Hamburg. Oliver Krebs ist DNA-Experte in der Rechtsmedizin. Seine Analysen können harte Fälle lösen – manchmal sogar nach mehr als 70 Jahren.

Am Ende führen alle Fänden zusammen: Ein Schicksal wird geklärt, ein geheimnisvolles Foto bekommt eine Geschichte – und eine Frau am anderen Ende der Welt findet ihren Frieden. Die Zeitungen im fernen Neuseeland haben darüber berichtet, was Oliver Krebs alles geleistet hat. Der Wissenschaftler hat einem Toten einen Namen gegeben und für dessen Verwandten ein Rätsel gelöst, das sie jahrzehntelang beschäftigt hatte.

Das klingt ein bisschen nach einem Wunder. Man könnte aber auch ganz nüchtern sagen: Der Diplom-Biologe am Institut für Rechtsmedizin hat schlicht seinen Job gemacht. Einen guten Job.„DNA-Analyse aus historischen Knochen ist ein bisschen mein Steckenpferd“, erzählt Krebs. „Ich mag es, wenn sich so Familiengeschichten deuten und analysieren lassen. Ich finde es wichtig, dass Verschollene in ein richtiges Grab gebettet werden können – und wenn die Angehörigen endlich zur Ruhe kommen, weil ein mysteriöses Schicksal schließlich geklärt wurde.“

Forensiker am UKE identifiziert unbekannte Tote

Die Identifizierung unbekannter Toter ist eine der Tätigkeiten, die der 47-jährige Forensiker am Institut für Rechtsmedizin am UKE ausführt. Seine Expertise ist ebenfalls bei der Analyse von Blutspuren und von DNA sowie bei der Entomologie, also der Insektenkunde, gefragt. Sein Wissen hilft, um Verbrechen aufzuklären. Er deutet Spuren, die schlussendlich zum Mörder führen können.

Die Wahrheit hinter einer Geschichte kann in einem Zellkern komprimiert sein. Jede Menge Informationen auf winzigstem Raum, gebündelt in der menschlichen DNA. „Sie ist unverwechselbar und einzigartig“, erläutert Biologe Krebs. DNA ist beispielsweise aus einer Haarwurzel zu extrahieren, aus einer Blutspur, einer Hautschuppe. Eine Berührung kann ausreichend sein, um dieses singuläre Merkmal zu hinterlassen.

Oliver Krebs widmet sich schwierigen Fällen

Der genetische Code eines Menschen findet sich in jeder Zelle, also auch im Skelett. Und dort, in den Knochen, ist er besonders haltbar. So wie die Gebeine selber das sind, was am längsten von einem Menschen erhalten bleibt. Dieses Wissen macht sich Oliver Krebs zunutze, wenn er sich Fällen widmet, die Menschen schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten keine Ruhe lassen.

Das Schicksal des Weltkriegssoldaten Henry Pullar ist so eine Geschichte. Sie beginnt in dessen Heimat Neuseeland und verliert sich für sehr lange Zeit auf einem Gelände im niedersächsischen Vechta. Der damals 25-Jährige war als Heckschütze in einem britischen Bomber über Deutschland eingesetzt, als das Flugzeug am 17. Dezember 1942 unter Beschuss geriet und abstürzte. Mit dem Heck zuerst bohrte sich die Maschine in die Erde, explodierte und brannte vier Stunden lang. Was im Wrack von der Besatzung übrig war, wurde später in Deutschland beerdigt. Den Angehörigen des Unteroffiziers blieb nur die Erinnerung an Henry Pullar — und sein Foto an der Wand.

77 Jahre später wurden weitere Wrackteile gefunden

Bis 77 Jahre später bei Erschließungsmaßnahmen für ein Baugrundstück mithilfe eines Metallsuchgeräts weitere Wrackteile geortet wurden. „Sie lagen bis zu fünf Meter tief. Das passte zu dem Flugzeugabsturz aus dem Zweiten Weltkrieg“, erzählt DNA-Spezialist Oliver Krebs. „Es wurden zudem menschliche Knochen in Kleidungsstücken entdeckt.“ Daraufhin wurden Archäologen und andere Fachleute hinzugezogen, unter anderem der Biologe vom Rechtsmedizinischen Institut am UKE.

