Hamburg. In Hamburg und Schleswig-Holstein gibt es deutlich weniger Fälle als im Süden und Osten. Mentalität, kluge Politik: Woran liegt das?
Ganz Deutschland ist fest im Griff der Corona-Pandemie; die Zahl der Neuinfektionen übersteigt in Kreisen und Städten auch Wochen nach dem Wellenbrecher-Lockdown die kritische 50er-Inzidenz um ein Mehrfaches. Ganz Deutschland? Nein – es scheint, als trotze der Norden der Pandemie seit Anbeginn erfolgreicher als der Rest der Republik. Woran liegt das? Norden, was machst du besser?
Beim Blick auf die Corona-Landkarte springt es ins Auge: Vor allem im Süden und Südosten, aber auch im Westen wird es rot bis dunkelrot. Das bedeutet, dass in den Kreisen und Städten die Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner überschritten ist, vielerorts liegt sie weit über 100, was dann als Hotspot gilt. Gen Norden wird es dagegen heller und heller.
Hier liegt die Sieben-Tage-Inzidenz zwar in Hamburg sowie im Umland der Großstadt deutlich über der kritischen 50er-Marke. In Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sowie auch im Norden Niedersachsens sind die Zahlen hingegen vergleichsweise niedrig.
Schleswig-Holstein unter der kritischen 50-Fälle-Inzidenz
Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die Sieben-Tage-Inzidenz für Bayern am Freitag mit 171,5 an, für Baden-Württemberg mit 129,2 und für Sachsen sogar mit 201,4. Wenig besser schaut es in Hessen (157) und Nordrhein-Westfalen (149,9) aus. Einzelne Kreise reichen weit darüber hinaus: Für Hildburghausen in Thüringen meldete das RKI am Freitag eine Inzidenz von 629,8, für den Landkreis Bautzen (Sachsen) 353, für Tuttlingen in Baden-Württemberg 276 und für die bayrische Stadt Passau 439,4 Fälle.
Von solchen Werten ist man im Norden Deutschlands weit entfernt. Schleswig-Holstein unterschreitet mit einer Inzidenz von zuletzt 47,6 Fällen sogar die kritische 50er-Marke, die Beschränkungen zwingend erforderlich macht. Während die Werte im Hamburger Umland, also in den Kreisen Stormarn (63,1), Segeberg (62,8), Herzogtum Lauenburg (54,5) und vor allem Pinneberg (105,3) noch höher liegen, stehen die nördlichen Kreise ziemlich gut da – im Bundesvergleich sogar sensationell gut.
Rendsburg-Eckernförde meldet eine Inzidenz von 21,9, Plön 18,7, Nordfriesland 21,7, Dithmarschen 34,5, Steinburg 29 und Schleswig-Flensburg, sogar nur 10,9. Das sind Werte, von denen Virologen glauben, dass sie in ganz Deutschland sehr lange nicht zu erreichen sein werden. Auch in Mecklenburg-Vorpommern liegt die Inzidenz nur bei 46,9 – der niedrigste Wert in ganz Deutschland. Von den sieben Kreisen im Nordosten unterschreiten vier die 50-Fälle-Marke. Im Landkreis Vorpommern-Rügen liegt der Wert laut RKI bei nur 13,8 Fällen auf 100.000 Einwohner binnen einer Woche.
Interaktive Karte: Coronavirus in Deutschland und weltweit
So wie Deutschland in der Pandemie besser gestellt ist als viele seiner Nachbarländer, so ist das Infektionsgeschehen in Norddeutschland geringer als im Rest der Republik. Doch woran liegt das?
Auf der Suche nach Antworten ist Prof. Dr. Jonas Schreyögg der richtige Ansprechpartner. Der wissenschaftliche Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg untersucht, wie die Bevölkerung mit der Bedrohung durch das Coronavirus umgeht und inwieweit sie politischen Entscheidungen folgt. Gerade hat er die Ergebnisse einer groß angelegten Befragung vorgestellt, an der zwischen April und November in sieben europäischen Ländern jeweils 7000 Personen befragt wurden.
Er sagt: „Ich glaube, dass die Mentalität Auswirkungen hat, es ist eine Frage der Kultur. Wir wissen aus unserer Studie, dass die Impfbereitschaft in keiner Region Deutschlands so hoch ist wie in Norddeutschland.“ Die Mentalität spiele auch bei der Ansteckung mit dem Coronavirus eine Rolle. „In südlichen Ländern wie Frankreich und Spanien kommen sich die Menschen recht nahe, obwohl sie wissen, dass dies ein Ansteckungsrisiko birgt. Innerhalb Deutschlands gibt es ein ähnliches kulturelles Gefälle. In Bayern lässt man sich trotz der Gefahr manche Möglichkeit des Kontakts einfach nicht nehmen“, sagt Schreyögg, der es wissen muss – er ist selbst gebürtiger Bayer.
