Hamburg. Internat des Olympiastützpunkts und Eliteschule des Sports arbeiten eng zusammen. Corona droht schwere Schäden zu hinterlassen.
Vor der Wand mit Fotos, die junge Menschen beim gemeinsamen Feiern zeigen, ohne Abstand, ohne Masken, bleibt Lars Soltek stehen, und man kann dabei zusehen, wie sich die Wehmut über sein sonst so fröhliches Gesicht legt. „Das nimmt mich schon mit“, sagt er, „meinem Pädagogenherzen tut es weh, dass meine Aufgabe im Moment in erster Linie darin besteht, den Mangel zu verwalten und Regeln aufzustellen, von denen ich nie geglaubt habe, dass wir sie brauchen würden.“
Dass das Leben, wie wir es vor Corona kannten, nur noch auf Bildern tobt, wird einem selten so schmerzhaft vor Augen geführt wie hier, im Internat des Olympiastützpunktes Hamburg/Schleswig-Holstein (OSP). Lars Soltek, 48 Jahre alt und staatlich geprüfter Erzieher, leitet die Einrichtung, die seit 2009 auf zwei Etagen in einem schmucklosen Rotklinkerhochhaus an der Nordschleswiger Straße im Hamburger Stadtteil Dulsberg den hoffnungsvollsten Nachwuchstalenten, die an der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg auf ihren Schulabschluss hinarbeiten, eine Heimat bietet.
Corona: Weniger Bewerbungen für Hamburger Sportinternat
Doch wo in normalen Zeiten gemeinsam gelebt, gelernt, gelacht wird, herrscht seit den Herbstferien im Oktober vergangenen Jahres eine bedrückende Leere. 25 Plätze, aufgeteilt auf mit weißer Rauhfaser tapezierte und mit hellem Laminat ausgelegte Ein- und Zweibettzimmer, die nach Vorschrift des Jugendamtes mindestens 15 Quadratmeter Platz bieten müssen, hat das Internat zu bieten. Nur 14 davon sind aktuell belegt, weil Training nicht erlaubt ist und der Schulunterricht aus dem Homeoffice in der Heimat verfolgt wird.
„Und die Anmeldezahlen für das neue Schuljahr bereiten uns Sorgen“, sagt Lars Soltek. Normalerweise gab es immer mehr Bewerbungen als Plätze. „Aktuell sieht es so aus, als sei es in diesem Jahr zum ersten Mal umgekehrt.“ Die Kollateralschäden der Pandemie, sie werden im Nachwuchsleistungssport besonders deutlich, was vor allem daran liegt, dass Hamburg als einziges Bundesland Training für Landeskadermitglieder untersagt. Ein trauriges Alleinstellungsmerkmal ist das für eine Stadt, die sich seit Oktober 2018 Global Active City nennen darf.
Nur in Hamburg dürfen Landeskader nicht trainieren
Der Webfehler lag im März 2020 darin begründet, dass die von der Bundesinnenministerkonferenz beschlossene Verordnung, lediglich Kaderathleten den Trainingsbetrieb zu gestatten, in Hamburg auf Bundeskader eingegrenzt wurde, während andernorts Landeskader dazugezählt wurden. In Hamburg ist das bis heute nicht geschehen, es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass das noch in dieser Woche passieren könnte.
Sportstaatsrat Christoph Holstein sagt: „Wir glauben, dass es vernünftig wäre, diese Vorgaben zu lockern und insbesondere für den Kinder- und Jugendsport Verbesserungen herbeizuführen. Aber es muss in die Gesamtsystematik passen.“ Was er nicht sagt, weil er nie die Parteilinie der SPD-geführten Regierung untergraben würde und die Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen werden: Hätte das Sportamt Entscheidungsgewalt, wären die Landeskader längst im Training. So jedoch scheiterten alle Konzeptvorschläge bislang an der Gesundheitsbehörde.
