Hamburg. Annette Bruhns ist neue Chefredakteurin des Hamburger Straßenmagazins. Porträt einer Macherin mit klaren Botschaften.
Eine alte Dame hat Butterkuchen in die Redaktion gebracht. Außerdem gibt es Lebkuchen, Bananen, Äpfel, Kaffee und an einem Stehtisch bestärkende Worte für einen Verkäufer, der bald in eine Klinik muss. Wir befinden uns an einem Ort der Großzügigkeit, so viel wird gleich am Eingang der „Hinz&Kunzt“-Redaktion in einem Innenstadt-Hinterhof klar. Sich von der Kälte da draußen befreien, das funktioniert nicht nur durch Heizungen. Wärme hat verschiedene Darreichungsformen. Heute sind das: süße Backwaren, Obst und aufmunternde Gespräche.
Seit Mitte November hat das Straßenmagazin eine neue Mitarbeiterin: Annette Bruhns. Sie kam als designierte Chefredakteurin – am 1. Januar hat sie den Posten offiziell von ihrer Vorgängerin Birgit Müller übernommen – und wollte schon vorher anfangen, um erst einmal die 39 Kollegen kennenzulernen. Doch dann war der Krankenstand so hoch, dass die Journalistin gleich in die Bresche sprang, und das machte, was Reporter so tun: schreiben, schreiben, schreiben.
Bruhns ist Voll-Profi, die vergangenen 25 Jahre arbeitete sie beim „Spiegel“ als Politikredakteurin. Doch warum der Wechsel von einer so renommierten Zeitschrift zu einem Obdachlosenmagazin? Steht eine plötzliche Entdeckung des Altruismus dahinter? „Nein, das zu sagen wäre vermessen“, erklärt Bruhns. „Ich sah auch schon vorher viel Sinn in meiner Arbeit. Keine Fake News zu verbreiten, die Demokratie zu fördern durch relevante Geschichten, das ist in meinen Augen genauso wichtig wie Obdachlosen zu helfen.“
100 Bewerber – und ein sehr hartes Vorstellungsgespräch
Gut, also kein neues Gutmenschentum bei Frau Bruhns, die jetzt kurz mit ihrer Tochter telefoniert. Wir sitzen in einem Büro, das unordentlich aussieht. Die Abteilungen ziehen um, alles auf Neustart. Die Chefin in spe hat aufgelegt und nimmt gleich wieder den Faden auf. Sie habe sich um diese Position bemüht, weil es ihr die unglaubliche Möglichkeit gebe, jeden Monat 60 Seiten komplett frei zu gestalten: „Mehr Paradies kann man sich als Journalistin nicht wünschen.“ Bruhns hatte die Stellenanzeige im „Hinz&Kunzt“-Magazin entdeckt, neben ihr bewarben sich ungefähr 100 andere Leute. Es folgten ein Assessment-Center und „das härteste Vorstellungsgespräch, das ich je hatte“, sagt Bruhns. Doch diese Dame ist ein Wettbewerbsmensch, sonst hätte sie es nicht so lange beim „Spiegel“ ausgehalten.
Was sie außerdem gut kann: eine Haltung einnehmen. Bewies sie gleich wieder in ihrem ersten redaktionellen Beitrag beim neuen Arbeitgeber. Sie schrieb darüber, was für ein Desaster es ihrer Ansicht nach darstellt, dass der Senat trotz Corona an Sammelunterkünften für Obdachlose im Winter festhält und es privaten Spendern überlässt, seuchenfestere Unterkünfte zu organisieren. „Die Stadt macht sich da einen sehr schlanken Fuß“, sagt Bruhns. „Hinz&Kunzt“ bringt gemeinsam mit Diakonie, Caritas und der Tagesaufenthaltsstätte Alimaus 80 Menschen von der Straße bis April in einem Hotelzimmer unter. Möglich macht das auch eine erneute Großspende der Reemtsma Cigarrenfabriken über 300.000 Euro. Der FC St. Pauli sammelt ebenfalls dafür Spenden, durch weitere Initiativen aus der Wohnungslosenhilfe werden zusätzlich Plätze für noch mal fast 40 Personen finanziert.
Etwa 2000 Obdachlose in Hamburg
Doch das ist immer noch nicht ausreichend. Schätzungen gehen von 2000 Obdachlosen in dieser Stadt aus, die Dunkelziffer sollte höher liegen. Treffen sie in Großunterkünften zusammen, birgt das die Gefahr von Superspreader-Nächten. „Die Verantwortlichen scheinen eine seltsame Güterabwägung getroffen zu haben: Der Schutz vor dem Kältetod schlägt den späteren Corona-Tod“, sagt Bruhns verständnislos. Das Winternotprogramm empfindet sie auch deshalb als mangelhaft, weil alle Bürger angehalten sind, ihre Kontakte zu reduzieren, nur Obdachlosen zwänge man sie quasi auf. Sie müssen sich ständig der Gefahr einer Ansteckung aussetzen, wenn sie drinnen übernachten wollen. Wie dringend das Problem ist, zeigt eine furchtbare Zahl: In Hamburg sind seit Silvester bereits fünf Obdachlose tot auf der Straße gefunden worden.