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„Vielleicht ist es auch die protestantische Prägung des Nordens, die dazu führt, dass die Menschen mehr regelkonform sind. Das ist auch eine Frage der Disziplin: Wenn man weiß, dass etwas nicht gut ist, dann macht man es auch nicht.“ In Europa seien die südlichen Länder stärker von Corona betroffen. „Dieses Gefälle gibt es auch in Deutschland. Dazu kommt: Der Süden Deutschlands grenzt an Österreich, wo die Inzidenz sehr hoch ist. Die Landräte der angrenzenden Regionen beklagen, dass dieses Infektionsgeschehen durch den grenzüberschreitenden Verkehr nach Deutschland ausstrahlt.“
Der Kieler Gesundheitsminister Heiner Garg, der in Schleswig-Holstein für das Corona-Management verantwortlich ist, lobt das rücksichtsvolle und verantwortungsbewusste Verhalten der Menschen im nördlichsten Bundesland, das dazu beigetragen habe, dass „wir bisher vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen sind. Ohne sie wäre der bisherige Weg nicht möglich gewesen.“ Garg hebt auch die gute Kooperation mit Kliniken, niedergelassenen Ärzten sowie den Gesundheitsämtern der Kreise und Städte in Schleswig-Holstein hervor.
Keine politisch motivierte Teststrategie im Norden
Dies wird von anderer Seite bestätigt. „Es gab von Anfang an in Schleswig-Holstein eine sehr gute Zusammenarbeit von Laborärzten, Kassenärztlicher Vereinigung (KV) und der Landesregierung“, sagt der Lübecker Mediziner Andreas Bobrowski, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Laborärzte (BDL). „Typisch im Norden war, dass es hier nie politisch motivierte, sondern immer medizinisch fundierte Coronatest-Konzepte gab“, sagt er. Eine Vorgehensweise wie in Bayern, wo „jeder einen Test bekommen“ habe und sich lange Zeit noch sämtliche Reiserückkehrer testen lassen konnten, habe es in Schleswig-Holstein nicht gegeben. Bobrowski nennt auch den Landesschnupfenplan, der dazu führte, dass nur Kinder getestet wurden, bei deren Erkältung es einen medizinischen Anhaltspunkt dafür gab, dass sie mit Corona zusammenhänge.
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„In Schleswig-Holstein wurde sehr gezielt getestet. Auch wenn die Kapazitäten zeitweise am Anschlag waren, wurde mit der KV eine Priorisierung erarbeitet, die zu einer Entlastung führte. So konnten wir uns auf die vulnerablen Gruppen konzentrieren und schnelle Testergebnisse liefern.“ Bobrowski führt aber daneben auch die Mentalität als Ursache für die vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen im Norden an. „Es liegt vielleicht auch an unserer angeborenen Disziplin, das kann ich als Norddeutscher aus eigener Anschauung sagen: Wir halten tendenziell die Regeln ein, das beobachte ich auch hier in den Lübecker Einkaufsstraßen und vor Schulen.“ Und schließlich, ein weiterer Grund, sei der Norden in gewisser Weise privilegiert: Die Seuche kam in Europa zuerst aus dem Süden.
Klar, dass auch die Bevölkerungsdichte eine Rolle spielt. „Dort, wo wenig Menschen auf engem Raum zusammenleben, gibt es tendenziell auch weniger Kontakte, also entsprechend weniger Gelegenheiten, sich anzustecken“, sagt Studienleiter Schreyögg. „Das dürfte in ländlichen Regionen, beispielsweise in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, eine Rolle spielen. Auch Bahnverbindungen und Mobilität wirken hier hinein: In Ballungsräumen wie Hamburg oder Berlin treffen einfach mehr Menschen aufeinander; die Kontaktmöglichkeiten sind größer.“
Doch auch wenn es in Hamburg viele Corona-Fälle gibt, steht die Stadt im Vergleich der Metropolen noch recht gut da. Das RKI gab die Inzidenz am Freitag mit 87,3 an, der Hamburger Senat verwendet eine andere Einwohnerzahl als Berechnungsgrundlage und kommt auf einen Wert von 116,3. Damit ist Hamburg nach RKI-Vergleichszahlen sehr viel besser dran als München (122,1), Frankfurt (212,5) oder Köln (141). Berlin hat mit 192,6 zumindest nach RKI-Zahlen eine mehr als doppelt so hohe Inzidenz wie Hamburg. Schreyögg glaubt, dass das einerseits an der norddeutschen Mentalität liegt. „Aber auch die politische Reaktion auf die Pandemie wirkt sich aus. Hamburg hat bei seinem Corona-Management einen sehr vorsichtigen Kurs gefahren, der sich als klug erwiesen hat.“
„Wir machen es uns nicht leicht, und wägen sehr gründlich, ob es schon an der Zeit für Lockerungen oder Verschärfungen ist“, sagt Hamburgs Sozial- und Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard. „Aber weil wir letztlich eben sehr vorsichtig vorgehen, stehen wir verhältnismäßig gut da.“ Der Senat könne viel mit Verordnungen regeln. Entscheidend sei aber, dass die Bürger sie auch befolgten. Und die meisten Hamburger machten „hervorragend mit“.