Hamburg. Tausendsassa Michael Lutter will Fahrten in mit Pedalkraft betriebenen Kutschen anbieten. Nicht die erste Idee des Paradiesvogels.

Aus der Not eine Tugend zu machen ist die Kunst der Stunde. Der hanseatische Kreativgeist Michael Lutter ist auf gutem Wege, einen kühnen Plan in die Tat umzusetzen. Wenn alles läuft, soll vom Sommer an ein Shuttle-Service im Alten Elbtunnel verkehren – an sieben Tagen in der Woche, von 10 bis 18 Uhr. An Bord einer speziell konstruierten Rikscha können bis zu vier Passagiere das Denkmal ganz neu erleben.

Damit die Idee zügig an Fahrt gewinnt, werden Unterstützer gesucht. Motto: „Schiebt an, Leute.“ Eine Zweiradmanufaktur in Berlin soll das Transportmittel wunschgemäß herstellen. Es handelt sich nicht um eine „Rikscha“ von der Stange, sondern vielmehr um eine mit Pedalkraft betriebene „Kutsche“ – passend zum Charakter des denkmalge-schützten Tunnels.

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Der Rikscha-Fahrer gilt als Paradiesvogel erster Klasse

Ebenso spannend wie die Geschichte ist der Mensch dahinter: Der gebürtige Bremer Michael Lutter, der seit 35 Jahren in Hamburg zu Hause ist, gilt als Paradiesvogel erster Klasse. Sein 63-jähriger Lebensweg ist ein Abenteuer. Bis Corona kam, hatte der selbstständige Werbetexter, Filmemacher, Radiounterhalter und Erfinder ausreichend Aufträge, um prima über die Runden zu kommen. Wieder ist Fantasie gefragt. Diesmal in eigener Sache.

„Ich bastle mir einen neuen Arbeitsplatz für Altwerber“, sagt Herr Lutter beim Treffpunkt am Alten Elbtunnel. An den Landungsbrücken weht eine steife Brise. Er habe gelernt, sich in eine Idee reinzubeißen und sie zu verwirklichen. Aus Erfahrung weiß er: „Alles, was es noch nicht gab, hat es schwer.“ Dass auch sonst nicht alles leicht vom Stapel geht, erfuhr Michael in jungen Jahren.

Lutter mietete riesengroße Plakatwand für Arbeitsgesuch

Vier Geschwister, die Kneipe der Eltern, deren Trennung sowie ein Ortswechsel aus der Geburtsstadt Bremen nach Rotenburg an der Wümme sind Stichworte einer turbulenten Vita. Die Schule verließ Michael nach der 10. Klasse. Eine Landwirtschaftslehre beendete er ohne Abschluss. Er malochte als Schiffsreiniger, Werftarbeiter, Straßenfeger, Lageraushilfe. Die Bundeswehr verließ der eigenwillige Individualist nach zehn Tagen „in beiderseitigem Einvernehmen“. Ersatzweise leistete er 15 Monate Zivildienst. Parallel organisierte er Punk-Konzerte und Rocktourneen.

Bis ihm die innere Stimme riet: „Junge, knips deinen Grips an.“ Anfang der 1980er-Jahre mietete er sich eine riesige Plakatwand in der Bremer Innen-stadt und gestaltete sie als Postkarte mit einem Arbeitsgesuch. Eine namhafte Werbeagentur fuhr darauf ab. Herr Lutter ließ sich nicht lange bitten. 1986 wechselte er zu Springer & Jacoby nach Hamburg. Er textete wie ein Wilder, produzierte Werbefilme, wirkte für Unternehmen wie Ikea, Mercedes, Nike oder Levi’s. Als freier Texter und Regisseur war er für Deutschlands große Agenturen, für das ZDF und den NDR aktiv. Er schrieb ein komisches Musical („Jack The Ripper“) und entwarf Comedybeiträge für das „Frühstyxradio“ des privaten Radiosenders ffn.

Lutters finanzielle Polster sind aufgezehrt

Sein Leben war erfüllt mit Arbeit, Ideen und immer wieder auch Frauen, mit Familie oder Kindern nicht. Lutters Erfindergeist sprudelte. Er war einer der Pioniere von Reklametafeln auf Taxidächern, schuf erstaunliche Produkte wie Warnballons, eine Saftpresse für die Wand, Ministaubsauger mit Teleskoprohr für schonendes Umsetzen von Insekten und eine Art Filzstift für die vorübergehende Verwandlung gewöhnlicher Brillen in Sonnenbrillen. Aus seinem Denkstübchen stammt zudem eine Ul­traschall-Waschkugel. Sein hellwacher Geist, seine Lust am Anderssein und das Talent zum Kontakteknüpfen haben ihm Freunde in der Werbe- und Künstlerszene gebracht. Dauerhaft. Die Unterhaltung mit Michael Lutter ist ein Erlebnis.

Zumal er zwar wunderbar formulieren, indes auch knallhart offenherzig sein kann. Das Geld aus der Werbenummer mit den Taxidächern investierte er in einen in die Jahre gekommenen Bauernhof in Mecklenburg. Kurzzeitige Vermietungen und Zahlungen staatlicher Corona-Hilfe retteten ihm zuletzt die Existenz. Finanzielle Polster sind aufgezehrt. Zu allem Überfluss wurde seine Wohnung im Grindelviertel just wegen Eigenbedarfs gekündigt. In dieser Woche bezieht der 63-Jährige ein WG-Zimmer in einem Altbau in der Nachbarschaft. „Schicksal eines Selbstständigen“, merkt er schmunzelnd an. Der Humor verging nicht. Im Gegensatz zu vielen anderen.

Eine Tunnel-Rikscha-Tour soll wohl 1,70 Euro kosten

Zeit und Energie mithin, der Rikscha-Idee im Alten Elbtunnel Schwung zu verleihen. Gespräche mit der für die Elb­unterführung verantwortliche Hamburg Port Authority HPA sind im Gange. Rund 20.000 Euro für die künftige „Kutsche“ hofft Lutter durch Sponsoren zu bekommen. Über die Internetadresse www.elbtunnel.hamburg können Jahreskarten (ab 50 Euro) erworben werden. Kann das Projekt nicht auf die Räder gesetzt werden, gibt es das Geld zurück.

Kundschaft ist vorhanden. Im vergangenen Jahr passierten 1,85 Millionen Fußgänger und 750.000 Radfahrerinnen den 426,5 Meter langen Alten Elbtunnel. Das 1911 eingeweihte Bauwerk ist seit Juni 2019 autofrei. Michael Lutter kalkuliert noch, wird die Passage aber wohl mit 1,70 Euro pro Person à la Kurzstreckentarif des öffentlichen Nahverkehrs berechnen. Jahrestickets können beliebig oft genutzt werden.

Und wer soll am Lenkrad im Sattel sitzen? Michael Lutter – und dann und wann eine Aushilfe. Dass er Kondition hat, beweist seine Anfahrt zum Treffpunkt Landungsbrücken. Der Mann kam mit dem Fahrrad, Orkanböen zum Trotz. „Man muss ein bisschen bekloppt sein, um so etwas zu machen“, sagt er. Nur auf diese Weise kann man Ungewöhnliches bewegen.