Alsterdorf. Behinderte und ihre Familien werden in der Pandemie vergessen. Diese Eltern aus Alsterdorf berichten von ihrem Leben in der Krise.
An manchen Tagen wissen Marietheres Spallek und ihr Mann Lutz Schreiber einfach nicht mehr weiter. Wenn zum Beispiel, morgens früh das Telefon klingelt und die Direktorin der Kurt-Juster-Schule die Stunde Therapie und Betreuung für ihren Sohn Julius aus Krankheitsgründen absagt.
Wenn dann damit auch die eine Stunden Schule für ihren zweitjüngsten Leonard ins Wasser fällt, weil er dort derzeit eigentlich mit seinem Bruder zusammen beschult werden soll. Und gleichzeitig die beiden großen Phileas und Floraline zu einer Untersuchung im Krankenhaus sind, weil es ihnen schon seit Wochen so schlecht geht.
Familie lebt mit ihren vier Kindern in Hamburg-Alsterdorf
Gleichzeitig aber für beide berufstätigen Eltern eigentlich die ersten Telefonkonferenzen am Laptop warten. „Dann sind wir einfach nur hilflos und denken, das schaffen wir jetzt nicht mehr.“ Schaffen sie dann doch. Müssen sie ja. Für die Kinder.
Familie Schreiber ist eigentlich eine ganz normale Familie aus Hamburg Alsterdorf. Vier Kinder haben sie im Alter von sieben, zehn, zwölf und 13 Jahren. Das Besondere an dieser Familie ist ihr jüngster Sohn Julius. Er leidet an einem äußerst seltenen Chromosomendefekt, ist von Geburt an schwerstbehindert. Bis heute kann er nicht sprechen, laufen, selbstständig essen oder zur Toilette gehen.
Corona-Pandemie ist für das kranke Kind besonders gefährlich
Bisher war der tägliche Umgang mit ihm eine Herausforderung, wie sich ihr viele Familien in Hamburg stellen – und für die Familie Schreiber einfach eine Selbstverständlichkeit. Seit März allerdings ist seine Besonderheit zu einem schier unlösbaren Problem geworden. Denn mit der Behinderung von Julius geht auch eine chronische Lungenerkrankung einher. Allein im vergangenen Winter litt der Kleine an mindestens vier Lungenentzündungen. Die Corona-Pandemie ist also für ihn besonders gefährlich.
Auch deshalb war der erste Lockdown im März für die Familie erst einmal ein Segen. Alle sechs blieben einfach zu Hause und fühlten sich so einigermaßen sicher. Marietheres Spallek nahm Urlaub, „damit wir uns hier sortieren konnten“. Heilfroh sei sie im ersten Moment über diese Zurückgezogenheit gewesen. Und die damit verbundene Sicherheit. Eine Nachbarin besorgte die Einkäufe für die sechs.
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Doch von vorne herein war klar, die Lehrer konnten die Eltern zu Hause nicht ersetzen. „Die drei Großen mussten sich vom ersten Tag an selbstständig um ihre Schularbeiten kümmern“, sagt Lutz Schreiber. „Wir hatten einfach keine Zeit, und uns mit ihnen hin zu setzen, schließlich braucht Julius ganz viel Betreuung.“
Ein Beispiel: Eine Mahlzeit mit dem kleinen Jungen dauert wegen seiner starken Schluckbeschwerden bis zu eineinhalb Stunden. „Bei drei Mahlzeiten am Tag, ist man allein damit sehr lange beschäftigt.“ Dazu dann die permanente Aufsicht, therapeutische Übungen und Hilfe beim Anziehen, zur Toilette gehen und Laufen lernen. Ganz zu schwiegen vom Aufräumen, Kochen, Wäsche waschen und vielem mehr. „Es war von Anfang an schlicht keine Zeit da, damit wir uns gemeinsam über Aufgaben beugen konnten.“
Schnell wurde der Familie so also klar, wir brauchen Hilfe. Marietheres Spallek nahm Kontakt zur Kita von Julius auf. Wenig später durfte der Kleine wieder zur Notbetreuung in die Einrichtung kommen. Wurde von einem einzigen Erzieher mit Mundschutz allein in einem Raum betreut. Knapp drei Wochen lang ging das gut. Doch als die Kita Stück für Stück auch wieder für die anderen Kinder geöffnet wurde, stand für Julius kein Raum und kein Erzieher mehr zur Verfügung.
Zu wenig Abstand: Leonard ist bis heute nicht in der Schule gewesen
Mit Hilfe der engagierten Kitaleitung schaffte die Familie es, eine Erzieherin zu engagieren, die Julius in den darauf folgenden Wochen zu Hause betreute. „Dafür wurde einfach das Geld genommen, das die Einrichtung für ihn zur Verfügung gestellt bekommt.“ Eine riesige Hilfe für die sechs. Im Sommer zog so wieder ein wenig Normalität in dem Doppelhaus unweit der Alster ein.
