Hamburg. Er ist Chef der Kassenärztlichen Vereinigung in Hamburg. Doch zum Jahresende hängt der Jurist diesen Job an den Nagel.
Er ist groß, schlank und bewegt sich auf zwei Beinen dem Anschein nach mit überlegten Schritten. So, als wälze er beim Gehen die komplexen Themen, die ihm jeden Tag um die Ohren fliegen. „Änderungen zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanungs-Richtlinie“, „Sachkostenpauschale PoC-Antigen-Test“, „Pseudo-GOP 88310/88310B“.
Womit sich der Vorstandsvorsitzende einer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) so befasst. Schlohweiße Haare hat er. Irgendwie ungebändigt. Für Jazz und Rockmusik schlägt sein Herz. Vom Southern Rock der Allman Brothers bis zu den Gitarren-Eskapaden der Foo Fighters. Nein, wie ein „Ärztefunktionär“ kommt Walter Plassmann (66) so gar nicht daher.
KV sorgt dafür, dass es überall genügend niedergelassene Ärzte gibt
Und doch musste er, mussten seine Kolleginnen und Kollegen über Jahre gegen die Klischees kämpfen, die über diese feste Säule des deutschen Gesundheitswesens verbreitet wurden. Was macht so eine öffentlich-rechtliche KV eigentlich? Ist das Lobbyismus – und kann das weg? Platt gesagt: Die KV sorgt dafür, dass es überall genügend niedergelassene Ärzte und einen Notdienst gibt, sie verhandelt mit Politik und Krankenkassen und verteilt die Honorare an die Praxen.
Die Praxisärzte sind jedoch in der Mehrheit – noch – Freiberufler. Auch wenn sie sich über die KV verpflichtet haben, die Versorgung zu sichern, und so mit den gesetzlichen Kassen abrechnen dürfen, sind sie in ihren medizinischen Entscheidungen und in ihrem „Unternehmertum“ zwar der ärztlichen Kunst verpflichtet, aber sonst weitgehend frei.
Plassmann muss sich mit der Politik auseinandersetzen
Diese Freiheit schmeckt so manchem Politiker nicht, der die Ärzte und ihre Vertreter an die Kandare nehmen will. Am leichtesten geht das über das mantraartige Verbreiten populistischer Slogans. Keiner ist darin ein solcher Meister wie Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD). Er beherrscht das Alphabet der öffentlichen Verunglimpfung von „Ärztefunktionär“ bis „Zahnarztgattin“. Immer wieder erklingt die Botschaft, es gebe zu wenige Ärzte in sozial schwachen Vierteln, zu wenige Termine für Kassenpatienten – und der „eine oder andere Arzt wird ab Mittwochnachmittag auf dem Golfplatz gesehen“.
Als Hamburgs KV-Chef Plassmann das vor einigen Jahren von Lauterbach vernahm, schwoll ihm der Kamm. Er hat den Gesundheitspolitiker kurz darauf getroffen und ihn „angerempelt“, verbal natürlich. Das sei dummdreist, sagte Plassmann damals, „Stimmungsmache“. Was für den sozialdemokratischen Lautsprecher Lauterbach der Klassenkampf, ist für Plassmann die diskrete Gesprächsführung. Seine rhetorische Waffe war jahrelang das Florett. Mittlerweile holt auch er mal den Hammer heraus.
Plassmann ist erster Barrikaden Kämpfer der Praxen
Seltsamerweise verlangen das gerade Hamburgs niedergelassene Ärzte von ihm. Das überrascht, weil man unterstellt, die Ärzte begehrten eine standesgemäße, akademisch untermalte Form der Auseinandersetzung. Bisweilen jedoch sind sie wenig zimperlich in der Formulierung ihrer Interessen. Und Plassmann, als ihr erster Barrikadenkämpfer, kann sich dem Wunsch nach laut tönender Interessenvertretung nicht immer entziehen.
