppt. Die drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, sind schon lange ausgezogen.

Helmut Schmidt drängte Tauber zum Verfassen seiner Memoiren

Tauber, sonst eigentlich ein Energie- und Kraftbündel, wirkt ziemlich geschafft dieser Tage, denn seine Lebenserinnerungen sind gerade erst fertig geworden. Das neue Buch steht unmittelbar vor der Auslieferung, und die ausgedruckten Korrekturseiten verteilen sich samt Recherchematerial auf mindestens zwei Zimmer. „Den Kram schmeiß ich jetzt komplett weg“, grantelt der erschöpfte Autor mit schiefem Grinsen, und auch: „Nie wieder mach ich so was.“ Nicht nur das ungewohnte Schreiben („Ich hab halt andere Stärken“) dürfte ihn so angestrengt haben, sondern auch das tiefe Abtauchen in die eigene Vergangenheit.

Eigentlich wollte Tauber nie Memoiren verfassen, und es war sein Patient Helmut Schmidt, der ihn schließlich davon überzeugte, es doch zu tun. Als der Altkanzler bei einem privaten Gespräch erfuhr, dass der Arzt seines Vertrauens ursprünglich aus dem Sudetenland stammt, stellte er kategorisch fest: „Dann sind sie also geflüchtet.“

Taubers Antwort beeindruckte Schmidt, der bekanntlich fundierten Widerspruch geradezu herausforderte: „Nein, Herr Bundeskanzler, wir wurden vertrieben.“ Es folgte eine längere Diskussion, an deren Ende Schmidt den Mediziner verdonnerte: „Schreiben Sie es auf – und wenn nicht für sich selbst, dann für Ihre Familie.“

Nach dem Untergang des Dritten Reichs wurde Tauber vertrieben

Die Phasen aus Taubers Lebensgeschichte, die Schmidt besonders beschäftigten, drehen sich um einen unglaublichen Aufstieg unter schwierigsten Bedingungen. 1939 in Aussig im Sudetenland geboren, entging Tauber mit Eltern und Geschwistern nur um Haaresbreite den als „Massaker von Aussig“ in die Geschichte eingegangenen Verheerungen während der Vertreibung der deutschen Minderheit 1945 durch die Tschechen.

Statt langer Reflexionen über diese Vorkommnisse, von denen heute nur noch wenigen etwas bekannt ist, zählt er in nüchternen Worten einige erschütternde Fakten auf: Seine Großmutter, Tante und Onkel und zwei Cousinen begingen gemeinsam Selbstmord mit Zyankali, eine andere Tante wurde mit ihrem einjährigen Töchterchen in einen Viehwaggon Richtung Brandenburg gepfercht und verschwand für immer. Auch Taubers Mutter hatte auf der Flucht vor dem Pogrom nach Westen immer Zyankali dabei, erst später warf sie die Kapseln in Gegenwart ihrer Kinder in den brennenden Ofen.

In Bayern nicht willkommen: "die Flüchtlinge"

Da war die fünfköpfige Familie samt Kindermädchen bereits im bayerischen Schongau auf einem Bauernhof untergekommen. Von Willkommenskultur vor Ort keine Spur. „Den Makel, vertrieben zu sein, konnten wir über Jahre nicht ablegen“, schreibt Tauber in seinen Erinnerungen, und auch: „Man nannte uns abfällig ,die Flüchtlinge‘ oder auch einfach ,Krattler‘.“

Später stieß noch sein Cousin Hellmut zur Familie. Dessen Vater war erschlagen worden, Mutter und Schwester hatten sich vergiftet. Auf die Frage, ob er denn bei der Familie bleiben dürfe, antwortete Roland Taubers Vater: „Natürlich kannst du bei uns bleiben. Es ist ja egal, ob sechs oder sieben hungern.“ Nur über Kontakte und dank einiger Kniffe gelang es, diesen Cousin in einer weiterführenden Schule unterzubringen, Jahre danach wurde er ein angesehener Psychiater in Dallas.

„Mit Ach und Krach“ das Abitur geschafft

Ob die Ereignisse von damals den Jungen Roland traumatisiert haben, interessierte niemanden, und auch er selbst stellte sich diese Frage nie. Wie in unzähligen anderen Familien auch hieß es damals: Nach vorne schauen. Tapfer quälte er sich durch die Schule in der völlig fremden Umgebung und bestand, wie er sagt, „mit Ach und Krach“ das Abitur. Sportliche Höchstleistungen im Fußball und Laufen verschafften ihm immerhin Respekt bei den Mitschülern.

„Zum Glück gab’s damals noch keinen Numerus clausus“, sinniert Tauber, Albträume von der Prüfung quälen ihn manchmal noch heute. In München studierte er dann Medizin, was immer sein Traum gewesen war. Kommilitonin Nanette Rust zeigte sich von Vitalität und Verwegenheit des jungen Studenten angetan. „Er kam quasi in Lederhosen in die Vorlesungen und stellte dauernd etwas an“, berichtet sie mit angenehm dunkler Stimme. „Aber die Professoren mochten ihn irgendwie, und den Ärger bekamen immer die anderen.“ Geheiratet wurde 1967.

