Hamburg. Angst, Panik oder Depression: In der Krise sind Psychotherapeuten stark gefragt. Wie eine Hamburgerin ihr Leben änderte.

Das Bedürfnis, mit einer Therapeutin zu sprechen, hatte Anna Kruse (Name geändert) schon, bevor Corona auch in Deutschland ein Thema war. Im Februar suchte sie sich daher Hilfe. Damals ging es um einen Trauerfall, den sie zu bewältigen hatte. Doch mit der Pandemie kamen bei Anna noch andere Probleme auf. Die 29 Jahre alte Hamburgerin ist kein Einzelfall. Mit dem Ausbruch der weltweiten Pandemie steigt die Zahl derer, die therapeutische Hilfe benötigen. Jetzt, in einer Zeit, in der die Infektionszahlen wieder steigen, besonders.

Bisher kamen die Menschen ohnehin schon mit den häufigsten Beschwerden, wie Angst- und Panikstörungen, Depressionen unterschiedlicher Ausprägung, Erschöpfungs- und Burnout-Symptomen oder psychosomatischen Störungen in die Praxen. „Seit Ende August kommen aber zunehmend Erwachsene und Kinder zu uns, die direkt und indirekt unter den Folgen der Corona-Pandemie und deren Begleiterscheinungen leiden“, sagt Werner Weishaupt, Präsident des Verbandes Freier Psychotherapeuten (VFP). In Hamburg sind 312 Praxen VFP-Mitglieder.

Die Coronakrise funktioniere „wie ein Brennglas“

Auch Anna Kruse leidet indirekt unter den Folgen von Covid-19. Sie stand fest im Berufsleben, arbeitete als Einkäuferin und hätte nie gedacht, dass sie einmal eine Therapie bräuchte. „Aber jeder hat ja doch seine Themen, wie Vergangenheit Familie und Erziehung“, sagt sie. Als der Lockdown im Frühjahr kam und Anna Kruse nur noch von zu Hause aus arbeitete, spürte sie: „Ich hatte Zeit, meine Probleme mal anzugehen und mich mit mir zu beschäftigen. Ich habe in dieser Zeit auch gemerkt, wie unzufrieden ich mit meinem Job eigentlich war.“

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Die Arbeitsbelastung im Homeoffice war noch einmal deutlich gestiegen. „Ich habe gar keine Pausen mehr gemacht und habe wie in einem Tunnel durchgearbeitet und nicht richtig gegessen, mein Tag hatte keine Struktur“, berichtet Anna Kruse, die unerkannt bleiben möchte.

Therapeutische Hilfe gilt oft als Zeichen von Schwäche

Zu sehr ist in der Gesellschaft noch das Vorurteil verbreitet, sich therapeutische Hilfe zu holen, sei ein Zeichen von Schwäche. Durch die Pandemie hat sich die Situation im Job bei Anna Kruse weiter verschärft, sodass sie inmitten der ersten Corona-Welle ihren Arbeitgeber wechselte. „Die Krise wirkt da wie ein Brennglas, das bereits vorhandene Pro­bleme vergrößert“, sagt ihre Therapeutin, die Heilpraktikerin für Psychotherapie, Petra Hornung-Frank, aus Hoheluft-West.

Sie war Anna Kruse bei der Bewältigung der Jobkrise eine große Hilfe. Allein wäre Anna diesen Weg vielleicht nicht gegangen. „Durch Corona habe ich den Mut gefasst, etwas in meinem Leben zu ändern“, sagt sie. Und durch die Pandemie und das Arbeiten zu Hause sind viele Faktoren, die sonst vom Wesentlichen ablenken, einfach weggefallen.

Es war und ist auch eine Zeit der Besinnung auf sich selbst. „Ohne Corona hätte ich diese Therapie nicht so intensiv gemacht“, sagt sie. Einmal pro Woche kommt Anna nach wie vor für jeweils eine Stunde zu ihrer Therapeutin. Die Entschleunigung während des Lockdowns hat bei ihr Energien freigesetzt, ihr Leben anders zu gestalten.

Pandemie löst Ängste aus

Bei vielen anderen jedoch löst die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen Ängste aus. Das beobachtet Petra Hornung-Frank in ihrer Praxis: „Es gibt diejenigen, die ohnehin häufig sozial zurückgezogener leben. Diese Menschen kommen mit den coronabedingten Beschränkungen tatsächlich besser zurecht. Denen geht es teilweise besser, weil sie nicht immer die Menschen vor sich haben, denen es gut geht, die draußen sind und glücklich sind. Dann gibt es aber diejenigen, die überhaupt nicht damit klarkommen, die sehr ängstlich sind – sich vor Krankheit fürchten.“

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    Bei diesen Menschen habe die Pandemie zum Teil schwere Krisen ausgelöst. Von Existenzängsten wiederum seien besonders die Freiberufler betroffen, wie Künstler. „Bei denen ist es irgendwann nicht mehr zu regulieren. Im Großen gibt es eine kollektive Verdrängung, und es gibt Menschen, die das nicht so gut können, und die gehen damit dann in die Therapie“, so Petra Hornung-Frank. Viele Menschen konnten ihre Belastungen immer gut kompensieren. Aber durch das Homeoffice und die Innenschau gelingt das häufig nicht mehr so gut, sodass sie sich therapeutische Unterstützung holen.