Das war fast immer so bei den Honorarverhandlungen. Das galt für Gesetze, die in die Praxen hereinregierten. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bescherte den Ärzten 17 Paragrafenwerke in den ersten 17 Monaten seiner Amtszeit. Und der Wunsch nach vernehmbarem Ärzte-Protest galt besonders da, wo die Krankenhäuser sich plötzlich für ambulante Angebote öffneten. Die nehmen uns was weg, fürchteten die Niedergelassenen.
Immer mehr Menschen gehen wegen Kleinigkeiten ins Krankenhaus
Gleichzeitig übernahmen Krankenhäuser oder Investorengruppen Großpraxen mit angestellten Ärzten. Das bedroht die vielen Freiberufler im Arztkittel. Plassmann sah die Hochbahn-Busse mit der Klinikwerbung durch Hamburg rollen. Sie suggerierten: Krank? Dann zu uns ins Krankenhaus! Über die Notaufnahmen lenkt man Patientenströme in die Kliniken, die vielleicht nie dort gelandet wären, sondern in einer Praxis.
In jahrelanger Millimeter-Arbeit näherte sich Plassmann mit seinen Experten dem Konzept des Arztrufs Hamburg. Dieser arbeitet zum Teil mit Notaufnahmen wie der des UKE zusammen. Der Arztruf soll rund um die Uhr mit den Notfallpraxen der KV und dem rollenden Notdienst verhindern, dass die Menschen in die Krankenhäuser laufen, um sonnabends nach der „Tagesschau“ endlich ihre seit Wochen quälenden Rückenschmerzen behandeln zu lassen. Solche krassen Beispiele stammen von KV-Ärzten. Notfallmediziner im Krankenhaus bestätigen dieses Klischee. Schwere Notfälle kommen nicht mit Auto oder Fahrrad spätabends an den Notfalltresen.
Lesen Sie auch
- Sorge vor Delta: Hamburg bereitet dritte Impfung vor
- Notfallpraxis Farmsen zieht um – in ein bekanntes Gebäude
- Trotz Stiko-Empfehlung: Hamburg bleibt bei Impfterminen hart
Seit 2005 im Vorstand, seit 2013 der Vorsitzende
Der Arztruf sagt den Anrufern: Du Patient A erhältst gleich einen Hausbesuch vom Doktor. Du Patient B kannst auch morgen in die Praxis kommen oder du Patient C musst besser sofort die 112 anrufen! Kurios: Jahre hat es gebraucht, die Hotline 116 117 in die Köpfe der Patienten zu bringen. Dann kam Corona – mittlerweile ist wohl nur „Polizeiruf 110“ populärer.
Und mit der Pandemie war wieder die KV gefordert, von der viele gar nicht wissen, wozu sie überhaupt da ist. Anruf aus dem Senat: Plassmann, können Sie ein großes Corona-Testzentrum am Hauptbahnhof errichten? Auch bis zur übernächsten Woche? Ein Erfolg war das nicht wirklich. Die Zelte waren höchstens zu zehn Prozent ausgelastet. Dem KV-Chef kam zwischenzeitlich die Idee, dass man an zentraler Hamburger Stelle eine Art Corona-Center brauche mit Einheiten, in denen Ärzte sitzen, beraten, testen und vielleicht eines Tages impfen. Nächster Anruf, Monate später: Plassmann, wie schnell können Sie ein Impfzentrum aufbauen? Es müsste aber schon das größte in Deutschland werden ...
„Kunden“ sehr zufrieden mit dem Hamburger Impfzentrum
Das schaffte er nicht allein. Philipp Westermeyer („Der machte irgendwas mit Rock ’n’ Roll“) kam mit seiner Firma OMR und dem Know-how von Großveranstaltungen dazu. Die Pharma-Experten der Alanta Health Group regeln die Impfstoffversorgung. Vom Kiez kamen Menschen wie Burlesque-Queen Eve Champagne ins Team. So haben Plassmann und Co. in den kalten Messehallen einen Spirit erzeugt, der zweierlei Überzeugung versprüht: Wir schaffen das.
