Hamburg. Der Chef der UKE-Klinik für Intensivmedizin erklärt, wie groß die Reserven noch sind und, was sich bei der Behandlung geändert hat.
Prof. Dr. Stefan Kluge leitet die Klinik für Intensivmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Auf den Intensivstationen des Krankenhauses werden derzeit 14 Corona-Patienten mit schweren Verläufen behandelt. In Hamburgs sind es insgesamt 82. Wie ihnen geholfen wird, berichtet er im Interview.
Wie ist die Lage derzeit auf den Intensivstationen des UKE?
Stefan Kluge: Wir haben derzeit 14 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen, von denen zehn beatmet werden müssen. Dazu sollte man wissen, dass wir als Universitätsklinikum besonders schwere Fälle von anderen Krankenhäusern bekommen. Insgesamt macht mich die Situation aber schon besorgt, weil wir wissen, dass die Zahl der Intensivpatientinnen und -patienten weiter ansteigen wird. Wir haben derzeit noch relativ viele Neuinfektionen, dies macht sich mit zehn- bis 14-tägiger Verzögerung auf den Intensivstationen bemerkbar.
Wie ist Ihre Auslastung im Vergleich zur ersten Welle im Frühjahr?
Wir haben etwas weniger Intensivpatientinnen und -patienten als im Frühjahr – sowohl am UKE als auch in ganz Hamburg. Deutschlandweit ist ihre Zahl stärker gestiegen; die Zahlen in Hamburg sind etwas niedriger als in anderen Großstädten. Die Intensivstationen beispielsweise in Berlin, Köln, Aachen und München sind deutlich belasteter als bei uns in Hamburg – Berlin beispielsweise hat doppelt so viele Intensivpatienten bezogen auf 100.000 Einwohner. In Hamburg verteilt sich das Geschehen auf viele Krankenhäuser, dafür sind wir sehr dankbar. Gestern haben 14 Kliniken in Hamburg Covid-19-Patienten auf Intensivstationen betreut.
Wie groß sind Ihre intensivmedizinischen Reserven am UKE?
Wir haben schon noch Reserven. Es gibt ausreichend Betten, Beatmungsgeräte und Monitore. Aber wir brauchen für jedes Intensivbett auch Ärzte und Pflegekräfte. Der Zeitarbeitsmarkt ist leer. Wir reaktivieren verrentete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber diese sind in einem Alter um die 70 Jahre nicht im Corona-Bereich einsetzbar, das Risiko wäre für sie zu groß. Wir gehen auf Teilzeitkräfte zu und bieten ihnen an, ihre Arbeitszeit aufzustocken. Es gibt natürlich in anderen Bereichen des UKE Kräfte, die wir dort abziehen und zur Versorgung der Covid-19-Patienten einsetzen können. Aber die werden auf ihren Stationen auch gebraucht. Das Personal ist also da, aber wir müssten durch Transfer des Personals die Leistungen in anderen Bereichen einschränken. Eine Tumoroperation kann man nicht mal eben um einige Wochen verschieben. Und letztlich ist das UKE auch ein Wirtschaftsbetrieb, wir brauchen eine finanzielle Kompensation, wenn wir Kapazitäten für Corona-Patienten freihalten sollen. Wir sind im UKE gerade dabei festzulegen, welche Patientinnen und Patienten priorisiert zu behandeln sind. Bei Fällen von Herzinfarkt, Schlaganfall, Tumoren oder Unfallopfern darf es natürlich keinen Verzug geben. Patienten mit einem stabilen Befund kann man vielleicht auch in zwei Monaten operieren.
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Also derzeit haben Sie noch Reserven zur Behandlung von Intensivpatienten?
Wir haben am UKE eine komplette Intensivstation mit zwölf Betten, die wir derzeit nicht betreiben. Sie ist technisch vorbereitet und könnte jederzeit geöffnet werden. Zudem gibt es ein Notfallkonzept, um Normalstationen innerhalb weniger Tage zu Intensivstationen umzurüsten. Diese kann ich aber nur aktivieren, wenn ich Personal aus anderen Bereichen bekomme. Wichtig ist: Meiner Einschätzung nach wird in Deutschland niemand sterben wegen eines fehlenden Intensivbetts.