    Die Krise kann jeden treffen, unabhängig vom Alter

    Bei vielen Erwachsenen, berichtet VFP-Präsident Werner Weishaupt, stehen Stresssymptome im Vordergrund, Gefühle der Überforderung, alles managen und unter deutlich erschwerten Bedingungen das alltägliche Leben trotzdem „am Laufen“ halten zu müssen. Besonders schlimm waren die Bedingungen natürlich im Frühjahr während des Lockdowns: „Homeoffice wird von vielen Berufstätigen als entlastend erlebt, weil der Verkehrsstress wegfällt. Es regelmäßig zu organisieren, zu Hause bei Anwesenheit des Rests der Familie sich trotzdem auf die Arbeit zu konzentrieren und die zahlreichen Videokonferenzen ungestört durchführen zu können hat doch viele an den Rand Ihrer Nervenkraft gebracht und Streitereien eskalieren lassen. Und bei nicht wenigen Menschen gehen diese Dinge „unter die Haut“, sodass sie wiederum mit Ängsten, Aggressionen oder Depressionen reagieren und mittlerweile vermehrt in unseren Praxen Hilfe suchen.“

    Corona-Krise: Hamburg ändert die Strategie

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    Dabei können diese Krisen jede Altersgruppe, jede Generation betreffen. Bei Kindern habe die Pandemie zu unterschiedlichen Verhaltensstörungen geführt, oft auch gepaart mit Ängsten, aber auch depressiven Symptomen, Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Parallel dazu Schlafstörungen und andere vegetative Symptome.

    Senioren sind oft sehr verunsichert

    „Bei den Senioren sieht es noch wieder anders aus: Als Risikogruppe sind sie oft sehr verunsichert, verängstigt, isoliert und einsam“, so Weishaupt. Der Entzug der Kontakte zu Bekannten, Kindern, Enkeln und auch die eingeschränkten kulturellen Möglichkeiten haben zum Teil seelische Belastungen und Probleme hochkommen lassen, die sie nicht mehr kompensieren konnten. „Auch sie tauchen jetzt verstärkt in unseren Praxen auf, um Hilfe und Linderung zu finden und auch neue Strategien für die Verarbeitung früherer seelischer Verletzungen und Belastungen zu lernen.“

    Coronavirus – die Fotos zur Krise

    In den Großstädten sei der Stress­level im Umgang mit der Corona-Ansteckungsgefahr generell höher als auf dem Land, weil die Zahl vieler unfreiwilliger Kontakte, bei denen der Mindestabstand gar nicht eingehalten werden kann, deutlich höher ist. „Und Menschen, die ohnehin schon unter Ängstlichkeit und Phobien gelitten haben, werden hier zusätzlich getriggert. Und da die veröffentlichten Aussagen der Wissenschaftler auch auseinandergehen, gibt es derzeit keine verlässliche Instanz, die für Beruhigung sorgen könnte“, so Weishaupt.

    Die besonders schwierige Situation von Suchtkranken

    Prof. Ingo Schäfer, Direktor des     Zen­trums für Inter­disziplinäre­ Suchtforschung am UKE
    Prof. Ingo Schäfer, Direktor des Zen­trums für Inter­disziplinäre­ Suchtforschung am UKE © UKE/Eva Hecht

    Einen besonderen Blick auf Suchtkranke hat Prof. Dr. Ingo Schäfer, Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung und Leiter des Arbeitsbereichs Suchtmedizin und abhängiges Verhalten am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. „Auch bei Suchtkranken kann die Pandemie zu einer Destabilisierung führen, Depressivität und Ängste nehmen dann häufig ebenfalls zu.“

    Wenn es Suchtkranken schlecht gehe, stehe immer ein Rückfall im Raum. Zu den häufigsten Suchterkrankungen gehört Alkoholismus, die Abhängigkeit von Cannabis, Kokain oder verschreibungspflichtigen Medikamenten. „Die Gefahr besteht darin, dass sich unsere Klienten gerade in solchen Krisenzeiten in die Isolierung zurückziehen“, so Schäfer.