Und: So macht Hamburg das. Es gab wenige Buchungspannen, an einigen Tagen lange Schlangen. Mal hatten die Impfkandidaten Termine geschwänzt, mal dachten einige, sie könnten spontan kommen oder schummeln. Aber grundsätzlich schnurrte es in den Messehallen. Pandemiekampf auf die umsorgende Art. Jeden Tag kann man auf Twitter nachlesen, wie die „Kunden“ es fanden. Neun Komma neun von zehn sind „happy“.
Plassmann hat die Kassenärztliche Vereinigung geprägt
Seit 2005 sitzt Walter Plassmann im Vorstand der KV, seit 2013 als Chef. „Sitzen“ klingt so immobil. Plassmann hat immer wieder aufgebaut, umgebaut, abgebaut, neu gebaut. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass er an einem lauen Mai-Abend des Jahres 2021 beinahe spontan die Vertreterversammlung förmlich bat, ihn aus dem Vertrag bis 2025 vorzeitig zu entlassen. Den Ärzten im Gebäude der KV und an den Zoom-Bildschirmen fiel kollektiv die Kinnlade herunter.
Nein, Ärger gibt’s nicht, sagte Plassmann. Amtsmüde? Wohl kaum bei dem Tempo, das er vorlegt. Und: Danke der Nachfrage. Er sei kerngesund, soweit er das beurteilen könne. Schließlich ist er kein Arzt, sondern Jurist. Übrigens auch Journalist. Er hat mal beim Bonner „General-Anzeiger“ volontiert. Als Ärztevertreter hat er sich jahrelang abgestrampelt. Buchstäblich. X-mal ist er bei den Cyclassics mitgeradelt. Die große Schleife für Amateure. Im Pulk.
Plassmann sieht große Veränderungen für die KV
Plassmann hat traditionelle Einheiten der KV pulverisiert, Abteilungsleiter entmachtet, eine digitale Struktur aufgebaut, das agile Arbeiten hoffähig gemacht, eine Frau in den Vorstand geholt, das Haus der KV abreißen und neu errichten lassen und dabei einen jährlichen Honorarumsatz von 1,3 Milliarden Euro verwaltet. Warum also gehen? „Ich habe meine Situation abgescannt. Wie geht’s dir persönlich? Wie geht’s der KV? Was hast du noch vor?“ Innerhalb weniger Tage ist sein Entschluss gereift.
Was jetzt ansteht, sagt Plassmann, wird die KV über Jahre prägen. Das sollten lieber die jetzt 40-Jährigen mitentscheiden. Er würde seinen Nachfolgern schon gerne einimpfen, dass sie ihre Eigenständigkeit bewahren mögen, sich selbst verwalten, sich nicht reinreden lassen von Menschen, denen vor allem eine Wiederwahl im Vierjahresturnus am Herzen liegt. Aber als Abtretender noch Ratschläge geben?
„Bekanntheit ist ein Kollateralschaden“
Schon vor der Pandemie kannte jeder Politikinteressierte den Bundestagsabgeordneten mit der Fliege, Karl Lauterbach. Er warnte vor den Gesundheitsgefahren des Grillens, las Studie um Studie und beriet Ministerin Ulla Schmidt (SPD). Unter Corona-Bedingungen kletterte Lauterbach als Erklärbär auf der Popularitätsleiter empor.
Auch seine natürlichen Gegenspieler wie Plassmann oder der trotz jahrelanger Kärrnerarbeit für die Ärzteschaft nur Fachleuten präsente Dr. Dirk Heinrich erfuhren plötzlich eine gewaltige Aufmerksamkeit. Plassmann sagt dazu nur trocken: „Bekanntheit ist ein Kollateralschaden.“