Leonard ging allerdings weiterhin nicht zur Schule, die Carl-Cohn-Schule. „In einer Grundschule können einfach keine Abstände eingehalten werden“, sagt Lutz Schreiber. Außerdem war es den Eltern wichtiger, die beiden großen endlich wieder an einzelnen Tagen zum Albert-Schweitzer-Gymnasium zu schicken. Schließlich wurde vor den Sommerferien nur in kleinen Gruppen unterrichtet – und die beiden trugen von Beginn an Maske. „Für sie war das alles eine Selbstverständlichkeit“, so der 48-Jährige. „Sie kennen es ja nicht anders.“ Allerdings habe man ihnen angemerkt, dass ihnen der Umgang mit Freunden und Mitschülern oft nicht leicht fiel.
Über allem schwingt die Angst, Bruder mit dem Corona-Virus anzustecken
„Sie haben versucht, so gut es geht Abstand zu halten. Und sich gewissermaßen damit ja auch isoliert.“ So habe ihr großer Sohn auf die Nachfrage, mit wem er denn heute auf dem Schulhof gespielt habe nur ganz schlicht geantwortet: „Ich war alleine.“ Immer schwang über allem die Angst mit, den kleinen Bruder mit dem Corona-Virus anzustecken. „Die Angst um Julius ist ein täglicher Begleiter in unserer Familie, schon lange vor Corona.“ Zu oft hätten die Geschwister Situationen miterleben müssen, in denen der Kleine in großer Gefahr war. „Man kann sagen, dass sie traumatisiert sind von Momenten, in denen Julius keine Luft mehr bekam oder aufhörte zu atmen“, sagt Lutz Schreiber. Entsprechend vorsichtig seien sie bereits vor der Pandemie alle gewesen.
Waren sie sich vor den Sommerferien noch sicher gewesen, es im neuen Schuljahr besser hin zu kriegen, so wurde Familie Schreiber spätestens Anfang August eines Besseren belehrt. Die Schulen in Hamburg starteten in voller Stärke, es gab keine Maskenpflicht – und die Zahl der Neuinfektionen nahm langsam aber stetig zu. „Wir standen plötzlich vor einem viel größeren Problem“, sagt Lutz Schreiber. Außerdem wechselte der Kleinste von der Kita in die Kurt-Juster-Schule, eine Schule für Kinder mit besonderem Förderbedarf.
Hier machte man den Eltern schnell deutlich, dass es keine Extrabetreuung für die besonders gefährdeten Kinder geben könne. „Wir waren ehrlich gesagt getroffen, es wäre für Julius so wichtig gewesen, wieder einmal mit anderen Menschen zusammen zu kommen.“ Ganz zu schweigen von den verschiedenen Therapien, die das Kind dringend brauche. „Also haben wir ihn nach der Einschulung einfach gleich wieder nach Hause genommen.“
Eltern kämpfen um Hilfe für ihren Sohn mit Behinderung
Gemeinsam mit der Schule entwarf man die Idee, für Julius eine Schulbegleitung zu organisieren. Das sind Menschen, die Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung im Schulalltag unterstützen. Die Anträge dafür musste Familie Schreiber mit Unterstützung der Schule stellen. Seit August kämpfen die Eltern nun darum, für ihren Sohn eine solche Begleitung zu bekommen, die sich um Julius zu Hause kümmert. „Doch das ist erstens nicht erlaubt, weil die Person zu uns den Virus einschleppen könnte. Und zweitens nicht anerkannt, weil zu Haus keine Beschulung stattfindet“, sagt Lutz Schreiber. „Dabei hat für Julius der Begriff Schule ja eine ganz andere Bedeutung. Für ihn ist Schule in erster Linie mehr Selbstständigkeit zu erlangen, wie beispielsweise beim Anziehen oder Essen. Das klassische Einmaleins spielt da keine Rolle.“
Auch die Idee einer mobilen Beschulung brachte die Familie gemeinsam mit der Ombudsstelle der Schulbehörde auf – und versucht nun seit Wochen, sie umzusetzen. Mobil beschult werden Kinder, die beispielsweise wegen eines langen Krankenhausaufenthalts nicht in der Klasse am Unterricht teilnehmen können. Mittlerweile gibt es eine sogenannte mobile Beschulung für Julius und seinen Bruder Leonard an vier Tagen die Woche in der Kurt-Juster-Schule in einem Extraraum.