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    Wichtig ist, dass es niedrigschwellige Angebote, auch digitale, gibt. „Wir müssen auf digitale Möglichkeiten, auf Anrufe oder Videokonferenzen setzen, wie auch schon im Lockdown, um die Menschen zu erreichen.“ Schäfer macht aber auch Mut: „Wir sind ja schon vorbereitet und wissen jetzt besser, mit den Einschränkungen umzugehen. Es trifft die Menschen nicht mehr unvorbereitet wie im Frühjahr.“ Wichtig sei es, auch wenn man sich in die Wohnung zurückzieht, aktiv zu bleiben und sich nicht nur noch mit der Chipstüte vor den Fernseher zu setzen. „Dass auch in Krisensituationen soziale Kontakte möglich sind, wissen wir ja schon. Diese sollten wir auch nutzen.“ Und auch in den eigenen vier Wänden sollte man sich körperlich betätigen.

    Bei der Telefonseelsorge der Diakonie hat die Zahl der Anrufer seit Corona um ein Drittel zugenommen. „In der Regel dreht es sich um bestehende Probleme, die sich durch die Pandemie verstärkt haben, wie Einsamkeit etwa“, sagt die Leiterin der Telefonseelsorge Babette Glöckner. Mit der zweiten Welle habe sich bei vielen Anrufern Resignation breitgemacht. „Manche sind wie gelähmt.“

    Hier finden Sie Hilfe:

    • Corona-Sorgen und wie man sie erkennt: „Oft geht der Körper voran und zeigt eine Häufung von unspezifischen Symptomen, zum Beispiel ein unterschwelliges dauerndes Unruhegefühl, Magendruck­, Verspannungen, Schmerzen, Gereiztheit“, sagt Petra Hornung­-Frank.
    • Frühes Aufwachen und Grübeln zeigen häufig, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sie empfiehlt folgende Strategie: sich selbst ernst nehmen, Symptome nicht ignorieren. Da bei vielen durch Home­office oder Arbeitslosigkeit die Struktur wegfällt, Strukturen schaffen.
    • Beim Homeoffice: sich anziehen, als ob man zur Arbeit ginge, Pausen einrichten. Eine feste Uhrzeit einhalten, zu der man mit der Arbeit aufhört, auch zu Hause. „Unbedingt den Cut zwischen Arbeit und Freizeit mithilfe von Ritualen durchziehen.“
    • Beratungsstellen: Die Initiative „Netzwerk Redezeit für Dich“ hilft bei Unsicherheit, Selbstzweifeln, Einsamkeit, Wut und alles, was ängstigen kann. Coaches stellen ihre Redezeit kostenlos zur Verfügung. Infos: www.virtualsupporttalks.de. Wichtig: Das Angebot ersetzt nicht den Besuch eines Arztes, Heilpraktikers oder Psychotherapeuten­.
    • Telefonseelsorge der Diakonie: anonyme, kostenlose Beratung zu jeder Tages- und Nachtzeit unter de bundesweiten Telefonnummer 0800 111 0 111.
    • In Hamburg gibt es 312 Praxen von Mitgliedern des Verbands Freier Psychotherapeuten (VFP), Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer – Betroffene erhalten in der Regel innerhalb einer Woche Termine. Infos unter www.vfp.de
    • Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: 0800 33 44 533.
    • Die „Nummer gegen Kummer“ für Kinder- und Jugendliche: Telefon 116 111. Das Elterntelefon ist erreichbar unter 0800 111 0 550.
    • Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet Beratung kostenlos unter Telefon 0800 2322783.
    • Die Arztsuche der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bietet im Internet die Möglichkeit, Ärzte und Psychotherapeuten zu finden: www.kbv.de/html/arztsuche.php.
    • Ein Forscherteam der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des UKE untersucht für eine Studie die Folgen der Einschränkungen des sozialen Lebens auf die psychische Gesundheit und Depressionen. Die anonyme Online-Befragung dauert zehn Minuten (Diese und eine weitere Studie: Seite 17). Infos: www.psyche-corona.de Mail: kontakt@psyche-corona.de

    Aber auch mit Verschwörungstheoretikern, die die Corona-Pandemie in ihrem Ausmaß leugnen, haben es die 90 ehrenamtlichen Seelsorger, die 24 Stunden an sieben Tagen telefonisch erreichbar sind, zu tun. „Die CoronaLeugner wollen überzeugen und nicht überzeugt werden“, so Glöckner. „Aber auch bei denen gibt es Ängste, sonst würden sie das auch nicht leugnen. Ein Fall für die Seelsorge sind diese Anrufer nicht.“ Und es rufen Menschen mit einer Corona-Infektion an, die sich wegen ihrer Krankheit ausgegrenzt fühlen. „Sie fühlen sich wie Aussätzige behandelt.“

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