Unverständnis und Wut bei Betroffenen
Bei den Leidtragenden sorgt das für Unverständnis bis hin zu rasender Wut. Der Hamburger Sportbund, die Eliteschule, der OSP und die zuständigen Behörden werden von Mails aufgebrachter Athleten und deren Eltern geflutet. Ein Badmintontalent aus Güstrow ist mittlerweile an den Stützpunkt seines Bundeslandes zurückgekehrt, weil dort immerhin Training möglich ist. Lars Soltek befürchtet, dass einige derjenigen, die aktuell ihren Internatsplatz nicht nutzen, nie mehr zurückkehren werden.
Das größte Problem ist, dass die Probewoche, in der OSP und Eliteschule in Prä-Corona-Zeiten die auswärtigen Kandidaten für sich gewinnen konnten, nicht stattfinden kann. Normalerweise durchlaufen die Interessenten für eine Woche den gesamten Zyklus inklusive Training, Unterricht und Übernachtung im Internat, es gibt eine sportpsychologische Untersuchung, eine Kraftdiagnostik und ein Abschlussgespräch mit den Talenten und deren Eltern, an dem neben Landes- und Bundesstützpunkttrainern, Soltek und Christian Andresen, Abteilungsleiter Sport an der Eliteschule, auch Pamela Wittfoth teilnimmt.
Bei Besichtigungen fehlt das Bauchgefühl
Die 40-Jährige ist Abteilungsleiterin Laufbahnberatung am OSP und sagt: „Die Probewoche ist keine Prüfung, sondern ein Kennenlernen, das beiden Seiten dazu dient, die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Wenn diese Möglichkeit wegfällt, ist es deutlich schwerer, die geeigneten Kandidaten zu finden.“ Zwar biete man digitale Gespräche an, Lars Soltek führte im vergangenen Jahr virtuell durch das Internat. „Informationen können wir auch so vermitteln.
Aber es fehlt das Bauchgefühl, und das ist sehr problematisch“, sagt er. Man schließe zwar grundsätzlich zunächst einen auf das erste Halbjahr befristete Probevertrag, der jederzeit kündbar ist. „Aber bislang ist das in elf Jahren nur zweimal vorgekommen. Diese Bilanz würde ich schon gern bewahren.“
Grundsätzlich ist das Verbundsystem Schule-Leistungssport eine Hamburger Erfolgsgeschichte. Ein Modell, das die Hansestadt zum Vorreiter gemacht hat und das Strahlkraft auf Sporttalente aus dem gesamten Bundesgebiet ausübt. Die Kooperation zwischen dem OSP, dessen Trägerverein auch der Träger des Internats ist, und der Eliteschule sorgt dafür, dass die Nachwuchsasse optimale Bedingungen vorfinden.
Schule und Sport werden gemeinsam betrachtet
43 Eliteschulen gibt es in Deutschland, in Hamburg nur die in Dulsberg. Als Partnerschulen des Nachwuchsleistungssports firmieren in der Stadt noch das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium, das Gymnasium Hochrad, das Gymnasium Heidberg und die Stadtteilschule Fischbek Falkenberg. Seit neun Jahren kümmert sich Christian Andresen um die Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern und den Schülerinnen und Schülern.
Der größte Pluspunkt des Systems sei, „dass Schule und Sport gemeinsam betrachtet werden. Alle hier wissen, was es bedeutet, Leistungssport zu treiben und gleichzeitig auf einen Schulabschluss hinzuarbeiten. Für die Jugendlichen ist es enorm wichtig zu spüren, dass die Lehrenden zu schätzen wissen, was sie neben der Schularbeit leisten“, sagt der 43-Jährige. Lehrende wie die Weitspringerin Nadja Käther oder die Beachvolleyballerin Jana Köhler waren einst selbst erfolgreiche Athleten.
Abitur nach 14 Jahren
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der das Siegel Eliteschule vergibt, möchte mit dieser Einrichtung das in Deutschland so weit wie nirgendwo sonst auf der Welt verbreitete duale System aus Ausbildung und Leistungssport schon im Schulalltag implementieren. Die Athletinnen und Athleten, die in ihren Klassen unter ihresgleichen sind, dürfen ihr Vormittagstraining in die Unterrichtszeit integrieren und werden dabei nicht von Sportlehrern der Schule, sondern von ihren Trainern angeleitet.
