Hamburg. Seit Silvester starben fünf Menschen auf Hamburgs Straßen. Ehrenamtliche versuchen Nacht für Nacht zu helfen. Ein Ortstermin.
Im Kofferraum stapeln sich Isomatten und Wolldecken, es ist 19 Uhr. Das Team des Kältebusses bricht auf, um möglicherweise Leben vor den Minusgraden zu retten. In Corona-Zeiten stehen aber auch FFP2-Masken auf der Ladeliste für den VW Bus. Er gehört zur Alimaus, einer Tagesstätte für Obdachlose und bedürftige Menschen an der Reeperbahn.
Den Kältebus gibt es seit Ende 2018 in Hamburg, von November bis März fährt er jede Nacht und bringt Menschen bei Bedarf in die Notunterkünfte der Stadt. Feste Routen gibt es nicht, das Team reagiert auf Anrufe und fährt bekannte Plätze ab. Dafür wechseln sich 40 ehrenamtliche Helfer in Zweierteams ab. Heute sitzt Ronald Kelm am Steuer, Beifahrerin Susanne Diem protokolliert die Einsätze.
Kältebus bringt abends zwischen drei und sechs Leute in die Unterkünfte
Um 19.45 Uhr drehen Kelm und Diem eine Runde am Hauptbahnhof und nehmen den ersten Mann mit: Miroslav muss nach Hammerbrook, in die Unterkunft an der Friesenstraße, wo er sich auch mit dem Rollator bewegen kann. Kältebus-Fahrer Kelm ist Krankenpfleger, er fragt nach Vorerkrankungen. Bevor er Miroslav ins Auto hilft, zieht er sich Handschuhe über und unterstützt den Mann dabei, seine Einwegmaske zu wechseln. Einmal Hände desinfizieren, Rollator zusammenklappen, dann kann Miroslav einsteigen. An der Friesenstraße angekommen, müssen Diem und Kelm ihm aus dem Wagen helfen. Er kann sich schwer auf den Beinen halten, seine Kleidung ist nass.
Vor der Einrichtung ist es laut, das Stimmengewirr mehrerer kleiner Gruppen, die vor dem roten Klinkerbau stehen, und das Klirren von Flaschen hört man schon, bevor die Bustür aufgeht. 2000 Menschen leben in Hamburg auf der Straße, der Kältebus transportiert abends im Schnitt zwischen drei und sechs Leuten in die Unterkünfte.
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Manche lehnen Übernachtungen in den Unterkünften ab
Aber nicht alle Menschen ohne Obdach wollen dieses Angebot nutzen, so auch an diesem Abend: Eine Frau, die am Großen Burstah sitzt, sagt, sie habe schon schlechte Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht. Ein Mann, der an Epilepsie leidet und ein schmerzendes Bein hat, will lieber in der Haspa-Filiale an der Straßburger Straße bleiben – obwohl er weiß, dass er hier um 22 Uhr rausmuss, wenn der Sicherheitsdienst kommt.
„Wir hören immer das Gleiche: Die Unterkünfte sind zu voll“, sagt Kältebus-Fahrer Kelm. „Wir sollen uns schützen, indem wir Kontakte vermeiden. Bei obdachlosen Personen ist es das Gegenteil, und sie werden in Massenunterkünfte geschickt. Das passt nicht zusammen.“
125 Personen wurden in Hotels untergebracht
Ähnlich äußert sich Stephan Karrenbauer vom Straßenmagazin „Hinz& Kunzt“. „Beide Großunterkünfte werden genutzt, da sind mehrere Hundert Leute“, sagt der Sozialarbeiter. „Aber es gibt eine große Gruppe von Menschen, die sagt: Dort kann ich mich nicht schützen, und dort komme ich nicht zur Ruhe. Die Ängste, die jeder hat, haben auch Wohnungslose. Und da sagen manche, dass sie sich auf der Straße besser schützen können.“ Schon im Sommer habe man darauf hingewiesen, dass Tagesaufenthaltsstätten geschlossen oder nur ein sehr eingeschränktes Angebot hätten – das mache sich bemerkbar.
