Hamburg. 15 Jahre lang arbeitete Florentine Pawlowski bei der Spurensicherung der Polizei. Der Anblick zweier Leichen ändert alles für sie.
An einem Tag im Frühjahr 2020 sieht Florentine Pawlowski vom Fenster ihres Büros auf dem Gelände des Polizeimuseums zwei zwielichtige Typen herumlungern. Sie tragen Hoodies und die Haare an den Seiten kurz. Auf die 47-Jährige wirken die beiden wie „Vorstadt-Gangster“. Als sich einer bückt, sieht sie etwas Metallisches. Ein Messer?
Ganz sicher. „Der hat ein Messer!“, ruft sie einer Kollegin zu – und schon rollt wieder die schwarze Lawine auf sie zu. Um sie herum wird alles dunkel, sie kann nicht klar denken. An die Szene erinnert sich die 47-Jährige später nur bruchstückhaft.
Hamburgerin erlebt Trauma im Polizeidienst
Wie sich herausstellt, haben Nachwuchspolizisten lediglich eine Festnahmesituation geprobt und sich dafür verkleidet. Ein Messer hatten sie nicht dabei. „Kompletter Systemausfall“, so nennt Florentine Pawlowski diesen Zustand, in den sie seit einem traumatischen Erlebnis im Dienst vor fast drei Jahren gerät. Wieder und immer wieder.
Früher hätte Florentine Pawlowski nie so reagiert. Sie hätte sich auch nicht vor dem neuen Album-Cover der Band „Die Ärzte“ geängstigt, mit dem die halbe Stadt zuplakatiert ist. Vor allem aber hätte sie sich niemals träumen lassen, dass sie einmal auf einen Assistenzhund angewiesen sein könnte, um ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen.
Pawlowski arbeitete 15 Jahre lang bei der Hamburger Spurensicherung
Pawlowski hat 15 Jahre bei der Hamburger Spurensicherung im LKA 3 gearbeitet – definitiv kein Job für Zartbesaitete. Sie gehörte zum Team mit den weißen Schutzanzügen, das anrückt, wenn am Tatort Spuren und Beweise dokumentiert werden müssen. 2003 wagte sie als gelernte Anwaltsgehilfin den Einstieg bei der Polizei – und fand bei der „SpuSi“ ihren Traumjob. Dass sie es dabei mit Leichen zu tun bekam, störte sie nicht. Pawlowski half, Einbrecher, Vergewaltiger und Mörder zu überführen. Heute überfordert sie schon ein Einkauf.
In ihrer Wohnung in Barmbek-Süd hängen Bilder mit Schiffen und Booten, auf den Regalen stehen Fotos aus den Tagen, als sie noch oft Freunde traf und verreiste. Inzwischen verlässt sie ihre Wohnung kaum noch, nicht nur wegen Corona. Am 30. Mai 2018, an das Datum erinnert sich Pawlowski noch genau, ist ihr Alltag unberechenbar geworden – und sie sich selbst ein stückweit fremd.
Anblick von Leiche bei Routineeinsatz warf sie aus der Bahn
An dem Tag, der ihr Leben um 180 Grad drehte, soll Pawlowski mit einem Kollegen in der Rechtsmedizin am UKE die Fingerabdrücke von zwei Toten einscannen. Nur ein Routineeinsatz. Als sie den Raum mit den Leichen betritt, fällt ihr Blick auf einen der Toten, er liegt bereits unverhüllt auf dem Tisch.
Bis heute hat sie nicht die leiseste Ahnung, warum sie dieser Anblick so aus der Bahn geworfen hat. „Der Körper war praktisch mumifiziert, das Gesicht entstellt“, sagt sie. „Ich hatte das Gefühl, dass mir der Tote direkt in die Augen geschaut und eine Verbindung zu mir aufgebaut hat.“
Anblick von zweiter Leiche führte zu erneutem Schock
Völlig geschockt stürmt sie aus dem Gebäude, spricht mit ihrem Kollegen, kehrt aber wieder zurück, um die zweite Leiche zu untersuchen. Dienst ist Dienst, sagt sie sich. Wird schon gehen. Geht aber nicht – als sie den zweiten Toten sieht, erleidet sie einen weiteren Schock.
In den Tagen darauf versteht sie ihren Körper nicht mehr, er arbeitet wie entkoppelt von ihrem Verstand. Im Straßenverkehr reagiert sie panisch, wenn zu viele Autos zu dicht an ihrem Wagen stehen; nachts tut sie kein Auge zu, tagsüber zittert sie und leidet unter Schweißausbrüchen. Am 12. Juni 2018 bricht sie zusammen, die Symptome klingen auch nach mehreren Wochen nicht ab.
Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung
Schließlich diagnostiziert ihre Psychiaterin eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS. Verstetigen sich die Symptome auf massiven Stress, ausgelöst etwa durch Katastrophen- oder Gewalterlebnisse, kann sich aus einer akuten Belastungsstörung eine PTBS entwickeln. Pawlowski gehört zu denen, die das Trauma wieder und wieder erleben.