1988 folgte Medizinprofessor Tauber dem Ruf nach Hamburg

Ein Zeitsprung. 1988 folgte der damals schon angesehene Medizinprofessor einem Ruf nach Hamburg und übernahm die Leitung der urologischen Abteilung des AK Barmbek. Die Entscheidung nach so vielen Jahren in Bayern fiel nicht leicht, den Ausschlag gab dann die Aussicht auf die neue Heimat. „Hamburg, meine Perle“ nennt Tauber ein ganzes Kapitel seines Buchs, und er schreibt: „Ich war von dieser herrlichen Stadt von jeher fasziniert.“

Von Hamburg begeistert, aber dann letztlich doch ziemlich entgeistert über das, was er zunächst vorfand. Tauber übernahm die Urologie mitten in einer Zeit struktureller Krisen. Sichtbare Folgen einer jahrelangen chronischen Unterfinanzierung waren damals massive bauliche Mängel mit der zeitweiligen Schließung ganzer Abteilungen.

"Meistens hast du gewonnen, wegen deines bayerischen Temperaments"

Mit Willensstärke, Energie und Zähigkeit gelang es ihm, „seine“ Klinik wieder auf Vordermann zu bringen und sicher durch turbulente Jahre zu steuern. Sein Dialekt und eine gewisse Hemdsärmeligkeit mögen dazu beitragen, dass Tauber zunächst sehr leutselig daherkommt. Er wirkt dann wie ein gemütlicher Bayer, ist aber alles andere als das. Wenn es um die Verfolgung seiner Ziele ging, war er im Berufsleben stets ehrgeizig, unnachgiebig und hellwach. Mal schnurrte er, mal knurrte er – ein Haudegen, der sich mit rauem Charme und Hartnäckigkeit gleichermaßen durchsetzte.

Das Nachwort seiner Lebenserinnerungen bildet ein Brief des ehemaligen kaufmännischen Direktors des AK Barmbek, Dr. Eckhard Gührs, der Bezeichnendes schreibt: „Ein Nein, ein Vielleicht oder eine unverbindliche Interessenbekundung (...) hast Du nie akzeptiert. (...) Meistens hast du gewonnen, wegen Deines bayerischen Temperaments, an guten Tagen wegen Deines Charmes und manchmal nur, weil ich gerne wieder meine Ruhe haben wollte.“

Nach der Verabschiedung noch zwölf Jahre weiter gearbeitet

Tauber schloss im Laufe der Zeit schnell Freundschaften, knüpfte Kontakte, verschaffte sich Anerkennung. Irgendwann saß das heimatvertriebene Kind von einst dann beim Matthiae-Mahl, im Überseeclub, beim Lions Club Hamburg-Alster. München war da schon lange sehr weit weg. Bei seiner Verabschiedung aus dem AK Barmbek füllte die Festgesellschaft 2005 die Komödie Winterhuder Fährhaus, danach machte der scheinbare Ruheständler noch unglaubliche zwölf Jahre als Chefarzt am AK St. Georg weiter. Die Zahl der Menschen, denen er geholfen hat, ist nicht zu beziffern, und überall in der Stadt gibt es heute Praxisschilder mit Namen aus seiner Schule.

Taubers Augen sind unter recht schweren Lidern immer noch hellwach, die Bewegungen des jahrzehntelangen Ruderers und Fußballers voller Spannkraft. Er fährt weiterhin zu allen Ortsterminen mit dem Fahrrad und taucht auf Veranstaltungen nicht selten mit dem Helm unterm Arm und auch mal mit Klemmen an den Hosenbeinen auf. Die große Wohnung – Endetage ohne Fahrstuhl – macht ihm gelegentlich mehr Mühe als Freude, aber von einem Umzug wollen die Taubers noch lange nichts wissen, auch wenn sie jetzt im Haus „die Alten“ seien, denen nette Nachbarn immer mal mit den schweren Einkäufen helfen.

Exilbayer? Tauber: "In Hamburg bin ich zu Haus'"

Roland Taubers Lebenserinnerungen, die bei ihm bezogen werden können, haben den bezeichnenden Titel „Vertrieben – Der weite Weg zum neuen Zuhause“. Das Cover zeigt ihn, ein paar ausgetretene Stiefel in der linken Hand haltend, vor der Elbphilharmonie. Die Botschaft ist klar: Ein Kreis hat sich geschlossen, der heimatvertriebene Junge von einst ist angekommen, auch innerlich.

In einem kitschigen Film würde es am Schluss heißen, dass diese weite Reise noch nicht abgeschlossen sei, dass irgendwo neue Ziele warten könnten. Der rustikale, beinharte Realist Tauber, sieht das überhaupt nicht so, und er fühlt sich auch nicht als Exilbayer. „Nix da“, sagt er rau und trinkt einen kräftigen Schluck norddeutsches alkoholfreies Bier, „da in Hamburg bin ich zu Haus’“. Dann schlägt er mit der Handfläche auf den alten Esstisch und deklamiert entschlossen: „Und das bleibt auch so. Basta.“