Hamburg. Stefan Heße hatte wegen des Missbrauchs-Skandals in Köln seinen Rücktritt angeboten – nun kam die Absage aus dem Vatikan.

Sechs Monate der Ungewissheit sind vorbei, denn der Papst hat endlich gesprochen: Erzbischof Stefan Heße ist seit Mittwoch wieder im Amt, und das katholische Erzbistum im Norden hat regulär ein geistliches Oberhaupt.

Kaum hatte der Heilige Stuhl die Entscheidung von Papst Franziskus verkündet, gab Stefan Heße 15 Minuten später eine persönliche Erklärung ab: „Die mir gewährte Auszeit ist beendet und ich übernehme nun nach dem Willen des Papstes ausdrücklich wieder Verantwortung als Erzbischof im Norden.“

Katholische Kirche: Erzbischof hatte dem Papst Amtsverzicht angeboten

Am 18. März hatte Heße dem Papst seinen Amtsverzicht angeboten. Hintergrund waren die Ereignisse im Erzbistum Köln. Dort gab es in der Vergangenheit zahlreiche Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester. Bevor Stefan Heße zum Hamburger Erzbischof ernannt worden war, hatte er als Kölner Generalvikar Personalverantwortung.

Ein vom Kölner Bistum in Auftrag gegebenes und im März veröffentlichtes juristisches Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass Heße und andere führende Vertreter des Kölner Bistums bei der Aufarbeitung älterer Missbrauchsfälle Pflichten verletzt hatten. Heße bot daraufhin dem Papst seinen Rücktritt an.

Vatikan kommt zu dem Schluss, Heße habe keinen Missbrauch vertuschen wollen

Wie es jetzt in einer Mitteilung der Nuntiatur heißt, sei während der Apostolischen Visitation in Köln auch das Wirken Heßes untersucht worden. Zwar seien „Mängel in der Organisation und Arbeitsweise der Erzbischöflichen Generalvikariats sowie persönliche Verfahrensfehler Mons. Heßes festgestellt“ worden. Die Untersuchung habe aber nicht gezeigt, dass diese mit Absicht begangen worden seien, um Fälle sexuellen Missbrauchs zu vertuschen. Das Grundproblem, heißt es in dem Schreiben, habe im Mangel an „Aufmerksamkeit und Sensibilität den von Missbrauch Betroffenen gegenüber“ bestanden.

Nach der Veröffentlichung dieses Schreibens wandte sich Stefan Heße in einem Brief nach Monaten des Rückzugs aus der Öffentlichkeit erstmals wieder an die Gläubigen seines Bistums. Er sei sich „durchaus bewusst, dass es nicht unbedingt leicht sein wird“, den Dienst wieder aufzunehmen, betont er.

Zentralkomitee deutscher Katholiken: "Schlag ins Gesicht"

Die lang erwartete Entscheidung des Papstes stieß am Mittwoch auf ein sehr geteiltes Echo: Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) reagierte „schockiert“. ZdK-Vizepräsidentin Claudia Lücking-Michel kritisierte, Rom verdränge die Frage nach der Glaubwürdigkeit eines Amtsträgers. „Ich bin schockiert darüber, dass im Vatikan offenbar weiter verleugnet wird, dass sichtbare und spürbare Veränderungen in der Kirche nötig sind, um das verloren gegangene Vertrauen wiederzuerlangen“, so Lücking-Michel.

ZdK-Vizepräsidentin Karin Kortmann sagte, zwar sei in der Stellungnahme des Vatikans von einem „Mangel an Aufmerksamkeit und Sensibilität den von Missbrauch Betroffenen gegenüber“ die Rede, doch werde darauf abgehoben, dass Heße nicht mit Absicht Fälle sexuellen Missbrauchs vertuscht habe. Wer so begründe, habe nicht verstanden, dass genau in diesem Mangel an Aufmerksamkeit und Sensibilität das Problem bestehe, sagte Kortmann. „Es ist ein Schlag ins Gesicht für Betroffene von sexueller Gewalt, wenn aus diesen Fehlentscheidungen keine persönlichen Konsequenzen folgen.“

"Wir sind Kirche": Entscheidung Roms "faktisch eine Amnestie"

Auch die katholische Reformbewegung „Wir sind Kirche“ kritisierte die Entscheidung. Das Vorgehen sei „höchst problematisch“, teilte sie mit. „Die jetzige Entscheidung Roms stellt faktisch eine Amnestie für Erzbischof Stefan Heße dar, dem das Gutachten der Kanzlei Gercke elf rechtlich fassbare Pflichtverletzungen als früherer Kölner Generalvikar nachgewiesen hat.“ Es stelle sich die Frage, wofür Menschen in kirchlichen Leitungsdiensten dann überhaupt noch zur Verantwortung gezogen würden.