Sie werden für Wettkämpfe vom Unterricht freigestellt, können Klausuren flexibel nachholen. Seit drei Jahren gibt es zudem die sogenannte Streckerklasse, in der das Abitur nach 14 statt nach zwölf oder 13 Jahren absolviert werden kann. „Das hat mir sehr geholfen, um mich noch mehr auf meinen Sport konzentrieren zu können“, sagt Schwimmerin Julia Mrozinski (21), die in diesem Sommer als eine der Ersten das Streckerabi macht. Der bekannteste aktuelle Eliteschüler ist Igor Matanovic, der für den FC St. Pauli in der Zweiten Fußball-Bundesliga angreift.
Aufnahmekriterien von Sportverbänden festgelegt
Die Kriterien für eine Aufnahme an der Eliteschule legen die Sportverbände fest. Für jede Klassenstufe gibt es am Alten Teichweg sechs Kategorien, die halbjährlich überprüft werden. Wer sie nicht erfüllt, muss damit rechnen, seine Sportklasse verlassen zu müssen. „Es ist ein hoher Druck, aber das ist nötig im Leistungssport, auf den wir die Jugendlichen vorbereiten wollen“, sagt Andresen. Deshalb stehen Trainings- und Ernährungslehre ebenso wie der Umgang mit Leistungsdruck auf dem Lehrplan.
Gab es in den Anfangsjahren seit dem Schuljahr 2006/07 durchaus Anlaufschwierigkeiten im Verhältnis mit der Stadtteilschule, an die die Eliteschmiede angegliedert ist, sei die Schulform mittlerweile rundum akzeptiert. Dank des umtriebigen Schulleiters Björn Lengwenus, in dessen Sprachgebrauch die Worte „geht“ und „nicht“ niemals gemeinsam vorkommen, verstünden beide Seiten mittlerweile, wie sie voneinander profitieren können.
Die hohe Qualität des Lehrpersonals und der sportfachlichen Ausbildung schlägt sich auch in Zahlen nieder. Von 150 Eliteschülerinnen und -schülern im ersten Jahr ist die Anzahl auf aktuell 358 angewachsen.
Zusammenarbeit mit Towers und HSVH
Das Angebot des Internats richtet sich vorrangig an auswärtige Talente aus den in Hamburg besonders geförderten Schwerpunktsportarten Beachvolleyball, Badminton, Hockey und Schwimmen, die glauben, hier ihre Ambitionen, in die nationale und anschließend im besten Fall auch in die internationale Spitze vorzudringen, am besten umsetzen zu können. „Wenn überschüssige Plätze offen sind, nehmen wir aber auch aus dem Basketball- und Handballverband Talente auf. Wir arbeiten dabei intensiv mit den Towers und dem HSVH zusammen“, sagt Lars Soltek.
Zwölf Jahre beträgt das Mindestalter, bleiben dürfen die Jugendlichen, bis sie das Abitur an der Eliteschule abgeschlossen haben. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche kümmern sich neben Soltek zwei Erzieher in Vollzeit und zwei weitere Teilzeitkräfte um die Betreuung der Bewohnenden. Hauswirtschaftlerin Annette Braun und zwei Küchenhilfskräfte bereiten täglich zwischen 6.15 und 9.45 Uhr Frühstück und zwischen 16 und 20 Uhr eine warme Abendmahlzeit vor. Mittagessen gibt es in der Schulkantine. Kalte Snacks, Gemüse, Obst, Salat, Brot und Getränke stehen in der Gemeinschaftsküche rund um die Uhr zur Verfügung.