Die neuen Corona-Maßnahmen ab 1. Dezember für Hamburg:
- Private Zusammenkünfte werden auf höchstens fünf Personen und höchstens zwei Hausstände begrenzt (ausgenommen Kinder bis 14 Jahre)
- Läden mit mehr als 800 Quadratmetern Verkaufsfläche: Zulässige Personenzahl liegt bei einer Person pro 20 Quadratmetern
- Läden mit weniger als 800 Quadratmetern: Zulässige Personenzahl bei einer Person pro zehn Quadratmetern
- Maskenpflicht in allen öffentlich zugänglichen geschlossenen Räumen und in einem Abstand von zehn Metern vor Eingängen von Geschäften sowie auf zugehörigen Außenflächen und Parkplätzen
- Maskenpflicht am Arbeitsplatz, wenn der Abstand von 1,50 Meter nicht eingehalten werden kann oder kein dauerhafter Steh- und Sitzplatz eingenommen wird
- Maskenpflicht auf engen Straßen und Plätzen in ganz Deutschland (gilt bereits in Hamburg)
- Hochschulen sollen Lehre grundsätzlich digital durchführen
- Kindergeburtstage dürfen im kleinen Rahmen mit Kindern bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres mit insgesamt bis zu zehn Personen durchgeführt werden
- alle übrigen im November beschlossenen Maßnahmen (wie etwa die Schließung gastronomischer Betriebe oder Fitnessstudios) hat weiterhin Bestand
Bis zu zwei Stunde am Tag werden die beiden dann unterstützt. Eine Entlastung ist das für Familie Schreiber nicht, ganz im Gegenteil. Nun muss sie ständig die Kinder zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Tagen zur Schule bringen und wieder abholen. Dazu kommt das Risiko, das durch die einzelnen Stunden in der Schule für die Jungs entsteht. „Julius hat da bis zu sieben verschiedenen Lehrer und Betreuer in einer Woche. Wo ist da der Risikoschutz?“ Ganz zu schweigen davon, dass der Mini-Unterricht bisher sehr oft ausgefallen sei. „Planungssicherheit hatten wir noch nicht einen Tag.“
Und die beiden großen Geschwister? Deren Schule tut sich schwer, sie beim Fernunterricht zu unterstützen. „Als wir die beiden nach den Sommerferien nicht in die Schule gelassen haben, fand wochenlag kein Fernunterricht statt. Dabei hatte den der Senator Thies Rabe ja vollmundig versprochen.“ Irgendwann sei ihnen klar geworden, dass die Kinder zurück in die Schule müssen.
Viele Neuinfektionen: Kinder trauen sich fast nicht in die Schule
Also hätten sie in den beiden Klassen mit Hilfe der Lehrer und Eltern organisiert, dass lange vor der Maskenpflicht alle Mitschüler eine Maske trugen, damit Phileas und Floraline wieder am Unterricht teilnehmen konnten. Um das Risiko zu minimieren, waren die beiden zunächst allerdings nur bei den wichtigen Hauptfächern dabei. „Die Lücken die entstanden sind, waren groß.“ Seitdem die Zahlen der Neuinfektionen so rasant gestiegen sind, trauen sich die Kinder wieder fast nicht in die Schule.
Und die wiederrum weigert sich, den Unterricht für die Kinder digital zu organisieren. Zu wenige Betroffene gebe es an der Einrichtung. Zu groß sei entsprechend der Aufwand. Und eine digitale teilhabe per Video, das sei nicht erlaubt. „Dabei haben wir so viele Vorschläge gemacht, wie es gehen könnte. Wir sind langsam wirklich verzweifelt.“ Denn so wie es aussehe, würde die angespannte Lage ja noch eine Weile andauern.
Hohe Verantwortung: Ältere Geschwister werden krank vor Sorgen
Dazu kommt, dass es den beiden älteren Kindern mittlerweile wirklich schlecht geht. „Sie haben immer wieder starke undefinierbare Schmerzen und keiner findet heraus warum“, sagt die Mutter. Aus purer Verzweiflung seien sie nun zur Abklärung noch einmal für einige Tage ins Kinderkrankenhaus gekommen. „Mittlerweile ist allen eigentlich klar, dass diese Schmerzen keine organischen Ursachen haben. Der Druck, die Verantwortung, die auf ihnen laste, sei einfach zu groß gewesen. „Aber was sollen wir tun. Wir haben doch alle keine Wahl“, sagt die 47-Jährige.
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Marietheres Spallek berichtet, dass sie sich jeden Tag wieder fragt, wie sie auf alle ihre vier Kinder richtig eingehen kann. Sie sagt aber auch, dass es schier unmöglich sei, allen im Moment gerecht zu werden. „Wir versuchen immer zu schauen, wer was gerade braucht. Aber wir können einfach nicht alles auffangen.“ Beide Elternteile sind enttäuscht davon, wie wenig Unterstützung sie von den Schulen und Behörden erhalten. „Unsere Kinder sind die Kollateralschäden dieser Pandemie“, sagt Lutz Schreiber.“
Der in der Öffentlichkeit diskutierte Schutz der Risikopatienten sei ein schlechter Witz: „Es geht dabei eher um ältere Menschen in Pflegeheimen – behinderte Risikopatienten und ihre Familien werden aus unserer Sicht vollkommen vergessen.“