„Die Frage war: Zu welchem der Besatzungsmitglieder gehörten diese Funde?“, sagt Krebs. Über die Arbeitsgruppe Luftfahrtarchäologie konnten von drei der sechs Männern Verwandte ausfindig gemacht werden. „Es war eine Familie in Neuseeland, eine in Australien und eine in England.“ DNA-Proben, die Krebs aus den historischen Knochen extrahiert hatte, wurden mit denen der Angehörigen verglichen.

„Der Tote war der Heckschütze Henry Pullar“

„Wir haben Probenentnahme-Material bis nach Neuseeland geschickt. Über das Genmaterial der Neffen und Nichten gab es schließlich einen Treffer“, schildert Krebs. „Der Tote war der Heckschütze Henry Pullar.“ Nun sollen die sterblichen Überreste des Unteroffiziers bei denen seiner Kameraden in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Soldatenfriedhof in Rheinberg gebettet werden.

Seine Nichte Pam Compton sei „aufgeregt und überwältigt“ gewesen, zitieren Neuseeländische Zeitungen die Frau. „Es ist ein großes Glück, ihn nach all dieser Zeit wiedergefunden zu haben. Die Verschollenen können wiedergefunden werden.“ Auch bei der Identifizierung anderer Weltkriegssoldaten wie den über Jahrzehnte vermissten Luftwaffenpiloten Olaf Hansen war Biologe Krebs maßgeblich beteiligt. Hansen konnte schließlich 72 Jahre nach seinem Tod seine letzte Ruhestätte neben seiner Frau finden.

„Oft geht es um Emotionales, manchmal um Erbschaften“

In aktuellen Fällen hilft die DNA-Analyse ebenfalls bei der Identifizierung, etwa wenn ein Leichnam in einer Wohnung gefunden wird und sichergestellt werden soll, ob der Verstorbene wirklich der Mieter ist oder ein Besucher. „Die Polizei will ja den Fall lösen“, erzählt der Wissenschaftler. „Es muss eindeutig sein, dass die richtige Person für tot erklärt wird.“ Lebende vertrauen ebenfalls auf den Gen-Nachweis, wenn beispielsweise eine Vaterschaft angezweifelt wird.

„Oder ein Mann erzählt auf dem Sterbebett, dass er eine Tochter in der Ferne hat, und die Verwandten wollen Klarheit.“ In anderen Fällen gibt es womöglich Gerüchte, dass eine Frau neben ihrer offiziellen Partnerschaft einen Liebhaber hatte. „Dann gibt es Menschen, die wissen möchten, ob sie Halbgeschwister haben. Oft geht es um Emotionales, manchmal auch um Erbschaften.“

Genmaterial kann am Tatort fast immer gefunden werden

An einem Tatort kann ein Mörder noch so bemüht sein, keine Spuren zu hinterlassen: Genmaterial findet sich trotzdem fast immer. Es kann nahezu alles herangezogen werden, um DNA eines möglichen Täters zu sichern. „Die Spurensicherung sucht die Sachen zusammen“, schildert Experte Krebs. „Sie sammeln quasi alles ein.“ Zigaretten kommen in Frage, Gläser, Trinkflaschen, Hausschlüssel. „Die hat jeder aus der Familie mal angefasst. Je mehr Personen an der Spur sind, desto schwieriger wird es, den „Unberechtigten“ herauszufinden. Und bei Kapitaldelikten wird sowie alles durchsucht, jedes Haar, jeder kleine Flusen, jede Hautschuppe.“

Wird beispielsweise ein Schal untersucht, mit dem ein Opfer stranguliert wurde, wird an den Enden eher DNA des Täters gefunden, weil er daran gezerrt hat. „Je kräftiger er angefasst, desto mehr Hautschuppen finden wir.“ Je nachdem, wo Genmaterial eines Verdächtigen an einem Leichnam gefunden wird, können Aussagen hinterfragt und gegebenenfalls widerlegt werden. „Wenn zum Beispiel jemand sagt, er habe dem Opfer bei einem früheren Besuch nur die Hand geschüttelt und wir finden seine DNA auch am Rücken des Toten, gibt es jedenfalls Zweifel an seiner Einlassung.“

Blut am Tatort: Abbild des Verbrechens

Oliver Krebs bei der Analyse von Blutspuren.
Oliver Krebs bei der Analyse von Blutspuren. © Axel Kirchhof/UKE

Wichtige Hinweise kann zudem Blut am Tatort liefern. Da klebt beispielsweise ein dicker Fleck an der weißen Wand, zu einem bizarren Muster verzerrt. Etliche weitere Spritzer umrahmen es als unregelmäßige längliche Sprenkel. Noch mehr Blut ist auf dem Bett und dem Teppich.