Internatsplatz kostet ca. 1800 Euro pro Monat
Rund 1800 Euro im Monat kostet ein Internatsplatz, 470 Euro davon müssen die Eltern aufbringen. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass ein normales WG-Zimmer in Hamburg ähnlich teuer ist – ohne Verpflegung und Betreuung. Dennoch liegt das Hamburger Internat damit im nationalen Vergleich im oberen Viertel. „Dafür ist die Qualität, die wir liefern, auch sehr hoch“, sagt Soltek. Den Großteil des Unterhalts finanziert das Sportamt, das erkannt hat, dass Leistungssportförderung ein wichtiger gesamtgesellschaftlicher Baustein ist.
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„Es braucht Vorbilder, zu denen andere aufschauen können, dazu kommt der gesundheitsfördernde Aspekt des Sports. Wir versuchen, unsere Sportlerinnen und Sportler zur Selbstständigkeit zu erziehen, nehmen ihnen aber auch viel ab, damit sie sich bestmöglich auf ihren Sport konzentrieren können“, sagt Lars Soltek, dem wichtig ist zu betonen, dass Internat nicht mit Kaserne gleichgesetzt wird.
„Die Jugendlichen dürfen Freunde oder Partner empfangen, sie dürfen auch mal ausgehen“, sagt er, „wir wollen schließlich keine Sportidioten heranziehen, sondern eigenständige Menschen ausbilden.“ Alles müsse aber in Absprache mit den Trainern und Betreuern erfolgen. „Die Jugendlichen müssen schon auch Verzicht lernen, das gehört zum Leistungssport dazu.“
Der Standort Hamburg droht an Attraktivität zu verlieren
Neben dem Schwimmbad am OSP mit seiner Gegenstromanlage, dem benachbarten Beachcenter und der kombinierten Handball- und Judohalle am Eulenkamp stehen an der Schule zwei Dreifeldhallen zur Verfügung. Dass der Platzbedarf größer ist, weiß auch die Stadt, die im Mai vergangenen Jahres einen umfangreichen Um- und Ausbau des Stützpunktes innerhalb der kommenden vier Jahre angekündigt hatte, im Zuge dessen das Internat umziehen und auf 45 barrierefreie Plätze erweitert werden soll. „Wenn wir unsere strengen Auswahlrichtlinien auch in der Zukunft beibehalten, ist das eine realistische Größe“, glaubt Internatsleiter Soltek.
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Zumindest war sie das, bevor Corona kam. Welche langfristigen Auswirkungen die Pandemie auf den Nachwuchsleistungssport hat, vermag noch niemand einzuschätzen. Kurz- und mittelfristig sind sie verheerend. Während Sportstaatsrat Holstein der Meinung ist, dass ein Problem nicht dadurch besser wird, dass man es schlechtredet, befürchtet OSP-Leiterin Ingrid Unkelbach, dass der Standort Hamburg nachhaltig an Attraktivität verlieren könnte.
„Hamburger Landeskader treffen auf nationale Konkurrenz, die einen manchmal monatelangen Trainingsvorteil hat. Schul- und Vereinssichtungen finden nicht statt, es gibt keine Leistungsvergleiche, auf deren Basis man Kader bestücken kann. Das ist ein unhaltbarer Zustand“, sagt sie.
Durch Corona Leistungsdellen in Individualsportarten
Christian Andresen wünscht sich von der Politik, „dass sie anerkennt, dass Leistungssport auch im Nachwuchsbereich mit guten Hygienekonzepten möglich ist, und dass sie berücksichtigt,
welche gravierenden Auswirkungen der Ausfall hat.“ Lars Soltek befürchtet vor allem in den Individualsportarten tiefe Leistungsdellen. „Ein Jahr ohne Training kann man in Sportarten wie Schwimmen viel schwerer aufholen als im Hockey. Meine Sorge ist, dass Corona einige hoffnungsvolle Karrieren beendet.“
Ihren Optimismus wollen die Gestalter des Verbundsystems Schule-Leistungssport aber nicht vollends fahren lassen. „Meine Hoffnung ist, dass zum neuen Schuljahr im Spätsommer wieder Präsenzunterricht und Wettkämpfe für alle möglich sind. Corona wird uns verändern. Aber wir werden wieder gemeinsam leben, lernen und feiern“, sagt Lars Soltek. Neue Fotos braucht die Wand.