Hamburg. Kälte, Sturm, schlaflose Nächte: So leben die Protestler von „Fridays for Future“ in der Innenstadt. Warum sie bleiben wollen.
„Wir sind eine Art Hilfeschrei direkt vor der Bürgerschaft“, sagt Jan Niemand. Der 18-Jährige sitzt auf Cola-Kästen, die er zu einer Bank umgebaut hat. Seit mehr als drei Monaten campt er mit „Fridays for Future“ in der Hamburger Innenstadt, zunächst am Gänsemarkt, seit dem 28. August am Speersort nahe der Petrikirche.
Ihr Klimacamp erinnert ein wenig an einen Zeltplatz auf einem alternativen Musikfestival. Ein Klavier steht in einer Ecke, eine Ukulele liegt auf dem Hocker daneben. Bunte Fahnen und Banner wehen im kühlen Novemberwind. In der selbst gebastelten Kochecke („vegan only“) steht ein Glas Fertigtomatensauce auf der Holztheke. Unter einem Pavillon liegen einige Schlafsäcke, darüber hängen eine Lichterkette und eine Wäscheleine, an der zwei Handtücher trocknen.
Alkohol und Zigaretten sind im Klimacamp verboten
Gleich daneben sitzen Jan und drei weitere Aktivisten. Sie feiern nicht – sie protestieren. Alkohol und Zigaretten sind verboten, Maske tragen ist Pflicht.
Lasse van der Liese trägt an diesem Tag einen olivfarbenen Mund-NasenSchutz. Der 22 Jahre alte Biologiestudent hat das Klimacamp angemeldet und ist seitdem ständiger Bewohner. 90 Prozent aller Nächte verbringen Jan und Lasse quasi unter freiem Himmel. 24 Stunden am Tag protestieren sie für Klimagerechtigkeit, jede Stunde „for Future“.
„Das Camp bietet viele Vorteile und ist coronakonform“, sagt Lasse. Beinahe stündlich wechselt die Besetzung, mehr als zehn Aktivisten werden es während des Lockdowns aber selten. Vormittags studieren viele, arbeiten oder gehen zur Schule. Nachts sind sie meistens zu sechst. Lasse und Jan freuen sich über jede Unterstützung. Denn das Camp, so sagen sie, ist ein Vollzeitjob: Holz sägen für Bänke oder das Dach, Laub rechen, das Camp verschönern, kochen oder gemeinsam Musik machen – langweilig wird ihnen so schnell nicht. Die meiste Zeit unterhalten sie sich. Untereinander über die Bewegung, mit anderen über die Klimakrise.
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„Vor ein paar Tagen hatten wir jemanden hier, der Gewissensbisse hat, wegen seines Berufs. Das war ein sehr bewegendes Gespräch“, so Lasse. Ganz bewusst haben sie ihr Camp mitten in der Innenstadt aufgeschlagen. „Hier ist es viel leichter, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen als auf einer Demo“, sagt Lasse. Um das Klima zu schützen, müssten schließlich alle mitziehen.
Protestler erfahren viel Unterstützung in Hamburg
Überwiegend erfahren sie Unterstützung: „Niemand findet das komisch, dass wir hier wohnen. Wir bekommen sehr viel Anerkennung“, so der 22-Jährige. „Auch meine Eltern unterstützen das.“ Die älteren Aktivisten – die „Parents For Future“ – lieferten ihnen in den Abendstunden regelmäßig Essen. Hafermilch, Limonaden, vegane Wurst und Aufstrich, alles wird geteilt, auch mit einigen Obdachlosen, die im Camp ihre Handys laden oder sich etwas leihen.
Nur wenige Meter vom Camp entfernt strömen derweil Menschen aus den Bussen. Sie gehen zur Arbeit oder erledigen schon erste Weihnachtseinkäufe an der Mönckebergstraße. Ganz so, als gäbe es keine Krise. Dieses Weitermachen verurteilen die Klimaaktivisten nicht. „Das bringt nichts“, sagt Jan. „SUV fahren heißen wir natürlich nicht gut, aber es geht ja nicht um jeden Einzelnen, sondern um die Politik“, so der 18-Jährige.
„Auch Parteien, die sich das 1,5-Grad-Ziel auf die Fahne schreiben, treffen wieder und wieder Entscheidungen, die damit nicht vereinbar sind.“ Das 1,5-Grad-Ziel müsse in allen Parteien verankert und Standard werden, fordert Lasse.
Klimaschützer wollen streiken, bis die Politik handelt
„Wir streiken, bis ihr handelt“, lautet ihr Motto. Ihre zentralen Forderungen haben die Hamburger Aktivisten auf ein Banner am Eingang des Camps geschrieben: Bis 2035 – und damit knapp 15 Jahre früher als im Klimaschutzgesetz festgeschrieben – soll Hamburg klimaneutral werden, bis 2025 komplett aus der Kohle aussteigen, und die Innenstadt soll autofrei werden.
Der ÖPNV müsse dementsprechend ausgebaut werden. „Insbesondere CDU-Politiker sprechen ganz oft davon, wie viel Geld sie in den Klimaschutz stecken, gleichzeitig werden immer noch fossile Energieträger subventioniert“, sagt Luca Salis. Der Jurastudent koordiniert die Rechtshilfe für „Fridays for Future“ und hat das Camp mitinitiiert. Für ihn sind das leere Aussagen, die der Bevölkerung nur vermitteln sollen, dass viel getan werde. „Aber auch die Grünen sollten uns nicht benutzen müssen. Wir sind überparteilich“, fügt die 19-jährige Annika Kruse an. „Alles, was wir fordern, ist technisch umsetzbar.“
"Fridays for future": Trotz aller Rückschläge kämpfen Aktivisten weiter
Trotz aller Rückschläge kämpfen die Aktivisten weiter für Klimagerechtigkeit und wollen auch den Winter in dem Camp verbringen. „Die Klimakrise ist die Mutter vieler Krisen und wird neue Krisen herbeiführen wie Dürren, Pandemien oder Naturkatastrophen“, so Luca. „Wir haben nicht den Luxus aufzugeben“, sagt Lasse. „Und wir haben dank der Wissenschaft Lösungen auf dem Tisch“, sagt Annika.
Einige dieser Lösungen wurden im Camp bereits umgesetzt: Über vier Solarpanele, die an Holzpaletten hängen, produzieren die Bewohner ihren eigenen Strom. „Vier Stunden Sonne heißt eine Stunde kochen“, sagt Jan. Auch einen Beamer und eine Leinwand hat er von zu Hause mitgebracht und unter dem Pavillon angebracht. Zuletzt haben sie gemeinsam die Dokumentation „Ich bin Greta“ und den ARD-Spielfilm „Ökozid“ gesehen. Wasser zum Kochen oder Zähneputzen können sie in der Kirche holen. Zum Duschen fahren sie nach Hause oder laufen zu der öffentlichen Dusche am Jungfernstieg. 4,50 Euro müssen sie dann zahlen, Handtuch inklusive. „Dafür gibt es aber unbegrenzt warmes Wasser“, sagt Lasse, „das tut schon gut, wenn es jetzt kälter wird.“
Keine Heizung – dafür Kleidung nach Zwiebelprinzip
Eine Heizung betreiben die Aktivisten nicht, im Winter setzen sie dafür auf das Zwiebelprinzip und tragen mehrere Lagen Kleidung übereinander. Wer den Aktivisten lauscht und einige Stunden in dem Camp verbringt, begreift, wie ernst es Lasse, Jan, Annika, Luca und ihren Mitstreitern ist. Regelmäßig regnet es in den Pavillon, dreimal am Tag läuten die Kirchenglocken.
Die Sirenen der Feuerwehr, die mehrmals täglich an dem Camp vorbei zu einem Einsatz rast, heulen so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. „Das ist schon sehr belastend“, sagt Jan, der mit seinen Fingern ein Wärmekissen knetet. Nicht nur das Wetter und der Lärm erschweren den Bewohnern den Protest. Die Aktivisten haben das Gefühl, dass insbesondere die Polizei gegen sie arbeite. „Viele Sachen wie Zelte oder einen zu allen Seiten geschlossenen Pavillon verbieten uns Polizei und Versammlungsbehörde“, so Jan. Nachts würden regelmäßig Beamte am Camp vorbeifahren, Fotos machen oder sie wecken.
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Eine durchgehende Nachtruhe müssten Polizeibeamten tatsächlich nicht gewährleisten, teilte die Polizei auf Anfrage mit. Dann sei der „Versammlungscharakter nicht mehr gegeben“. Die Versammlungsbehörde bezeichne die Kommunikation mit den Aktivisten jedoch als kooperativ, sachlich und zielführend. Auch das Gespräch zwischen Polizisten und den Aktivisten werde als kooperativ wahrgenommen. Eine Streife überprüfe zwar regelmäßig die Einhaltung der Auflagen und dokumentiere Verstöße teilweise mit Fotos, Personen fotografierten die Beamten jedoch nicht.
Die Camp-Bewohner fühlen sich dennoch gegängelt. „Es geht ja nicht darum, dass wir uns häuslich einrichten, sondern, dass wir unser Versammlungsrecht ausüben können, ohne krank zu werden“, sagt Jan. „Natürlich würden wir lieber in unserem warmen Bett liegen und irgendeine Netflix-Serie streamen. Aber wir müssen hier sein, weil die Menschheit vor eine Wand läuft.“