Wie alt sind die Patienten auf Ihren Intensivstationen?
Die meisten von ihnen sind über 60 Jahre alt, viele haben Vorerkrankungen. Ab einem Alter von etwa 50 steigt mit jedem Lebensjahr das Risiko eines schweren Verlaufs. Aber wir hatten auch einen Patienten um die 30 Jahre ohne jede Vorerkrankung, der sehr schwer erkrankt ist. Eine Auswertung der Sozialbehörde hat ergeben, dass von den in Hamburg stationär behandelten Patienten letzte Woche zehn Prozent unter 40 waren. Rund zwei Prozent der Corona-Patienten müssen nach etwa zehn Tagen intensivmedizinisch versorgt werden. Deutschlandweit muss derzeit etwa jeder zweite Intensivpatient künstlich beatmet werden. Wer beatmet wird, bleibt im Durchschnitt 18 Tage auf der Intensivstation.
Können Sie Patienten mit den größeren Erfahrungen, die Sie im Vergleich zum Frühjahr haben, heute besser behandeln?
Ja. Das Wichtigste ist, dass wir die Krankheit heute viel besser einschätzen können. Wir wissen genauer, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für einen Infizierten ist, auch zu erkranken, mit welchen Symptomen sich das äußert. Bei der Behandlung der Corona-Patienten sind wir in dreierlei Hinsicht besser geworden: Auch Dank der Untersuchungen an unserem Institut für Rechtsmedizin wissen wir, wie wichtig es ist, Thrombosen vorzubeugen. Deshalb bekommen die Corona-Patienten im Krankenhaus mittlerweile standardmäßig eine intensivierte Thrombose-Prophylaxe mit Heparin. Dazu haben wir gerade am UKE eine Studie gestartet. Zweitens hat sich bei beatmeten Patienten mit schweren Verläufen eine Corona-Therapie mit dem Kortisonpräparat Dexamethason bewährt. Laut einer englischen Studie kann die Sterblichkeit so um ein Drittel gesenkt werden. Diese beiden Therapien sind gesichert. Das Medikament Remdesivir scheint die Krankheitsdauer zu verkürzen und die Zahl der Erreger zu senken, aber da ist die Datenlage schwach. Und Remdesivir hat nach bisherigen Studien keinen Einfluss auf die Sterblichkeit. Wir setzen es am UKE ein, aber es ist nicht vergleichbar mit der Blutverdünnung und dem Kortison.
Kann man heute mehr Menschen retten als im Frühjahr?
Es gibt Studien, die zeigen, dass die Sterblichkeit jetzt etwas niedriger ist. Das bedeutet aber keine Entwarnung. Wenn heute ein 60 Jahre alter Covid-19-Patient zu uns kommt und beatmet werden muss, liegt die Sterbewahrscheinlichkeit immer noch bei 30 Prozent.
Asklepios ruft Genesene auf, ihr Blutplasma zur Behandlung akut Erkrankter zu spenden. Sie auch?
Wir setzen das ein und sind auch an Studien beteiligt. Es gibt allerdings noch keine gute Datenlage, dass das auch tatsächlich wirkt. Deshalb gehört es bei uns nicht zur Standardbehandlung.
Woran merkt ein Covid-19-Erkrankter, dass er ins Krankenhaus gehen sollte? Am Sauerstoffgehalt im Blut?
Vor allem an einem Gefühl der Atemnot. Wer beim Treppensteigen oder sogar Gehen stärkere Atemnot spürt, sollte Kontakt mit dem Arzt aufnehmen. Auch wenn die Zahl der Atemzüge pro Minute, die sonst bei 12 bis 16 liegt, steigt, zum Beispiel über 25, muss das überprüft werden. Hohes therapieresistentes Fieber von mehr als 39 Grad über Tage sind auch ein Grund, eine Behandlung im Krankenhaus zu erwägen. Die Sauerstoffsättigung im Blut ist in der Tat ein wichtiger Parameter. Kaum jemand wird entsprechende Messgeräte zu Hause haben, aber sie werden mittlerweile schon relativ günstig angeboten.