Die neue Chefredakteurin tritt jetzt als Lobbyistin für Obdachlose auf, doch sie war auch schon für eine andere Gruppe aktiv: Frauen. Bis 2014 agierte sie als Vorsitzende des Vereins Pro Quote Medien e. V., den sie 2012 mitgründete. Die Gleichstellungsinitiative fordert, dass die Hälfte aller Führungspositionen in den Medien auf allen Hierarchiestufen von Frauen besetzt wird. „In den Redaktionen gibt es gerade bei Tageszeitungen immer noch erheblichen Handlungsbedarf. Da berichten häufig Männer über Männer“, findet Bruhns. Als junge Journalistin habe sie noch gedacht, Leistung allein würde reichen, um Karriere machen zu können. Inzwischen denkt die alleinerziehende Mutter anders darüber. Als Lobbyistin würde sie sich allerdings selbst nicht bezeichnen, die Pro-Quote-Aktivistin zieht den Begriff Gewerkschafterin vor.
Kämpferin für die Schwächeren
Zur Kämpferin für die Schwächeren wurde sie mit 15, da ging sie ein Jahr lang nach Peru zum Schüleraustausch, es wurde „das schlimmste Jahr meines Lebens“, so Bruhns. Die Armut dort habe sie erschreckt. Wenn die junge Schülerin mit dem Bus durch die Slums von Lima fuhr, sah sie dort psychisch Kranke nackt und völlig verdreckt herumlaufen. „Ich habe dort ein Leid und eine Dehumanisierung erlebt, die mich für das Leben geprägt hat.“ Fünfmal wurde sie in der Zeit beraubt, einmal mit vorgehaltenem Messer. Eine Austauschschülerin aus England erlebte eine Vergewaltigung, Bruhns‘ Gastbrüder gingen regelmäßig zu Huren. „Indiomädchen durften sie für lumpiges Brot vögeln“, berichtet sie. „Da wird man zwangsläufig zur Feministin.“ Ihre Gastfamilie wollte ihr sogar verbieten, ein Konto vor Ort zu eröffnen, weil sie ein Mädchen war.
Nach dem Abitur heuerte Annette Bruhns auf einem Frachter an, um nach Brasilien zu kommen. Geld für ein Flugticket hatte die UNESCO-Stipendiatin nicht. Sie schrubbte von 6 bis 18 Uhr die Decks. Hand gegen Koje. In Brasilien arbeitete sie dann in einem Kloster sowie in einer Orangensaftfabrik. Die junge Frau sah viel zu viele Kinder mit aufgequollenen Hungerbäuchen und entdeckte in Südamerika ihre Umweltader durch den dortigen maßlosen Umgang mit Pestiziden: „Ich traf 29-jährige Tagelöhner, die nicht mehr denken konnten, weil sie sich das Gehirn weggenebelt hatten mit den Giften.“ Der erste Redakteursjob führte sie daher zum „Greenpeace Magazin“. Es folgten 25 Jahre beim „Spiegel“, in denen Bruhns nie die unangenehme Seite des Journalismus scheute. Wie häufig man belogen werde, wie häufig die Leute vor einem säßen und behaupteten: Wir sind die Guten. „Doch das stimmt oft nicht“, sagt die Journalistin: „Wir müssen dahin gehen, wo es weh tut, wo es dreckig ist, wo es stinkt.“
Bruhns größte Aufgabe wird nun sein, die Zeitschrift „Hinz&Kunzt“, die sich ungefähr 60.000 Mal im Monat verkauft, auch digital gut aufzustellen. Ein Straßenmagazin digital? Keine leichte Aufgabe für eine Print-Frau. Doch es gibt immer wieder viel Unterstützung von Experten, die pro bono beraten.
Bruhns wäre enttäuscht, würden die Leute das Magazin nur aus Mitleid kaufen. Der Inhalt des Heftes an sich soll überzeugen. „Hinz&Kunzt“ wird nicht von Obdachlosen für Obdachlose geschrieben. Die Themen sollen auch Freude bereiten, den Alltag der Menschen treffen. Die neue Frau am Ruder (Bruhns ist eine hervorragende Seglerin) plant, einen Freundschaftskreis von Journalisten aufzubauen, die kein zusätzliches Geld verdienen müssen: „Es ist eine Freude zu sehen, wie viele helfen wollen.“
„Hinz&Kunzt“ finanziert sich aus Spenden und dem Verkauf
Ohne Hilfe der Hamburgerinnen und Hamburger würde es auch nicht funktionieren. „Hinz&Kunzt“ finanziert sich ausschließlich aus privaten Spenden und den Verkaufserlösen. Der Verlag macht Wohnungslose zu kleinen Unternehmern, indem sie die Zeitschrift für 2,20 Euro verkaufen und die Hälfte davon behalten dürfen. „Die Leute arbeiten also für ihr Geld, das gibt Würde,“ so Bruhns. Doch die Jobs sind begehrt und limitiert, nicht jeder wird in die Riege der Verkäufer aufgenommen. Einigermaßen gepflegt und nüchtern sollte man sein, weder betteln noch pöbeln, außerdem der deutschen Sprache einigermaßen mächtig – da hakt es bei vielen Obdachlosen. Immer mehr kommen aus Osteuropa, etwa Polen oder Russland, nach Hamburg.
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Wer eine Regelmäßigkeit beweist, also sechs Monate am Stück zuverlässig Magazine verkauft, der erhält einen festen Platz beispielsweise vor einem Aldi. Die Geschäftsinhaber kennen ihren „Hinz&Kunzt“-Verkäufer also, und so fiel auf, dass ein Privatunternehmer die Magazin-Idee samt Inhalten kopiert hatte und auch ein Straßenmagazin verkaufen ließ. Die Ausweise sind seither noch mal verbessert worden, und die offiziellen Mitarbeiter unterscheiden sich von den falschen Verkäufern dadurch, dass sie niemals aufdringlich werden würden. Echte Hinz&Kunztler halten sich an ihren Verhaltenskodex.
Wenn Sie „Hinz&Kunzt“ unterstützen möchten, nutzen Sie das Spendenkonto bei der HASPA:
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