Hamburg. Wurde das Coronavirus bei einem Laborunfall freigesetzt? Das Abendblatt dokumentiert die Videobotschaft von Prof. Dieter Lenzen.

Wurde das Coronavirus bei einem Laborunfall im chinesischen Wuhan freigesetzt? Das legt die Arbeit eines Physikers der Universität Hamburg nahe. Das Abendblatt dokumentiert die Videobotschaft, mit der sich Dieter Lenzen jetzt in der Angelegenheit an die Beschäftigten der Hochschule gewandt hat. Er sagt: „Es ist besser eine unsichere Hypothese zur Diskussion zu bringen, als eine am Ende richtige verschwiegen zu haben.“

Uni-Präsident Dieter Lenzen im Wortlaut:

Es ist geschafft. Das denkwürdige Wintersemester 2020/21 liegt hinter uns. Auch wenn viele von Ihnen noch Wochen mit Prüfungen unter schwierigsten Bedingungen befasst sein werden. Auch das werden Sie noch meistern, so, wie Sie in dem zurückliegenden Jahr so vieles schon gemeistert haben. Dafür danke ich Ihnen, sicher auch im Namen unserer Stadt.

Die Monate der Arbeit unter härtesten Bedingungen haben viele an den Rand ihrer körperlichen, aber auch ihrer emotionalen Belastbarkeit gebracht. Wir alle befinden uns, um es mit einem Satz aus Martin Scorseses Film „The Age of Innocence“ zu sagen, wir befinden uns in einem so „prekären Gleichgewicht, dass es durch ein Flüstern hätte zerstört werden können.“

Wuhan-Debatte: Es bestand sicher nicht die Absicht, dem Image der Universität und ihrem Exzellenzstatus zu schaden.

Schon durch ein Flüstern. Was wir in den zurückliegenden zwei Wochen erlebten, war mehr als ein Flüstern, und es hat uns aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich meine das Papier eines unserer Professoren der Physik zu der Frage, ob das tödliche Virus, das uns alle bedroht, eventuell das Produkt eines Laborunfalls gewesen sein könnte. Der Umstand, dass auf diese Literaturarbeit mit einer Pressemitteilung der Universität hingewiesen wurde, hat Erstaunen hervorgerufen, Etliche besorgt und einige brüskiert.

Ich habe darüber mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gesprochen. Nichts lag ferner, als Kolleginnen oder Kollegen dadurch zu provozieren, dass ein Diskussionspapier auf derselben Ebene bewertet würde wie eine Studie zu experimentellen oder empirischen Forschungsergebnissen, die in mühevoller und aufwendiger Anstrengung erzielt wurden. Wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte, dann bitte ich um Nachsicht.

Auch bestand sicher nicht die Absicht, dem Image der Universität und ihrem Exzellenzstatus zu schaden. Diese Befürchtung müssen wir aber auch nicht haben. Wenn der Exzellenzstatus durch eine Pressemitteilung zu gefährden wäre, dann wäre es nicht weit her mit ihm. Denn: Tatsächlich beruht unsere Exzellenz hier auf dem fast grenzenlosen Engagement vieler Menschen aus Wissenschaft, Technik, Bibliotheken und Verwaltung, welches von externen Gutachtern gesehen, bewertet und eben für exzellent erklärt wurde. Daran hat sich nichts geändert.

Es ist unsere Pflicht, eine solche Hypothese anzuhören

Dass der Hinweis auf eine von einem Mitglied der Universität erstellte These Erstaunen hervorgerufen hat und eine breitere Diskussion auslöste, ist indessen schon das Ziel der Wortmeldung aus der Universität. Vielleicht sogar mehr als das: Wir alle müssen nämlich beunruhigt sein, wenn es denkbar wäre, dass Forschungen zu einem unbeabsichtigten Nebeneffekt, einem Laborunfall eben, geführt haben könnten, der Millionen Menschen das Leben kostet und ihre Gesundheit. Es ist unsere Pflicht, eine solche Hypothese anzuhören, abzuwägen und zu diskutieren. Das hat soeben ja auch eine Kommission der Weltgesundheitsorganisation getan. Sie ist zu dem Schluss gekommen: „ […] all hypotheses remain open and require further analysis and studies.“ – Alle Hypothesen bleiben offen und erfordern weitere Analyse und Studien. Eine solche Analyse, nicht eine Studie, liefert das Thesenpapier des Kollegen aus der Physik. Es ist die unsere Aufgabe, in kommenden Diskussionen in der Wissenschaft, sicher auch in der Universität zu erörtern, ob diese Hypothese zutreffen könnte. Die Urteile streuen zurzeit zwischen „halbseiden“ und „zwingend evident“.