Kritik kommt ebenfalls von der Bewegung Maria 2.0. „Obwohl ihm Pflichtverletzungen nachgewiesen wurden, verbleibt Stefan Heße nun im Amt. Wir fragen uns, wer denn nun überhaupt noch zur Rechenschaft gezogen wird“, heißt es in einer Stellungnahme der Hamburger Gruppe. „Offensichtlich ist eine innerkirchliche Aufklärung des kirchlichen Missbrauchs nicht möglich bzw. von Rom nicht so umfassend gewollt, wie es notwendig wäre.“

Auch die Jugendverbände im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Erzbistum Hamburg gingen auf Distanz zur Entscheidung des Papstes: „Das Zeichen, das Erzbischof Heße mit dem angebotenen Amtsverzicht nach Veröffentlichung des Gutachtens rund um die Missbrauchsfälle im Erzbistum Köln im März 2021 gesetzt hat, ist in unseren Augen richtig und war ein wichtiges Zeichen der persönlichen Übernahme von Verantwortung", heißt es in einer Stellungnahme. "Eine Annahme wäre ein spürbares Zeichen dafür gewesen, dass auch Rom sich der dramatischen Lage unserer Kirche in Deutschland bewusst ist."

Deutsche Bischofskonferenz begrüßt Franziskus' Entscheidung

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, begrüßte indes die Entscheidung. Damit ende „eine schwierige Zeit der Ungewissheit“, so Bätzing. Auch nach Ansicht des katholischen Publizisten Andreas Hüser von der „Neuen Kirchenzeitung“ dürfte die Mehrzahl der knapp 400.000 Katholiken allerdings erleichtert sein.

„Denn die sechs Monate der Unsicherheit, in denen es noch nicht einmal einen Zwischenbescheid aus Rom gab, wurden zur Nervenprobe – und zu einer Belastung für diejenigen, die die Aufgaben des Chefs ersatzweise schultern mussten“, sagte Hüser dem Abendblatt. Dass der Erzbischof Heße zurückkomme, sei gut, denn er vertrete die Richtung, in die die meisten Katholiken gehen wollen.

Der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode, der auch stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz ist, sagte der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, er sei sicher, dass Heße die Entscheidung des Papstes „demütig und entschlossen“ annehmen werde: „Er wird alles in seiner Kraft Stehende tun zum Wohle der Menschen und des Erzbistums Hamburg, mit dem wir Osnabrücker von jeher eng verbunden sind. Gern gehen wir den Weg mit ihm als Erzbischof weiter.“

Kirchenrechtler erwartet weitere Entscheidungen

Der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller rechnet nun auch mit einer baldigen Entscheidung über die Zukunft des Kölner Erzbischofs Rainer Maria Kardinal Woelki und zweier seiner Weihbischöfe. „Ich bin mir sicher, dass das jetzt bald passiert“, sagte er der "Kölner Rundschau" „Der Papst will noch im September entscheiden, nach meinen Informationen in den nächsten Wochen.“

Schüller hält es für möglich, dass die Entscheidung über den Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp anders ausfallen könnte als die über Heße, weil Schwaderlapp als Generalvikar, also Stellvertreter des Diözesanbischofs, gehandelt habe. Bei Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki selbst wiederum stünden nicht einzelne von ihm eingeräumte Fehler im Vordergrund, sondern die pastorale Situation im Erzbistum.

Die Entscheidung über Heße kommentiere Schüller so: „Ich weiß, Opfer werden es als Schlag ins Gesicht empfinden, dass der Erzbischof im Amt bleibt. Der Papst hält sich an die katholische Systemlogik: Heße hat Fehler gemacht, sie aber demütig eingestanden. Der reuige Sünder bekommt eine zweite Chance.“

Erzbischof Stefan Heße kündigt behutsamen Wiedereinstieg an

Die Wartezeit auf die Entscheidung aus Rom war zur Geduldsprobe geworden. Vor allem ein Hamburger Geistlicher dürfte jetzt erleichtert sein: Generalvikar Ansgar Thim hatte die Aufgabe, die ordnungsgemäße Verwaltung des Erzbistums in dieser Zeit sicherzustellen. Er war es, der das Erzbistum sozusagen „geschäftsführend“ leitete, ohne dabei zum „geheimen Bischof“ zu avancieren. Thim hatte die Arbeit wichtiger Gremium stillgelegt. Ausgesetzt wurden Mitte August der Diözesanpastoralrat, der Priesterrat, der Erzbischöfliche Rat und die Dienstkonferenz der Pfarrer.

Heßes Rückkehr dürfte von einer gehörigen Portion Skepsis begleitet werden. Denn weitermachen, also ob nichts gewesen wäre, geht nach Ansicht vieler Kirchenmitglieder nicht. Erzbischof Heße hat deshalb vorsorglich angekündigt, dass er behutsam einsteigen wolle und erst einmal zuhören werde. „Es wird um einen Neu-Anfang gehen müssen“, schrieb der 55-Jährige.