Podcast Digitale Sprechstunde:
Versucht man heute angesichts der Risiken, die künstliche Beatmung zu vermeiden?
Ja, im Frühjahr gab es Berichte aus China, dass nicht beatmete schwer erkrankte Corona-Patienten durch die Aerosol-Belastung Krankenhausmitarbeiter gefährden. Eine Auswertung aus 15 Hamburger Krankenhäusern von 223 intensivmedizinischen Patientinnen und Patienten zwischen Februar und Juni 2020 zeigt, dass von ihnen 75 Prozent beatmet wurden. Das Durchschnittsalter lag bei 69 Jahren, 68 Prozent hatten eine Vorerkrankung. Heute wissen wir, dass sich Klinikmitarbeiter mit guter Schutzausrüstung nur extrem selten infizieren. Deshalb gab es seit geraumer Zeit den Trend, Patienten nicht zu früh zu beatmen, weil sie sonst länger intensivmedizinisch betreut werden müssen und auch ein höheres Sterberisiko haben. Wir versuchen stattdessen, sie so gut es geht mit anderen Therapien zu stabilisieren.
Die aktuellen Entwicklungen zur Covid-19-Pandemie im Norden lesen Sie in unserem täglichen Corona-Newsblog.
Wie hoch dürfen die Infektionszahlen höchstens sein, damit das Geschehen auf den Intensivstationen beherrschbar bleibt?
Bei den aktuellen Zahlen sehe ich kleine positive Signale. Entscheidend sind die Infektionszahlen in den kommenden zehn Tagen. Unsere große Sorge ist, dass Nicht-Covid-Patienten derzeit trotz schwerer Erkrankungen nicht ins Krankenhaus kommen. Die Corona-Zeit ist für uns alle schon sehr belastend, und es ist unheimlich anstrengend. Wichtig ist aber, dass jeder Einzelne seine Kontakte so weit wie möglich beschränkt – auch über Monate. Es wird noch eine Zeit dauern. Wir werden einen Jojoeffekt sehen, wenn die Zahlen jetzt runtergehen und es nach und nach Lockerungen gibt. Ich befürchte, dass die Menschen dann wieder leichtsinniger werden. Im Sommer hat es ja sehr lange gedauert, bis die Zahlen wieder anstiegen, aber im Winter halten sich die Menschen angesichts der Temperaturen viel mehr drinnen auf. Ich habe die Sorge, dass dann die dritte Welle kommt – davon müssen wir eigentlich ausgehen. Wir müssen uns über Monate disziplinieren, auch wenn es uns allen schwerfällt.
Lockdown im November – das sind die neuen Maßnahmen:
- Private Treffen nur noch mit maximal zehn Personen aus zwei Haushalten
- Ausnahme: Lex Kindergeburtstag mit Kindern unter zwölf Jahren
- Kein Sportbetrieb erlaubt, alle Hallen, Fitnessstudios, Schwimmbäder schließen, Ausnahmen für Profis und Kaderathleten
- Medizinische Reha erlaubt, Friseure offen – Kosmetikstudios, Massagepraxen müssen schließen
- Bordelle und Prostitutionsbetriebe schließen
- Restaurants und Bars werden geschlossen, Abhol- und Lieferservice ist möglich
- Alle Kinos, Theater und Konzerthallen müssen ihre Türen zusperren
- Bücherhallen bleiben offen, Uni-Bibliotheken sollen ein eigenes Konzept erhalten
- Maskenpflicht in Schulen ab Klasse 5, außerhalb des Schulgebäudes mit Abstand darf die Maske abgenommen werden
- 400 Euro für jedes Klassenzimmer für Schutzmaßnahmen
- Gottesdienste und Trauerfeiern mit Masken, Abstand und Hygienekonzept erlaubt
- Einreisende aus Risikogebieten müssen direkt in Quarantäne und sich bei Hamburger Behörden melden. „Die Quarantäne darf frühestens am fünften Tag nach der Einreise beendet werden, und nur dann, wenn durch ein negatives Testergebnis belegt ist, dass die reisende Person nicht infiziert ist. Der Test darf frühestens am fünften Tag nach Einreise durchgeführt werden“, heißt es vom Senat.