Deswegen gilt: Es ist besser, eine unsichere Hypothese zur Diskussion zu bringen, als eine am Ende richtige verschwiegen zu haben. Denn: Die Geschichte der Wissenschaft ist einerseits übervoll an bedeutsamen, der Menschheit nützenden Entdeckungen. Aber: Es gab auch fatale Ergebnisse, die uns mit Orten wie Hiroshima, Tschernobyl oder Fukushima immer wieder gegenwärtig gemacht werden. Und wir haben künftig dafür die Verantwortung, auch in dieser Universität. So wird Wissenschaft politisch.

Transferagentur gegründet

Was kann man tun, um aber trotzdem Missverständnisse zu vermeiden, die aus einer unklaren Trennung von Forschungsergebnissen und wissenschaftspolitischen Thesen resultieren? Ganz einfach: Man muss sie trennen. Das werden wir deutlicher als bisher tun. Die Weitergabe von Forschungsergebnissen im eigentlichen Sinne gehört nach der Auffassung des Wissenschaftsrats in das Feld des Wissenstransfers in die Gesellschaft hinein. Dafür haben wir eine Transferagentur gegründet. Diese Ergebnisse gehören ja nicht uns selbst, sondern der Gesellschaft, in deren Auftrag wir sie hervorgebracht haben. Dafür sind die Kriterien zugrunde zu legen, die in den jeweiligen Fachkulturen gelten.

Die Bereitstellung von Thesen und Interventionen für die Gesellschaft und in sie hinein, in Politik, Wirtschaft und Kultur, sind davon zu unterscheiden. Hier gelten andere Qualitätskriterien, nämlich die des Diskurses. Wenn sie von öffentlichem Interesse sind wie die Frage nach der Sicherheit und moralischen Integrität wissenschaftlicher Forschung, ist es allerdings unsere Pflicht, sie zur Diskussion zu stellen.

Friedrich Dürrenmatts "Physiker"

Viele von uns haben ja das Privileg gehabt, Friedrich Dürrenmatts Theaterstück „Die Physiker“ in der Schule lesen zu dürfen. Deswegen stimmen wir zu, wenn dort gesagt wird: „Die Inhalte der Physik gehen die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen.“ Und: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“

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Alle, liebe Angehörige der Universität, nicht nur Experten oder Fachleute für das Ethische. Sondern wir alle müssen Fachleute der Moral sein wollen, in ganz praktischem Sinne. Indem wir uns fragen, um es mit einem altmodisch klingenden Satz zu sagen: Ist das, was wir in unserer Wissenschaft tun, sittlich erlaubt? Wollen wir diese Frage stellen? Ich bin, gerade auch nach der jetzigen Diskussion, zutiefst davon überzeugt, dass wir es wieder wollen müssen. Offenkundig müssen wir das Wissenschaftliche wieder näher an das Politische heranrücken. Das muss mehr sein als das bloße Bereitstellen von Expertenrat, mit der Politik und Gesellschaft nach Belieben verfahren.

Unsere Welt braucht auch Expertentat, um die Glaubwürdigkeit der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu erhöhen, indem diese buchstäblich für das von ihnen Gemeinte einstehen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen müssen aktiv dazu beitragen, die überall entstehenden Paradoxien der Gesellschaft aufzulösen. Der Interpretation muss die Intervention folgen, besonders in dem Medium, das der Wissenschaft zu eigen ist, dem Wort, der These, dem Argument­.

Denn heute gilt immer noch, was Albert Einstein im Mai 1933 an Max von Laue schrieb: „Deine Ansicht, dass der wissenschaftliche Mensch in den politischen, das heißt menschlichen Angelegenheiten im weiteren Sinne schweigen soll, teile ich nicht. Du siehst ja gerade an den Verhältnissen in Deutschland, wohin solche Selbstbeschränkung führt.“

Ich freue mich, wenn Sie bei der Wahrnehmung der neuen, eigentlich alten, Selbstverpflichtung für unsere Arbeit dabei sind.“

Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg