Hamburg. Dank der Wissenschaftler wurde die frühe Stadtgeschichte oft umgeschrieben. Das betrifft nicht nur Burgen, sondern auch das Stadttor.
In den meisten Büchern über Hamburgs Geschichte wirkt die mittelalterliche Stadt bis an die Zähne bewaffnet. Da gibt es die Hammaburg, die Alsterburg, die Neue Burg und die Bischofsburg, dazu die „Heidenwall“ genannte Stadtbefestigung gen Osten. „Stimmt aber nicht“, sagt Prof. Rainer-Maria Weiss, der Hamburger Chef-Archäologe. „Hamburg hat zu keiner Zeit mehr als eine Burg gehabt.“
Dies ist eine der vielen erstaunlichen Erkenntnisse, die Weiss und sein Team um Grabungsleiter Kay-Peter Suchowa in den vergangenen Jahren gewonnen haben und die in einer neuen Ausstellung im Archäologischen Museum ab 25. November präsentiert werden: „Burgen in Hamburg – eine Spurensuche“.
Hamburger Geschichte wird neu geschrieben
Auch die Geschichte des Hafens wird umgeschrieben werden müssen. Unstrittig ist, dass es um 900 erste hölzerne Kaianlagen an dem Alsterarm (später Reichenstraßenfleet) südlich der Hammaburg gab. Ob man das als Hafen bezeichnen will, sei dahingestellt. Der neue Hafen am Nikolaifleet nahe der Trostbrücke – so glaubte man bisher – entstand im Zuge der Gründung der Neustadt um 1190. „Wir sind uns jetzt aber sicher, dass der Hafen bereits in den 1020er-Jahren dorthin verlegt wurde“. sagt Weiss.
Das stützt er auf die Ergebnisse der jüngsten Grabungskampagne zwischen Mahnmal St. Nikolai und dem Laeiszhof. Genau dort stand der östliche Wall der „Neuen Burg“, die in den Jahren 1021 bis 1023 gebaut wurde. Bei den Ausgrabungen entdeckte Suchowa die Reste eines Burgtores zum Alsterfleet hin. „Die einzige Erklärung für ein solches Tor in dieser Lage ist, dass es dort einen Hafen gegeben haben muss“, sagt Weiss. Demnach stünde 2023 nicht, wie bisher geplant, der 834. – sondern der 1000. Hafengeburtstag an.
Klareres Bild vom frühen Hamburg
Überhaupt ergibt sich jetzt ein deutlich klareres Bild von der Entwicklung Hamburgs in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens. Noch vor gut zehn Jahren las sich die Geschichte etwa so: Um 810 wird nach der fränkischen Unterwerfung der in Nordwestdeutschland siedelnden Sachsen die erste Hammaburg errichtet (man wusste noch nicht, wo sie stand), die zum Missionszentrum für den Norden ausgebaut wird, weshalb Ansgar als Bischof an die Alster kommt. Nach der Zerstörung der Burg beim Wikingerüberfall 845 wird sie wieder aufgebaut und später der Heidenwall errichtet. Im 11. Jahrhundert entstehen dann die Bischofsburg, deren Wohnturm man glaubt am Speersort ausgegraben zu haben, um 1030 die Alsterburg (am Standort des heutigen Rathauses) und um 1061 die Neue Burg.
Dieser Sachstand basiert vor allem auf schriftlichen Quellen – und genau das ist das Problem. Zum einen gibt es häufig nur eine einzige solche Quelle, zum anderen sind sie mit höchster Vorsicht zu genießen. Es gibt im Mittelalter ja keine Medien zur möglichst objektiven Informationsverbreitung. Schreiben können ohnehin nur die allerwenigsten. Und wer etwas niederschreibt und verbreitet (in der Regel an Fürsten und kirchliche Würdenträger), der verfolgt oft einen politischen Zweck damit – die „Wahrheit“ ist da nebensächlich. Wer etwa von einem Herzog oder König etwas möchte, der wird Berichte schreiben, in denen der Umworbene möglichst gut dasteht. Das macht das Geschäft für Historiker so ungemein schwierig.
Wann wurde die "Neue Burg" wirklich errichtet?
Ein gutes Beispiel dafür ist der Kleriker und Chronist Adam von Bremen, der um 1075 eine Hamburgische Kirchengeschichte verfasst hat – natürlich im Auftrag seines Erzbischofs. Darin heißt es, dass der sächsische Herzog Ordulf aus der Dynastie der Billunger, der auch über Stormarn und damit Hamburg herrschte, die „Neue Burg“ 1061 errichtet habe. „Wenn man bedenkt, dass Adam ein Zeitgenosse Ordulfs war und sogar Gast auf der Burg gewesen sein kann, sollte seine Schilderung über jeden Zweifel erhaben sein“, sagt Prof. Weiss. Nur konnte 2016 erwiesen werden, dass die Burg 1021–1023 gebaut wurde und somit Ordulfs Vater Bernhard II. Auftraggeber war. Dies ergab die unbestechliche den-drochronologische Untersuchung (siehe Infokasten) der gefundenen Bauhölzer.
Über die Motive Adams kann nur spekuliert werden, und sie sind auch etwas kompliziert zu ergründen. „Man weiß, dass es zum Zeitpunkt der Niederschrift erhebliche Spannungen zwischen den Billunger-Herzögen und dem Erzbistum gab, das wiederum an politischem Einfluss verloren hatte“, erläutert Weiss. Daher hat Adam versucht, das Bistum und seine Erzbischöfe im besten Licht darzustellen – so schreibt er von den palastartigen Bauten und dem Dom, die Erzbischof Bezelin Alebrand an Stelle der Hammaburg habe errichten lassen. Das Areal aber hatte Herzog Bernhard II. großmütig dem Erzbischof geschenkt, als er selbst in die Neue Burg umgezogen war. „Solch eine edle Tat wollte Adam den Herzögen wohl nicht zugestehen – also schrieb er den Burgbau Ordulf zu. Wehren konnte sich ohnehin keiner mehr, die Beteiligten waren alle bereits tot“, erläutert Weiss.
"Neue" Geschichte Hamburgs sieht anders aus
Die „neue“ Geschichte des alten Hamburg sieht nach den jüngsten Funden nun etwas anders aus: Nach dem Überfall der Wikinger 845 bleibt die Siedlung zwar bestehen, die Hammaburg wird aber vorerst nicht wieder aufgebaut. Einen Aufschwung gibt es erst wieder Ende des Jahrhunderts, als das Erzbistum Hamburg-Bremen auf Grundlage gefälschter Urkunden begründet wird. Jetzt ziehen mehr Menschen nach Hamburg, die (später so genannte) Reichenstraßeninsel wird bebaut, der Hafen entsteht, die Hammaburg wird größer wieder aufgebaut.
Das Wachstum bleibt aber bescheiden, was sich erst zu Beginn des 11. Jahrhunderts ändert. Jetzt entstehen der Heidenwall, die Neue Burg und der Hafen. Sobald die Burg fertig ist, wird die Hammaburg aufgegeben und eingeebnet. Jetzt wird dort ein hölzerner Dom gebaut, der aber nach wenigen Jahren durch einen Steinbau ersetzt wird. Das Zentrum der Siedlung aber verlagert sich nach Westen. Im Inneren der Neuen Burg verläuft ein steinerner Rundweg (das konnte bei der Grabung erstmals nachgewiesen werden), und sehr wahrscheinlich wird neben den Wohnhäusern auch eine Halle des Herzogs gestanden haben, damit er bei seinen Besuchen in Hamburg repräsentieren konnte – ihren Stammsitz hatten die Billunger-Herzöge in Lüneburg.
Die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts ist dann eine Zeit, in der Hamburg einen großen Bedeutungsverlust hinnehmen muss. Das Erzbistum Hamburg-Bremen spielt seit der Gründung des Erzbistums Lund in Schweden politisch endgültig keine große Rolle mehr. Und die nun in Holstein und Stormarn herrschenden Schauenburger Grafen lassen sich in Hamburg kaum blicken und konzentrieren sich auf ihre neue Burg in Segeberg und die Neugründung Lübeck. „Das führt dazu, dass die Neue Burg aufgegeben wird“, sagt Weiss. „Ab etwa 1140 liegt das ganze Gelände brach.“
Auch das konnte archäologisch nachgewiesen werden. Denn es wurden eindeutige Reste einer Gerberei entdeckt, und dieses anrüchige Handwerk wird wegen des Gestanks immer möglichst weit weg von den Wohnhäusern angesiedelt. Die Gerberei ist auch eindeutig jünger als der Burgbau, aber älter als die Neustadt. Außerdem wurden junge Birken nachgewiesen, „und die sind ein typisches Pioniergewächs auf Brachflächen“. Die Natur erobert sich die Burgfläche also zurück.
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All das ändert sich dann Ende des 12. Jahrhunderts, als ganz planmäßig die Neustadt auf der alten Burgfläche entsteht. Dazu beauftragt der Graf Adolf III. von Schauenburg den „Lokator“ Wirad von Boizenburg – heute würde man ihn Projektentwickler nennen. Der lockt Kaufleute aus der Fremde an, die Geld, Kontakte und Wissen mitbringen. Jetzt entsteht die eigentliche Handelsstadt, die sich einen eigenen Rat gibt, eng mit Lübeck zusammenarbeitet und zur mittelalterlichen Metropole aufsteigt. Parallel dazu verändert sich auch die Altstadt rund um die frühere Hammaburg.
Ab dem 13. Jahrhundert ist die Geschichte klarer
„Dort entsteht ein neues Stadttor mit zwei Türmen wie es auch auf dem ältesten Hamburger Wappen von 1241 zu sehen ist“, erläutert Weiss. Bisher ging man davon aus, dass der Mittelturm des dreitürmigen Wappens zum Dom gehört. „Und somit ist der sogenannte Bischofsturm, dessen Fundamente ja am Speersort ausgestellt sind, tatsächlich ein Turm des ältesten Hamburger Stadttores.“ Eine Bischofsburg oder ein großes bischöfliches Wohngebäude, wie schriftliche Quellen es belegen, mag es zwar gegeben haben. Spuren wurden aber nie gefunden.
Ab dem 13. Jahrhundert ist Hamburgs Geschichte ohnehin sehr viel klarer. „Seit der Zugehörigkeit zur Hanse gibt es große Mengen an schriftlichen Quellen, das Staatsarchiv ist voll davon“, sagt Weiss. Von den Geheimnissen der Frühgeschichte konnten in den vergangenen Jahren viele gelüftet werden – und vielleicht bald noch ein paar mehr. Denn an zwei markanten Stellen der Altstadt sind in den kommenden Jahren größere Bauprojekte geplant; und bevor gebaut wird, dürfen die Archäologen graben. Das eine ist das Commerzbank-Gebäude bei der Alten Börse; das andere das Areal zwischen Domstraße, Altem Fischmarkt und Großer Reichenstraße – also direkt neben der Hammaburg.