Und auf dem Boden hat jemand rostrote Fußabdrücke hinterlassen, die mit jedem Schritt etwas blasser und undeutlicher werden. Wenn Oliver Krebs dieses blutige Szenarium betrachtet, sieht er darin ein Abbild des Verbrechens und des Schmerzes. Er gewinnt daraus aber auch Erkenntnisse für einen Tatablauf, die Bewegungen der Beteiligten, die Dynamik des Geschehens, das Ausmaß der Gewalt.

Auf der Suche nach verborgenen Blutspuren

„An einem Tatort suchen wir nach Blutspuren, die mit bloßem Auge sichtbar sind – und nach solchen, die verborgen wurden. Sei es, dass jemand aufwendig geputzt hat oder dass beispielsweise eine Wand, auf der Blutflecken waren, übermalt wurde. Blut ist etwas, das man schwer los wird“, weiß Krebs „Auch wenn man es nicht mehr sieht, ist es noch da. Da hilft kein Putzen, kein Feuer, keine noch so heiße Wäsche.“

Eine Tat kann an einem ganz anderen Ort ihren Ursprung haben als den, wo der Leichnam gefunden wird. „Es gibt mitunter viel Bewegung der Beteiligten. Täter und Opfer kämpfen. Der Verletzte versucht, weitere Angriffe abzuwehren oder zu entkommen. Und der Täter bleibt ihm auf den Fersen.“ Aus dem Blutspurenmuster werden Erkenntnisse gewonnen, wie sich eine Tat zugetragen hat. Etwa wenn ein Schlag eine offene Wunde hinterlässt — und weitere Schläge zu einem Spritzmuster führen.

Auch die Form von Blutspuren liefert Informationen

Aber nicht nur die Anordnung, sondern ebenso die Formen der einzelnen Blutspuren liefern Informationen. Da unterscheiden die Fachleute unter anderem zwischen der Bärentatzenform, der Kommaform oder den Ausrufezeichen. Bei letzteren zum Beispiel ist das Blut in die Richtung gespritzt, in die der Punkt des „Ausrufezeichen“ deutet, erzählt Biologe Krebs. Aus dem Muster und der Form von Blutspuren kann deren Flugrichtung abgeleitet werden.

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Die Blutspurenanalyse bringt ebenso Erkenntnisse zu den beteiligten Werkzeugen und wie sich die beteiligten Personen durch einen Raum oder ein Gelände bewegt haben. „Von wo ist die Gewalt gekommen? In welchem Winkel ist ein Schlag beim Opfer aufgetroffen? Wie haben Täter und Opfer zueinander gestanden? Im besten Fall bekommen wir zu allen diesen Fragen Erkenntnisse. Man kann anhand eines bestimmten Blutspurenmusters beispielsweise auch erkennen, ob jemand mit großem Schwung ausgeholt hat.“

Maden geben Hinweise auf Tatzeitraum

Bei der Deutung mancher Verbrechen hat Biologe Krebs auch winzige Helfer: Maden in unterschiedlichen Larvenstadien, die Hinweise auf einen Tatzeitraum geben. „Die Entomologie, also die wissenschaftliche Erforschung der Insekten, hilft uns insbesondere bei Leichnamen, deren Todeszeitpunkt schon eine Weile zurückliegt. Wenn Opfer etwa Tage oder Wochen in ihrer Wohnung oder im Wald gelegen haben.“

Abhängig von der Temperatur, die in der Umgebung geherrscht hat, kann das Entwicklungsstadium der jeweiligen Art zurückgerechnet werden. „Innerhalb der ersten zehn bis 14 Tage kann man so einen Todesfall relativ genau auf wenige Tage eingrenzen.“ Dies kann relevant sein, um das Alibi eines Verdächtigen zu bestätigen – oder zu widerlegen. „Es gab auch schon Fälle, bei denen Maden in einem Kofferraum gefunden wurden – und in ihnen DNA des Opfers nachgewiesen werden konnte. Da kann dann niemand mehr behaupten, er habe mit dem Mord nichts zu tun.“