„Die Stadt muss schnellstens ein anderes Konzept fahren“, sagt Karrenbauer. Gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen haben „Hinz&Kunzt“, Alimaus und Diakonie inzwischen 125 obdachlose Personen in Hotels unterbringen können – spendenbasiert. „Jetzt müsste eigentlich die Stadt mit einspringen“, so Karrenbauer. „Kleinere Organisationen wie wir sind inzwischen gut ausgelastet, es wird schwierig, noch mehr Leute unterzubringen.“
Behörde verweist auf das Winternotprogramm
Die Sozialbehörde verweist auf freie Kapazitäten im Winternotprogramm. „Wir betreiben zentrale Standorte, weil wir an diesen einen umfassenden Service bieten können: Beispielsweise sind Dolmetscher vor Ort. Ebenso ist es mit der Sozialberatung“, sagt Behördensprecher Martin Helfrich. Weitere Möglichkeiten für Hotelunterbringungen in Einzelfällen würden aktuell geprüft.
„Wir sehen eine dramatische Verelendung auf den Straßen seit Corona. Die hatten wir in dieser Form, wie wir sie jetzt sehen, noch nie“, sagt auch Kältebus-Fahrer Kelm. Er kennt die Situation in Hamburg gut: Der 59-Jährige ist von Beginn an im Kältebus-Team, sonntags bietet er mit dem Gesundheitsmobil der Alimaus eine Akutsprechstunde am Hauptbahnhof an. Beifahrerin Diem ist neben ihrem Beruf als Stewardess seit vier Jahren bei dem Verein Bergedorfer Engel aktiv, am Wochenende verteilt sie Essen auf der Reeperbahn.
Die Erfahrung ist auch wichtig, um im Kältebus mögliche Gefahrensituationen einschätzen zu können: So entscheidet Diem sich nach kurzem Gespräch etwa dagegen, einen Mann mitzunehmen, „der auf Englisch ausfallend wird“. Kelm hat es auch schon erlebt, dass Menschen übergriffig werden. Die meisten sind aber dankbar für Schokolade, Tee und Schlafsäcke.
Manchmal stößt das Team an seine Grenzen
Doch der Kältebus hat auch seine Grenzen. Um 22 Uhr meldet die Bahnhofsmission einen stark alkoholisierten Mann im Rollstuhl, der an die Friesenstraße gebracht werden möchte. Er hat Magenprobleme, war erst vor Kurzem im Krankenhaus – und hat nicht genug Kraft, sich selbst über die eine Stufe in den Kältebus hochzuziehen. Linker Fuß vor, rechter Fuß vor, Hand an den Haltegriff – nichts funktioniert. „Ich bin echt kräftig, aber ich habe ihn nicht bewegt bekommen“, sagt die 1,80 Meter große Diem.
Schulterzucken, Ratlosigkeit. Nach 20 Minuten gibt das Kältebus-Team auf: Sie wickeln den Mann in zwei Wolldecken ein und helfen ihm in eine windgeschützte Ecke im Bahnhof, die Missionsmitarbeiter wollen in den nächsten Stunden weiter nach ihm schauen. „Sonst könnte man das gar nicht verantworten“, sagt Kelm. „Das ist ein ganz furchtbares Gefühl, wenn man nicht helfen kann.“ Einen anderen Transport, etwa durch die Feuerwehr, könnten sie nicht herbeirufen, weil kein akuter Notfall vorliege.
Um Mitternacht rollt der Kältebus zurück in die Garage
Angebote aus dem Bezirk Altona, den Bus nachzurüsten oder ein neues, behindertengerechtes Fahrzeug anzuschaffen, habe es gegeben, sagt Alimaus-Leiterin Christiane Hartkopf. „Die haben wir aber abgelehnt, eben, weil wir kein ausgebildetes Personal haben. Wie hält man so einen Menschen wirklich sicher? Das weiß ein Krankenpfleger oder ein Arzt, aber die meisten wissen es eben nicht.“ Auch Krampfanfälle seien nicht ausgeschlossen.
Bei minus 1 Grad Außentemperatur müssen Diem und Kelm den Rollstuhlfahrer also zurücklassen. „Mein größter Albtraum ist, dass ich mal irgendwohin komme, und dort liegt einer, dem man nicht mehr helfen kann – besonders in diesem Winter“, sagt Kelm. Bei jedem Todesfall auf Hamburgs Straßen fragen sich die Kollegen: Bin ich da am Abend vorher gewesen? Hätte ich dort vorbeifahren sollen? „Aber wir können nicht jeden Abend an jedem Ort sein“, sagt Kelm. Um Mitternacht wird das Handy ausgeschaltet, der Kältebus rollt zurück in die Alimaus-Garage an der Reeperbahn. Ein letztes Mal wird desinfiziert und durchgelüftet – bis zur nächsten Nacht.