Im Oktober 2018 geht sie zum ersten Mal in die Klinik – die Flashbacks bleiben. Als im Supermarkt einmal ein junger Mann neben ihr steht, verwandelt sich sein Gesicht, und Pawlowski sieht die Fratze eines der Toten. Sie flüchtet in Richtung Kasse – bloß weg! – und macht sich schockstarr in einer Ecke klein. Dann wird alles dunkel. Systemausfall.
Phasen der Leichtigkeit wechseln sich mit Phasen der Agonie ab
Im Alltag lacht Florentine Pawlowski oft, sie wirkt selbstbewusst, herzlich, zupackend. Diese Phasen scheinbarer Leichtigkeit wechseln sich ab mit Phasen der Agonie: Früher oder später holt sie der Horror in Dauerschleife ein. Häufig weiß sie gar nicht, warum. „Geräusche, Personen, Berichte und Gerüche holen mich zu meinem Auftrag zurück. Ich erlebe es immer wieder“, sagt sie.
Sie fühle sich „ständig bedroht, verlassen und traurig“. Auf Einkäufe muss sie sich bis zu drei Tage vorbereiten. Und manchmal driftet sie weg. Einfach so. Mitte 2020, nach dem nächsten Zusammenbruch, geht sie ein weiteres Mal in Therapie, diesmal für sechs Wochen. Für die Polizei arbeitet sie jetzt im Personalbereich.
Pawlowski setzt große Hoffnungen in ihren Assistenzhund
Eigentlich, sagt Florentine Pawlowski, liebe sie das Leben. „Ich will es nur wieder genießen können.“ Sie hofft, dass ihr Major dabei helfen kann – so heißt der helle Labrador, der aktuell von Rehahunde e. V. in Cammin bei Rostock für sie zum PTBS-Assistenzhund ausgebildet wird.
Ob ein Hund für die Arbeit mit Trauma-Patienten geeignet sei, stelle sich erst während der Ausbildung heraus, gute Erfahrungen habe man mit den Rassen Doodle, Golden Retriever und Labrador gemacht, sagt die Vereinsvorsitzende Astrid Ledwina. Bisher habe Rehahunde e. V. vor allem traumatisierten Soldaten helfen können.
Hunde merken das Anbahnen einer Panikattacke
In Cammin lernen die Hunde die Symptome zu erkennen, bevor die Betroffenen im Malstrom ihrer Bilder untergehen. Oft kündigen sich die Episoden an. „Bevor traumatisierte Menschen wegen eines auslösenden Ereignisses wegdriften, wippen die meisten mit den Füßen oder kneten ihre Hände“, sagt Ledwina. Die Hunde unterbrechen das Trauma-Programm dann, indem sie die Betroffenen anstupsen oder anbellen.
Zudem registrierten sie feinste chemische Veränderungen im Körper über den Schweiß, etwa im Fall einer Angst- oder Panikattacke. Pawlowskis Hoffnung: „Major wird mich aus meinen Albträumen wecken, mich im Notfall zum Auto zurückbringen und für eine sichere Distanz zu anderen Menschen sorgen.“
Krankenkassen übernehmen die Kosten für Assistenzhunde nicht
Wenn alles gut geht, zieht Major nach der einjährigen Ausbildung Ende Februar bei ihr ein. Einmal hat sie ihn gesehen, hat sein Fell gestreichelt, das war im Dezember. „Ich war das erste Mal seit zwei Jahren frei von Angst und Sorge“, sagt sie. Weil sich die beiden richtig kennenlernen müssen, steht ihnen in der Anfangszeit ein Trainer rund um die Uhr zur Seite.
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Doch Pawlowski hat ein Problem: Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für Assistenzhunde nicht, als „medizinisches Hilfsmittel“ sind nur Blindenführhunde anerkannt. Aktuell macht sich der Sozialverband VDK dafür stark, dass die Kassen künftig die Kosten auch für Assistenzhunde übernehmen.
Gesamtkosten von 28.100 Euro: Spendenkonto eingerichtet
3000 Euro Selbstbeteiligung könne sie aufbringen, nicht aber die Gesamtkosten von 28.100 Euro, sagt sie. Die 47-Jährige hofft auf Spenden. Sie hat deshalb ihre Geschichte bei Facebook und Instagram öffentlich gemacht.
Doch über ihr Leiden zu sprechen, hält die schwarze Lawine nicht auf. Auf den Termin mit dem Abendblatt habe sie sich eine Woche vorbereitet, sagt sie. Danach schickt sie eine SMS: „Wenn ich mit euch rede, funktioniere ich wie auf einer Bühne. Jetzt hänge ich wie in einer Kapsel an Fäden, und alles ist unwirklich.“
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Verwendungszweck: Major